Der regionale Blick. Medien in Tatarstan und Baschkortostan und Russlands Krieg gegen die Ukraine

Von Sebastian Cwiklinski (Freie Universität Berlin)

Zusammenfassung
Der Beitrag analysiert die Berichterstattung über den Angriffskrieg gegen die Ukraine in den russischen Teilrepubliken Tatarstan und Baschkortostan, welche sich beide durch die starke Präsenz von turksprachigen Bevölkerungsgruppen auszeichnen. Die Medienanalyse ergab, dass die Berichterstattung Propagandafunktionen erfüllt. Die militärischen Freiwilligenverbände nehmen dabei eine zentrale Rolle ein.

Einleitung

Wie Russland offiziell über den Krieg gegen die Ukraine denkt, ist allgemein bekannt und lässt sich auch tagtäglich gut nachvollziehen. Anders sieht es hingegen mit der Frage aus, wie die offizielle Kreml-Politik in regionales Handeln umgesetzt wird – hier kann ein Rückgriff auf Stellungnahmen aus Moskau nicht weiterhelfen. Dieser Frage soll deshalb im Folgenden exemplarisch mit einem Blick auf die Medien der beiden russischen Teilrepubliken Tatarstan und Baschkortostan nachgegangen werden. Beide liegen im Wolga-Ural-Raum und sind durch ihren multinationalen Charakter gekennzeichnet. Es ist jedoch sinnvoll, sich vor einer Auseinandersetzung mit der Berichterstattung zum Angriffskrieg gegen die Ukraine über die Möglichkeiten und Grenzen einer Medienanalyse klar zu werden: In Russland gelten strenge Zensurgesetze, die Medien spiegeln die Haltung der Bevölkerung zum Krieg nicht wahrheitsgetreu wider – ganz im Gegenteil: Die Berichterstattung gleicht einer sorgfältig inszenierten Propaganda. Jedoch kann aber auch diese Propaganda analysiert werden. Bei der Analyse stehen die Fernsehsender, die Medien mit der größten Verbreitung in beiden Republiken, im Mittelpunkt. Nur in Einzelfällen werden Berichte anderer Medien ergänzend hinzugezogen.

Tatarstan und Baschkortostan

Beide Teilrepubliken sind multinational, haben jeweils eine Einwohnerzahl von rund vier Millionen Menschen und sind durch die Existenz von großen russischen Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet, die 2010 in Baschkortostan mit 36,1 Prozent die relative Mehrheit vor den Baschkiren (29,5 Prozent), in Tatarstan hingegen mit 39,7 Prozent nur eine Minderheit hinter den Tataren (53,2 Prozent) bildeten. An dritter Stelle folgten in Baschkortostan die Tataren (25,4 Prozent) und in Tatarstan das christliche Turkvolk der Tschuwaschen (3,1 Prozent). Die Tataren und die Baschkiren, die Titularnationen der beiden Republiken, sind ebenfalls Turkvölker, sprechen also eine mit dem Türkischen verwandte Sprache. Tatarisch wird russlandweit von etwa fünf, Baschkirisch von etwas mehr als einer Million Menschen gesprochen, wobei die Zahl der Sprecher beider Sprachen durch die starke Russifizierung sinkt. Nur etwa 40 Prozent der Tataren leben auf dem Territorium Tatarstans, die Mehrheit hingegen außerhalb dieser Republik in den benachbarten Regionen und auch in Baschkortostan. In beiden Teilrepubliken wird der multinationale und multireligiöse Charakter der Bevölkerung von der Politik als positives, identitätsstiftendes Element herausgestellt. Die Mehrheit der Tataren und der Baschkiren ist nominell muslimisch, und der Islam hat in den Jahrzehnten seit der Perestrojka großen Aufschwung genommen: Islamische Bildungsstätten wurden gegründet und Moscheen auch in kleineren Städten und Dörfern gebaut. Parallel hierzu ist bei der russischen Bevölkerung eine Hinwendung zum orthodoxen Christentum zu beobachten.

In den Jahren der Perestrojka war in Tatarstan der Ruf nach größerer Souveränität, teilweise auch nach Unabhängigkeit laut geworden, weshalb das Parlament der Teilrepublik 1990 die Souveränität verkündete, die zwei Jahre später auch in einem Referendum bestätigt wurde. Folgerichtig wurden im 1994 abgeschlossenen Föderationsvertrag der Republik Tatarstan erweiterte Sonderrechte eingeräumt, die aber im Zuge der Zentralisierung in Russland seit dem Amtsantritt Putins immer weiter eingeschränkt und mit dem Auslaufen des Vertrags 2017 gänzlich zurückgenommen wurden. Als Symbol für die Zentralisierungsbestrebungen kann der auf Druck Moskaus erfolgte Wechsel der Amtsbezeichnung der Oberhäupter der Republiken von Präsident zu Rais in Tatarstan beziehungsweise Başlıq in Baschkortostan gelten (jeweils mit der Bedeutung »Oberhaupt«), die beide dem russischen Glawa entsprechen. Beide Republiken haben sich zu zuverlässigen Stützen von Putins Regime entwickelt, was beispielsweise darin zum Ausdruck kam, dass Tatarstan 2014 die Patenschaft für die Stadt Bachtschyssaraj auf der annektierten Krim übernahm. Weder in der offiziellen Politik noch unter der Bevölkerung beider Republiken sind relevante Oppositions- oder Souveränitätsbestrebungen zu beobachten, lediglich im europäischen, türkischen und US-amerikanischen Exil gibt es einzelne separatistische Aktivisten, die aber in den Teilrepubliken selbst keinen nennenswerten Anklang finden.

Medien in Tatarstan und Baschkortostan und der Krieg gegen die Ukraine

Die Medienlandschaft beider Republiken stellt eine Kombination aus sowjetischem Erbe, den erweiterten Möglichkeiten seit der Perestrojka und der jüngsten Geschichte Russlands dar. Als sich Anfang der 2000er Jahre abzeichnete, dass Moskau die Radio- und Fernsehstationen sämtlicher Regionen der Russischen Föderation unter dem Dach der Allrussischen Staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft (WGTRK) versammeln würde, befürchteten führende Kreise in Tatarstan, dass ihnen die Möglichkeit genommen würde, über die Medien auf die Tataren außerhalb ihrer Republik einzuwirken. Unter tatkräftiger ideeller und wohl auch finanzieller Hilfe der Republik Tatarstan wurde deshalb 2001 die nominell private Mediengesellschaft Yaña Ğasır (Neues Zeitalter, auf Russisch auch Nowyj Wek) gegründet, die seitdem mit dem gleichnamigen Fernsehsender die Station mit der größten Reichweite in Tatarstan betreibt. Trotz seiner »dissidenten« Entstehungsgeschichte bietet der Sender eine Berichterstattung, die mit der offiziellen Politik sowohl Moskaus als auch Tatarstans selbst konform geht.

Für die Untersuchung der Berichterstattung über den Krieg gegen die Ukraine wurden die vier regionalen Fernsehsender mit der größten Reichweite herangezogen: für Tatarstan neben Yaña Ğasır auch Rossija 1 Tatarstan, für Baschkortostan Baschkortostan 24 sowie der ethnische Sender BST, die alle mit Ausnahme von Yaña Ğasır unter dem Dach der WGTRK versammelt sind. Da alle vier Sender sowohl auf Russisch als auch auf Tatarisch beziehungsweise Baschkirisch senden, wurden für die Analyse Nachrichtensendungen, längere Interviews und die seltenen Sondersendungen zum Krieg in allen drei Sprachen ausgewertet. Für die Untersuchung wurde der gesamte Zeitraum seit Beginn des Angriffskrieges im Februar 2022 bis Anfang August 2023 in den Blick genommen, wobei die ersten drei Monate seit Beginn des Angriffskrieges und der Zeitraum Mai bis August 2023 besonders intensiv analysiert wurden.

Würde man den Medien der beiden größten Republiken des Wolga-Ural-Raumes glauben, gäbe es keinen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Getreu den Vorgaben der russischen Zentralbehörden wird auch in den Medien Tatarstans und Baschkortostans seit Februar 2022 ausschließlich von der »militärischen Spezialoperation« gesprochen, für die mittlerweile überhaupt kein geografischer Kontext mehr genannt wird. Sämtliche Medien Tatarstans und Baschkortostans konzentrieren sich auf die regionale Berichterstattung und behandeln den Krieg gegen die Ukraine vor allem dann, wenn die eigenen Regionen davon berührt werden. Bei allen Unterschieden zwischen Tatarstan und Baschkortostan, zwischen russisch- und tatarisch- beziehungsweise baschkirischsprachiger Berichterstattung sowie zwischen den einzelnen Fernsehstationen gibt es jedoch auch klare Gemeinsamkeiten, die es ermöglichen, die Berichterstattung über den Krieg systematisch zusammenzufassen und drei zentrale, ständig wiederkehrende Themenkomplexe auszumachen: mögliche und reale Auswirkungen von Krieg und Sanktionen auf die Wirtschaft und die Handlungsmöglichkeiten Tatarstans und Baschkortostans dagegen, die »Hilfen« der beiden russischen Teilrepubliken für die »Zone der militärischen Spezialoperation« sowie als zentrales Thema schließlich die Soldaten, die unter tatkräftiger Unterstützung der politischen Führung der beiden Republiken in den Angriffskrieg gegen die Ukraine geschickt werden.

Auswirkungen auf die Wirtschaft und Handlungsmöglichkeiten

Die Wirtschaftsberichterstattung der beiden russischen Teilrepubliken beleuchtet seit dem russischen Überfall auf die Ukraine auch die westlichen Sanktionen und die damit verbundenen Schwierigkeiten. Die Fernsehsender Tatarstans und Baschkortostans hatten zwar auch schon in früheren Jahren über die Teilnahme ihrer Republiken am alljährlichen St. Petersburger Wirtschaftsforum berichtet, aber die deutlich gesunkene Bedeutung der beiden letzten Messen seit dem Februar 2022 ließ sich an der Berichterstattung klar ablesen, denn neu geschlossene Verträge mit anderen Regionen der Russischen Föderation oder mit Belarus wurden nun auch von Politikern als Alternative zu weggebrochenen internationalen Kontakten präsentiert.

Schon vor 2022 hatten die beiden Teilrepubliken versucht, die islamische Identität ihrer Titularnationen durch das Knüpfen von Kontakten mit der islamischen Welt auch in wirtschaftlicher Hinsicht auszunutzen, aber diese Versuche werden von den Medien vor dem Hintergrund der westlichen Sanktionen seit Februar 2022 nun als Alternative zu den wegfallenden Handelskontakten mit der westlichen Welt interpretiert. Regelmäßige Berichte über Reisen von Wirtschaftsdelegationen beider Republiken nach Usbekistan, in den Iran oder die Türkei vervollständigen das Bild einer politischen Führung, die sich tatkräftig um islamische Alternativen zu den westlichen Kontakten bemüht.

Vereinzelt thematisieren die Medien der beiden Teilrepubliken auch die Umstellung der Wirtschaft auf den Kriegsbedarf. So berichtete etwa der baschkirische Sender Baschkortostan 24 im Oktober 2022 über ein Geschäft für Militäruniformen in der Hauptstadt Ufa, das sich seit Beginn des Angriffskrieges einer deutlich gestiegenen Nachfrage erfreuen konnte. Der Chef des Partnerunternehmens dieses Geschäfts, einer Fabrik für Kleidung, berichtete, man habe die Produktion vollkommen auf Uniformen und Militärschlafsäcke umgestellt. Außerdem sei man an Näherinnen aus dem ganzen Land einschließlich der beiden »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk interessiert, für die man auch Unterkünfte bereitstellen wolle.

Wie und wem »helfen« Tatarstan und Baschkortostan im Angriffskrieg?

Die tatarischen und baschkirischen Medien berichten oft darüber, wie die beiden russischen Teilrepubliken den von der »militärischen Spezialoperation« Betroffenen »helfen«. Im Februar und März 2022 häuften sich etwa Reportagen über Geflüchtete aus den »Volksrepubliken« von Donezk und Luhansk und die Anstrengungen in Tatarstan und Baschkortostan, diese unterzubringen und in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Bei der Eröffnung von Ankunftszentren und von Notunterkünften für Geflüchtete waren immer auch tatarische und baschkirische Fernsehsender präsent. Ein weiteres wichtiges Thema waren technische »Hilfeleistungen« für die beiden »Volksrepubliken« wie die Reparatur und der Ausbau der dortigen Infrastruktur. So informierten etwa die Medien Baschkortostans über Monate hinweg über die Renovierung eines Gymnasiums in der Stadt Petrowske in der Oblast Luhansk durch Freiwillige aus der russischen Teilrepublik. Bei der Neueinweihung der Schule drückte die Direktorin der Republik Baschkortostan ihren Dank für die geleistete Hilfe aus.

Die Nachrichtensendungen Tatarstans und Baschkortostans stellen die Beteiligung der Bevölkerung der beiden Teilrepubliken an »Hilfsmaßnahmen« regelmäßig als ein zentrales Thema dar. Gezeigt werden beispielsweise Hilfskonvois für die Zivilbevölkerung der »Volksrepubliken« Luhansk und Donezk oder für die »Teilnehmer an der militärischen Spezialoperation«; Unternehmer, die ausgediente Lieferwagen überholen und einem der Freiwilligenbataillone spenden; Frauen, die für die Soldaten Strümpfe stricken, Gemüse einlegen, traditionelle baschkirische Quarkspeisen zubereiten oder Tarnnetze knüpfen, sowie schließlich Schulklassen, die den Soldaten an der Front aufmunternde Briefe schreiben. All dies und noch viel mehr soll in den Nachrichtensendungen den Eindruck erwecken, die gesamte Bevölkerung der beiden Teilrepubliken stehe geschlossen hinter dem Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die »Hilfsleistungen« beschränken sich jedoch nicht auf Soldaten oder das »Gebiet der militärischen Spezialoperation«, sondern umfassen auch Tatarstan und Baschkortostan selbst. Familien von Angehörigen von Freiwilligenbataillonen bekommen dringend benötigtes Brennholz geliefert, und wenn ein Einberufener in einem baschkirischen Dorf die Reparatur seines Hauses nicht abschließen konnte, sind Freiwillige sofort zur Stelle und vollenden die Arbeit. Ein großer Teil der Hilfsaktionen wird von der Regierungspartei Einiges Russland und deren Jugend- und anderen Vorfeldorganisationen koordiniert. Einige der Videos in den Fernsehberichten stammen direkt aus den Kanälen der Organisationen in den sozialen Medien, und wenn Spitzenpolitiker aus Tatarstan zu Hilfskonvois befragt werden, ist nicht immer klar, ob sie als Vertreter des Staates oder als Funktionäre der Putin-nahen Partei sprechen.

Wer kämpft und wer stirbt?

Im Zentrum der kriegsbezogenen Berichterstattung in Tatarstan und besonders in Baschkortostan stehen jedoch eindeutig die »Teilnehmer an der militärischen Spezialoperation«, also die Berufssoldaten, die einberufenen Wehrpflichtigen und vor allem die Angehörigen der in beiden Republiken gegründeten Freiwilligenverbände. Wie in den meisten anderen Regionen der Russischen Föderation gibt es auch in Tatarstan und Baschkortostan solche Formationen, der Umgang mit ihnen und ihre Behandlung in den Medien der beiden Republiken erfolgt jedoch recht unterschiedlich. Während die beiden Bataillone Tatarstans mit Alğa (Vorwärts) und Timer (Eisen) weder ethnisch noch geografisch eindeutig konnotierte Namen erhielten und in den Medien nur in einzelnen Reportagen Erwähnung finden, werden die Freiwilligenbataillone Baschkortostans in den Medien regelmäßig beleuchtet und dabei auch in einen identitätspolitischen Diskurs eingebettet, der Aspekte wie Patriotismus, eine regionale Baschkortostan-Identität und die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg in sich vereint.

Als herausragendes Beispiel für die Identitätspolitik rund um die Freiwilligenbataillone Baschkortostans soll die erste Formation dieser Art dienen, die den Namen des Generals Minigali Schajmuratow trägt. Der 1899 geborene Schajmuratow war Kommandeur einer bekannten baschkirischen Kavalleriedivision gewesen und fiel 1943 im Zweiten Weltkrieg bei der Verteidigung des Donbas gegen die deutsche Wehrmacht. Bereits zu Sowjetzeiten war der General verklärt worden, aber seit den 2010er Jahren nahm seine Bedeutung in der Erinnerungspolitik stetig zu. So rief Baschkortostan 2020 einen Schajmuratow-Orden für besondere Tapferkeit ins Leben, der den ersten Gefallenen des Angriffskrieges aus der Republik Baschkortostan posthum verliehen und den Hinterbliebenen in feierlichen Zeremonien überreicht wurde. Dass das erste, im Frühsommer 2022 geschaffene Freiwilligenbataillon Baschkortostans den Namen Minigali Schajmuratows erhielt, war deswegen nur folgerichtig. Auch die folgenden Freiwilligeneinheiten erhielten Namen entweder von historischen Helden aus der baschkirischen Geschichte oder von Generälen und Offizieren aus Baschkortostan, die sich im Großen Vaterländischen Krieg oder im Zweiten Tschetschenienkrieg Verdienste erworben hatten und gefallen waren.

Alle Aktivitäten des Schajmuratov-Bataillons und der anderen militärischen Formationen werden von den Medien der Republik mit großer Aufmerksamkeit begleitet. Sowohl ihre feierliche Verabschiedung in das einmonatige militärische Vorbereitungstraining als auch die Entsendung in die »Zone der militärischen Spezialoperation« und der Beginn und das Ende des Fronturlaubs, aber auch Besuche des Oberhaupts der Republik Radij Chabirow bei den Bataillonen wurden zu zentralen Themen der Nachrichtensendungen der baschkirischen Fernsehsender. Der Schajmuratow-Kult beschränkt sich jedoch nicht nur auf die militärischen Formationen, sondern umfasst weite Teile der Gesellschaft. So wurden im September 2022 zum Start des Schuljahres in ganz Baschkortostan sogenannte Schajmuratow-Klassen mit verstärkter patriotischer und militärischer Erziehung geschaffen. Dass Hilfskonvois im Juli 2023 schließlich von Schajmuratow-Freiwilligen zusammengestellt und begleitet wurden, sollte nicht weiter verwundern.

Die Medien der beiden Teilrepubliken thematisieren ebenso den Tod von Soldaten im Krieg gegen die Ukraine, den sie dabei als Aufopferung im Kampf gegen den Faschismus interpretieren. So berichteten beispielsweise die Medien Tatarstans im Frühjahr 2022 über die Gedenkmaßnahmen für Damir Islamow, einen im März des Jahres gefallenen jungen Offizier aus Leninogorsk, einer Stadt im Süden Tatarstans. Islamow wurde posthum zum Helden Russlands erklärt, und im Mai besuchte das Oberhaupt Tatarstans Rustam Minnichanow sein Grab. Bereits im April war in der Hauptstadt Kasan ein Wandbild mit seinem Konterfei eingeweiht worden, und mittlerweile sind ihm ein Denkmal, eine Briefmarke und Einträge im russischen, tatarischen, baschkirischen und ukrainischen Wikipedia gewidmet. Als der Fernsehsender Yaña Ğasır im Juli 2023 noch einmal an Islamow erinnerte, wurde die mobilisierende Funktion des Gedenkens schnell deutlich: Die Schwester des verstorbenen Offiziers berichtete, ihre Familie habe zu Ehren ihres Bruders einen Fonds zur Unterstützung der einberufenen Wehrpflichtigen und ihrer Familien gegründet.

Fazit

Die systematische Analyse der Berichterstattung Tatarstans und Baschkortostans zum Krieg gegen die Ukraine zeigte zunächst, wie zentral der Krieg sowohl für die Propagandamedien selbst als auch für die führenden Politiker der zwei Teilrepubliken ist. Die Reportagen haben dabei trotz ihres Aktualitätsbezugs keine dokumentarische, sondern eine eindeutig propagandistische Funktion, und teilweise wechseln die Medien auch direkt in die Rolle von Beteiligten. Überraschenderweise spielte dabei die Sprache kaum eine Rolle: In allen Themenbereichen waren Russisch, Tatarisch und Baschkirisch gleichermaßen vertreten.

Die Argumentation der Pro-Kriegs-Propaganda ähnelt zunächst der Berichterstattung auf föderaler Ebene: Wie in den zentralen russischen Medien ist das wichtigste Argument für den Krieg, dass in der Ukraine der Nazismus wiederauferstanden sei und man wie im Großen Vaterländischen Krieg achtzig Jahre zuvor die Heimat mit einer »militärischen Spezialoperation« zu verteidigen habe. Unterfüttert wird diese Argumentation jedoch mit regionalen Elementen, die wahlweise auf die multinationale Identität der Republiken oder aber auf die ethnische Identität der Titularnationen rekurrieren. So verlieh das Oberhaupt Baschkortostans Radij Chabirow im Juni 2023 sechs Soldaten der »militärischen Spezialoperation« den Rang eines Helden Russlands, vier davon posthum. Dass es sich bei den Ausgezeichneten um zwei Russen, je einen Tataren, Baschkiren und Udmurten (einen Angehörigen eines finnougrischen Volkes) sowie schließlich um einen Mann mit ukrainischen Wurzeln (genauer wurde seine ethnische Identität nicht beschrieben) handelte, wurde dabei von Chabirow zum Sinnbild für den multiethnischen Charakter der Republik erklärt.

Dass eine Berichterstattung, die erwiesenermaßen propagandistische Aufgaben zu erfüllen hat, nicht als Gradmesser für die tatsächlichen Entwicklungen in Tatarstan und Baschkortostan geeignet ist, ist offenkundig. Dementsprechend lässt sich aus den Medienberichten der beiden Republiken auch nicht die Stimmung der Bevölkerung herauslesen. Es ist zwar anzunehmen, dass nicht alle Menschen in den beiden Teilrepubliken den Angriffskrieg unterstützen, aber gegen den Krieg gerichtete Einstellungen sind öffentlich nicht sichtbar, sondern äußern sich allenfalls in Form einer inneren Opposition. Eine Korrektur des von der Medienpropaganda verbreiteten Bildes ist nur unter Hinzuziehung von Medien außerhalb Russlands möglich. Hier bietet sich die in Prag ansässige tatarisch-baschkirische Redaktion von Radio Free Europe/Radio Liberty an, die zwar keine eigenen Sendungen mehr erstellt, aber unter Rückgriff auf soziale Medien und andere regionale Quellen, die Lage im Wolga-Ural-Raum wenigstens teilweise beleuchtende Berichterstattung auf Tatarisch und Russisch anbietet. So führen die Webseiten des Radios etwa Statistiken über die Gefallenen aus Baschkortostan, Tatarstan und den benachbarten Regionen und informieren über US-Sanktionen gegen Fabriken in beiden Republiken oder über die geplante Einführung von neuen Schulbüchern in Tatarstan, in denen die »militärische Spezialoperation« im offiziellen Sinne dargestellt werden soll. Trotz ihres propagandistischen Charakters lassen sich aus den Sendungen des tatarischen und baschkirischen Fernsehens wichtige Erkenntnisse ziehen. Soldaten aus den Freiwilligenbataillonen selbst betonen immer wieder, wie wichtig im Vergleich zu früheren Kriegen ein »zuverlässiges Hinterland« für den Erfolg des Angriffskrieges gegen die Ukraine sei, und es scheint eine relevante Anzahl an Menschen in beiden Teilrepubliken zu geben, die bereit sind, ein solches Hinterland zu gewährleisten. Ein großer Teil dieses »zuverlässigen Hinterlandes« kommt allerdings nur unter tatkräftiger Hilfe von regierungsnahen Organisationen wie der Partei Einiges Russland zustande, also von Akteuren, die erklärtermaßen Teil der Partei sind. Wie repräsentativ die Pro-Kriegs-Aktivitäten für die Stimmung in der Bevölkerung sind, lässt sich unmöglich sagen. Nach den vorliegenden Informationen ist jedoch ein baldiger Wechsel der gegenwärtigen Situation nicht zu erwarten.

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Lesetipps / Bibliographie

  • Markus Ackeret: Tatarstan verliert die Souveränität – der Kreml duldet immer weniger regionale Eigenständigkeit. In: Neue Zürcher Zeitung. 6. Februar 2023. https://www.nzz.ch/international/russland-der-kreml-bringt-auch-tatarstan-auf-linie-ld.1724452 [07.08.2023]
  • Helen M. Faller: Nation, Language, Islam: Tatarstan’s Sovereignty Movement. Budapest: Central European University Press, 2011.
  • Dmitry Gorenburg: Identity Change in Bashkortostan: Tatars into Bashkirs and back. In: Ethnic and Racial Studies 22 (1999) 3, S. 554–580.
  • Jörn Grävingholt: Pseudodemokratie in Rußland: der Fall Baschkortostan (DIE Studies, 4). Bonn: Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, 2005.

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Analyse

Der Einheitliche Wahltag 2023: Russlands Regionen im zweiten Kriegsjahr

Von Julia Baumann
Im September 2023 fanden in Russland turnusmäßig Regional- und Lokalwahlen statt. Damit versucht das Regime, den Schein von Normalität unter Kriegsbedingungen zu wahren. Die »militärische Spezialoperation« spielte im Wahlkampf keine Rolle, aber der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist auch im zweiten Jahr mit erheblichen humanitären und ökonomischen Kosten für die Regionen verbunden. Diese Belastung verteilt sich allerdings unterschiedlich auf die Regionen und Kommunen. Gleichzeitig erholte sich die Wirtschaft etwas und die finanzielle Lage verbesserte sich für einen beträchtlichen Anteil der Bevölkerung. (…)
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