Chauvinismus als Grundlage der aggressiven Politik des Putin-Regimes

Von Sabine Fischer (Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin)

Seit mehr als anderthalb Jahren führt Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine. In meinem Buch »Die chauvinistische Bedrohung. Russlands Kriege und Europas Antworten« (https://www.ullstein.de/werke/die-chauvinistische-bedrohung/hardcover/9783430210959) erkläre ich diesen Gewaltexzess mit dem Chauvinismus des Putin-Regimes.

Chauvinismus bezeichnet ein übersteigertes Überlegenheitsgefühl einer Gruppe, das mit Verachtung, Feindseligkeit und aggressivem Dominanzverhalten gegenüber Personen außerhalb dieser Gruppe verbunden ist. Ich verstehe Chauvinismus als eine Kombination aus drei Elementen: aggressiver Nationalismus bzw. Imperialismus, Sexismus und Autokratie. Der nationalistische bzw. imperialistische Chauvinismus behauptet die Überlegenheit Russlands über andere Gesellschaften, vor allem in der russischen Nachbarschaft. Als Großmacht beansprucht Russland in dieser »Einflusssphäre« das Recht auf Vorherrschaft und Dominanz. Russland setzt die Regeln, greift in die Innen- und Außenpolitik der Nachbarstaaten ein, es definiert die Grenzen ihrer Souveränität. Im Verhältnis zur Ukraine wird dieser Chauvinismus auf die Spitze getrieben, denn das Putin-Regime spricht der ukrainischen Gesellschaft und dem ukrainischen Staat das Existenzrecht ab. Sexistischer Chauvinismus rückt in einer fast ausschließlich von Männern dominierten politischen Sphäre die aggressive Hypermaskulinität der Führerfigur Putin in den Vordergrund. In der mehrheitlich konservativen russischen Gesellschaft ist dieser Männlichkeitskult für das Regime zu einer zentralen Legitimitätsquelle geworden. Gleichzeitig werden im Namen sogenannter traditioneller Werte patriarchale politische und gesellschaftliche Strukturen zementiert und ausgebaut. Frauenrechte und die Rechte sexueller und anderer Minderheiten hingegen werden systematisch eingeschränkt. Nationalistischer und sexistischer Chauvinismus zeichnen sich durch Gewalt und hierarchische Dominanzbeziehungen aus. Beide begünstigen politischen Autoritarismus. Das gilt für imaginierte Hierarchien zwischen Nationen und Ethnien. Es gilt auch für die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, in denen die Macht ungleich verteilt ist und die oft von Gewalt bestimmt sind. Der Chauvinismus-Begriff macht die Verbindung zwischen Nationalismus/Imperialismus, Sexismus und Autokratie sichtbar. Er integriert die feministische Perspektive in die Analyse der illiberalen Entwicklung Russlands. Er macht außerdem deutlich, wie alle drei Elemente zur Entstehung und immer tieferen Verankerung struktureller Gewalt in Russlands Gesellschaft, Politik und Außenpolitik beigetragen haben.

Diese Chauvinismus-Trias war im postsowjetischen Russland immer vorhanden. Sie wurde aber erst nach dem Beginn der Herrschaft Putins zur Grundlage des Regimes und seiner Innen- und Außenpolitik. Nach der gescheiterten demokratischen Transformation der 1990er Jahre drangen Nationalismus und Imperialismus tief in die gesellschaftlichen und politischen Diskurse ein. Das Putin-Regime förderte diese Entwicklung, indem es extremistische und faschistische Ideologen wie Alexander Prochanow oder Alexander Dugin im medialen Raum sichtbar und salonfähig machte. Das führte auch zu einer wachsenden Radikalisierung der Propaganda und des Regimes als Ganzes und Wladimir Putins selbst. Die Folge war eine immer aggressivere Außenpolitik.

Bei der Festigung der Putinschen Herrschaft seit den 2000er Jahren spielte außerdem die »Remaskulinisierung« Russlands eine entscheidende Rolle. Im Zentrum dieses Prozesses stand der russkij mushik, ein »echter Kerl«, der Schluss machte mit der Schwäche des russischen Mannes in der späten Sowjetunion und den turbulenten Transformationsjahren. Dieser entmaskulinisierte, infantilisierte Typ Mann der 1990er Jahre hatte dem Zusammenbruch nichts entgegensetzen können, er verfiel dem Alkohol und wurde abhängig. Unschwer lässt sich in dieser Beschreibung auch der erste russische Präsident Boris Jelzin erkennen. Das starke, männliche, patriotische Gegenbild wurde der russkij mushik, und seine Kristallisationsfigur wurde Wladimir Putin. Damit der mushik seine Rolle angemessen ausfüllen konnte, mussten Geschlechterrollen retraditionalisiert werden. Der Staat schwenkte bereits in den 2000er Jahren auf sogenannte traditionelle Werte und eine Familienpolitik ein, die Bevölkerungswachstum mit Kinderreichtum und einer traditionellen Rollenverteilung in der Familie erzielen wollte. Dieser Trend verstärkte sich nach der Rückkehr Putins in den Kreml im Jahr 2012. Das Ergebnis waren diskriminierende Gesetze und Repressionen gegen feministischen und LGBTQI*-Aktivismus. Ein Höhepunkt des Antifeminismus, der auch den engen Zusammenhang mit Gewalt deutlich macht, war die Entkriminalisierung von Erstfällen häuslicher Gewalt im Jahr 2017. In der Außenpolitik manifestierte sich der sexistische Chauvinismus zunehmend im illiberalen Kampf gegen das »dekadente Gayropa«, in der Unterstützung ultrakonservativer, antifeministischer politischer Kräfte in der EU, in der abwertenden »Feminisierung« von Gegnern. »Ob du es willst oder nicht, Du wirst es hinnehmen müssen, meine Schöne.« Mit dieser Vergewaltigungsmetapher glaubte Wladimir Putin wenige Tage vor Beginn der Vollinvasion in der Ukraine im Februar 2022 dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron klarmachen zu können, dass die Ukraine sich Russland zu fügen habe.

Parallel zu Nationalismus/Imperialismus und Sexismus erstarkten autokratische Tendenzen im politischen System. Der Kreml manipulierte Wahlen und schränkte oppositionelle und zivilgesellschaftliche Aktivitäten ein. Das Putin-Regime setzte ab den 2010er Jahren verstärkt auf Repressionen, um gesellschaftlichen Dissens zu unterdrücken. Der russische Staat verfügt außerdem über riesige Gewaltreservoire. Russland war in seiner postsowjetischen Geschichte fast ununterbrochen in Kriege und Gewaltkonflikte involviert, von den postsowjetischen Zerfallskriegen in den Nachbarstaaten über die beiden Tschetschenienkriege und den russisch-georgischen Krieg 2008 bis zum Beginn des Krieges gegen die Ukraine 2014 und die Intervention in den Syrienkrieg 2015. Viele Soldaten und Kämpfer, die in der Ukraine eingesetzt werden, sind durch diese Kriege gegangen. Das russische Strafvollzugssystem, das selbst auf entmenschlichender Gewalt und Unterwerfung beruht, stellt ein weiteres Reservoir dar, aus dem das Regime für seinen Krieg gegen die Ukraine schöpfen kann. Die Gewaltwelten Kriege und Lagersystem sind selbstredend von Männern bevölkert. Sie versorgen die russischen Streitkräfte ebenso wie die wachsende Zahl von Privatarmeen und privaten Sicherheitsdiensten.

Nach Putins Rückkehr in den Kreml 2012 gingen Nationalismus/Imperialismus, Sexismus und Autokratie eine untrennbare Verbindung ein. Das Regime leitete nach den Massendemonstrationen 2011 und 2012 eine ideologische Wende nach rechts ein. Alles, was mit Liberalismus, Pluralismus, Diversität und Demokratie zu tun hatte, wurde von nun an entschieden bekämpft, und zwar in der Innen- ebenso wie in der Außenpolitik. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Errichtung der Putinschen Diktatur und den unterschiedlichen Methoden der militärischen und hybriden Kriegführung, die nicht nur die Ukraine und andere Nachbarstaaten, sondern auch die liberalen Demokratien des Westens betrifft. Die Vollinvasion in der Ukraine und der totale Bruch mit der EU und den USA markiert den (vorläufigen) Höhepunkt dieser parallelen Entwicklungen. Gleichzeitig findet der russische Chauvinismus Anknüpfungspunkte bei rechtspopulistischen und rechtsextremen politischen Kräften in liberalen Demokratien, die ebenfalls eine chauvinistische Programmatik vertreten. Die chauvinistische Politik Russlands ist die größte Gefahr für die europäische Sicherheit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die EU und die NATO müssen gemeinsam mit der Ukraine und anderen Partnern Antworten auf diese Herausforderungen finden, sonst wird dies weitreichende negative Folgen für die Zukunft des europäischen Kontinents haben.

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