T-invariant: In der ersten Hälfte der 90er Jahre wurden in Russland mehrere einzigartige Universitäten gegründet. Dazu gehörten die Schaninka (Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften), die Europäische Universität in St. Petersburg, die NES (New Economic School) und die HSE (Higher School of Economics). Aufgabe dieser Hochschulen war es, den Nachwuchs in den Sozial- und Geisteswissenschaften auszubilden und neues Wissen zu generieren. Die Gründungsmodelle dieser Hochschulen waren jedoch sehr unterschiedlich. Heute, fast 30 Jahre später, befinden sich alle vier in einer schwierigen Situation. Beobachten wir den Niedergang der insgesamt sehr gut entwickelten geistes- und sozialwissenschaftlichen Universitäten in Russland?
Andrei Yakovlev: Diese Universitäten wurden in der Tat ungefähr zur gleichen Zeit gegründet, aber die Situation der Higher School of Economics und der anderen von Ihnen genannten Universitäten ist heute eine andere. Ja, alle vier Projekte haben ernsthafte Probleme, weil sie darauf ausgerichtet waren, neue Bildungsstandards in Russland zu etablieren, eng mit ausländischen Partnern zusammenzuarbeiten und sich in globale akademische Netzwerke zu integrieren. Dies ist nun kaum oder gar nicht mehr möglich. Im Falle der Higher School of Economics ist dieser Rückschritt gegenüber den ursprünglichen Zielen der HSE noch deutlicher.
T-invariant: Warum? Weil die Wyschka (Spitzname für die HSE, Anm. d. Red.), wie Ihr Kollege Igor Lipsiz es ausdrückt, »zu einer mundtoten Universität geworden ist«?
Andrei Yakovlev: Nein, das ist nicht der Grund. Ganz ähnlich ergeht es der NES, der Europäische Universität und der Schaninka. Vor allem gilt das für die Schaninka nach all den Strafverfahren gegen den ehemaligen Rektor Sergej Sujew.
T-invariant: Und warum ist das so?
Andrei Yakovlev: Weil noch kein:e einzige:r Professor:in der Europäischen Universität, der NES oder der Schaninka einen Atomschlag gegen Europa gefordert hat. Aber an der Higher School of Economics hat sich eine solche Person gefunden, und wir alle kennen ihren Namen (gemeint ist Sergej Karaganows Artikel »Eine schwere, aber unerlässliche Entscheidung« vom 19.6.2023, https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/eine-schwere-aber-unerlaessliche-entscheidung/, Anm. d. Red.).
Außerdem gibt es sogar eine offizielle Entscheidung der Ethikkommission des Akademischen Rates der Higher School of Economics, dass solche Äußerungen unproblematisch sind. Zuvor hatte dieselbe Ethikkommission bei Äußerungen anderer Professor:innen, deren persönliche Meinung weitaus weniger öffentliche Aufmerksamkeit erregt hatte, genau das Gegenteil entschieden. Zudem reist die Hochschulleitung der Schaninka, der Europäischen Universität und der NES nicht in den Donbas. Und soweit ich von Kolleg:innen dieser Universitäten weiß, gibt es dort immer noch ein ziemlich hohes Maß an akademischer Selbstverwaltung, was in der Tat eines der grundlegenden Merkmale dieser neuen Universitäten zum Zeitpunkt ihrer Gründung war.
T-invariant: Für diejenigen, die mit dem russischen Hochschulsystem nicht so vertraut sind, ist es ziemlich schwierig, die öffentliche Aufmerksamkeit für die Wyschka zu erklären. Manche fragen sich sogar: »Nun, wir erleben den Niedergang einer großen Universität, aber warum sollte man ihr nachtrauern? Es gibt doch die Moskauer Staatliche Universität, die St. Petersburger Staatliche Universität, die Russische Akademie für Volkswirtschaft und Öffentliche Verwaltung; dort wird es auch nicht besser. Warum löst gerade die Wyschka eine so emotionale Reaktion aus?« Wenn Sie mit Amerikaner:innen sprechen, womit würden Sie die Wyschka vergleichen? […]
Andrei Yakovlev: Gute Frage! Eigentlich gibt es in den USA keine Analogie, denn die Bedeutung der Higher School of Economics in den letzten zwanzig Jahren war dadurch bestimmt, dass sie nicht nur eine Universität war, sondern auch eine der größten Denkfabriken, die für die Regierung und für die Gesellschaft als Ganzes gearbeitet hat. Das möchte ich betonen. Insofern ist die Bildungslandschaft in den USA anders strukturiert. Dort gibt es viele starke Universitäten, die miteinander vergleichbar sind und im Wettbewerb stehen. Eine ähnliche Kluft wie in Russland zwischen der Higher School of Economics und anderen Universitäten, zumindest im Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften, gibt es in den USA, Deutschland oder Frankreich nicht. In den USA und Westeuropa unterscheiden sich die Universitäten nicht um Größenordnungen.
In den USA und Europa sind es zudem nicht die Universitäten selbst, die Analysen für die Regierung oder die Gesellschaft erstellen, sondern sogenannte Think Tanks – kompakte und autonome Denkfabriken.
T-invariant: Aber Sie arbeiten doch gerade in einer dieser Denkfabriken in Harvard, nicht wahr?
Andrei Yakovlev: Ja, das Davis Center, an dem ich derzeit arbeite, ist auf die Forschung zu Russland und der ehemaligen Sowjetunion spezialisiert. Es ist ein interdisziplinäres Wissenschaftszentrum, in dem es Philolog:innen, Historiker:innen, Kulturhistoriker:innen und Politikwissenschaftler:innen gibt, aber fast keine Wirtschaftswissenschaftler:innen. Das ist aber nicht einmal annähernd vergleichbar mit den Instituten, die es an der Wyschka gab und gibt, wie das Institut für Bildungswesen, das Institut für staatliche und kommunale Verwaltungsfragen, das Institut für Sozialpolitik oder das Institut für Wissensökonomie und statistische Forschung, wo mehrere hundert Expert:innen zusammenarbeiten und jedes Jahr Dutzende von Großprojekten durchgeführt werden. Das Besondere an der Higher School of Economics war, dass sie lange Zeit eine Universität mit akademischen Grundwerten und gleichzeitig eine Art staatliche Reformbehörde war. Ich kenne nichts Vergleichbares.
T-invariant: Zurück zu den vier neuen Universitäten. Die Wyschka begann ihren Weg als kleine Hochschule. Wie wurde daraus die Wyschka, die zugleich Denkfabrik und klassische Forschungsuniversität ist?
Andrei Yakovlev: Alle vier Universitäten setzten von Anfang an darauf, international etablierte Bildungsstandards in den Sozialwissenschaften auch in Russland einzuführen. Denn das Erbe der Sowjetzeit musste überwunden werden. Die Sozialwissenschaften wurden in der Sowjetunion durch ideologische Scheuklappen und die Notwendigkeit, die marxistisch-leninistische politische Ökonomie und den wissenschaftlichen Kommunismus zu studieren, an ihrer Entwicklung gehindert. Das Wissen, das sich im Westen in den letzten hundert Jahren zu einer echten Wissenschaft entwickelt hatte, war in der Sowjetunion bestenfalls im Spezchran, also in Sonderabteilungen von Bibliotheken und Archiven mit unterschiedlichen Geheimhaltungsstufen, zu erwerben, wenn man überhaupt Zugang dazu hatte.
Dieser katastrophale Zustand der Sozialwissenschaften hat entscheidend zum Zusammenbruch der Sowjetunion beigetragen. Denn selbst diejenigen, die aufrichtig etwas verändern wollten, hatten wenig Ahnung von dem, was um sie herum geschah. Neue Universitäten wurden gegründet, weil in der öffentlichen Verwaltung und in der Wirtschaft ein akuter Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften herrschte. Die Marktwirtschaft entwickelte sich und es bestand ein großer Bedarf an Wirtschaftswissenschaftler:innen, Manager:innen, Jurist:innen und Soziolog:innen. Sie waren sowohl in der Wirtschaft als auch in der Staatsverwaltung gefragt. Bei allem Respekt vor den ehrlichen und keineswegs korrupten Beamten, die im Gosplan-System der UdSSR gearbeitet hatten und Anfang der 90er Jahre im russischen Wirtschaftsministerium landeten, konnte man von ihnen keine kompetente Wirtschaftspolitik erwarten. Sie waren in einer völlig anderen Realität aufgewachsen.
Die primäre Aufgabe aller vier Universitäten war es daher, international anerkannte Standards in der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung in Russland zu etablieren. Gleichzeitig hatten alle Universitäten einen Anspruch, der weit über die Ausbildung der Studierenden hinausging: Es sollten auch neue Ideen für Gesellschaft und Staat generiert werden. Dies geschah auf unterschiedliche Weise. In der Zeit, als Sergej Gurijew Rektor der NES war, war die NES ein recht einflussreiches Zentrum, das Ideen hervorbrachte, die im Umfeld von Präsident Dmitrij Medwedjew gefragt waren. Die Europäische Universität hat traditionell eng mit verschiedenen Personen aus St. Petersburg zusammengearbeitet, die später in der föderalen Regierung tätig waren. Beispielsweise arbeitete die Europäische Universität im Rahmen des Zentrums für strategische Entwicklung 2016–17 sehr aktiv mit Alexej Kudrin zusammen. Solche staatlichen Partner haben der Universität dann geholfen, als sie von den Sicherheitsbehörden frontal angegriffen wurde. Schaninka hat auf dem Gebiet der Sozialforschung viel Wichtiges geleistet. Ihr Gründer Teodor Shanin hat nicht nur gelehrt, sondern der russischen Gesellschaft ein neues Verständnis sozialer Prozesse vermittelt.
Was also unterscheidet die Wyschka von den drei anderen Hochschulen? Zunächst einmal der viel größere Ehrgeiz von Jaroslaw Kusminow (Kusminow gehört zu den Gründern der Higher School of Economics und war seit 1992 ihr erster und einziger Rektor. Im Juli 2021 wurde er von Nikita Anissimow abgelöst, seither ist Kusminow Wissenschaftlicher Leiter der HSE, Anm. d. Red.). Denn Kusminow wollte von Anfang an nicht nur eine neue Universität gründen, sie sollte auch groß und einflussreich sein. Ja, die Wyschka begann als kleine Organisation, die sich damals noch »College« nannte. So wurde sie in einem Förderantrag an die Europäische Kommission bezeichnet, und diese Förderung war dann auch die Grundlage für die Higher School of Economics bei ihrer Gründung. Aber Kusminow war von Anfang an viel ehrgeiziger.
Ich erinnere mich noch gut an die Situation in der zweiten Hälfte der 1990er und Anfang der 2000er Jahre, als es Gerüchte über seinen möglichen Wechsel in die Regierung gab. Aber irgendwann wollte Kusminow gar nicht mehr gehen, denn als Rektor der Higher School of Economics war er inzwischen schon einflussreicher als mancher Minister. Als Minister hätte er Rechenschaft über die Ergebnisse der Arbeit seines Ministeriums ablegen müssen. Aber in der Rolle eines hochrangigen Beraters, der Einfluss auf die Entscheidungsfindung hat, aber nicht für die Umsetzung verantwortlich ist, war er in einer viel günstigeren Position. Und er hat das sehr gut verstanden. Sergej Gurijew war zeitweise in einer vergleichbaren Position. Weder die Europäische Universität noch die Schaninka hatten Personen mit ähnlichen politischen Ambitionen an der Spitze.
Der zweite wichtige Unterschied zwischen der Wyschka und ähnlichen Hochschulen ist ihr Anspruch auf Größe. Vielleicht ist dies der Grund, warum die HSE, im Gegensatz zu anderen neuen Universitäten, als staatliche Organisation gegründet wurde. Dieser Status brachte seine eigenen Zwänge mit sich, eröffnete aber auch zusätzliche Wachstumschancen. Die HSE setzte also auf Größe, und diese strategische Ausrichtung hatte wiederum weitreichende Folgen. Ich glaube, dass die Europäische Universität, die NES und Schaninka gerade dadurch, dass sie kleine Organisationen geblieben sind, eine besondere, eher freie akademische Atmosphäre bewahren konnten.
Diese Atmosphäre herrschte an der Higher School of Economics auch in den 1990er Jahren. Damals gab es keine wesentlichen Unterschiede zwischen der HSE als staatlicher Organisation und der NES, der Europäischen Universität und der Schaninka als nichtstaatlichen Hochschulen. Es gab keine Distanz zwischen den Mitarbeiter:innen, von den leitenden Dozent:innen bis zum Rektor konnten alle frei miteinander kommunizieren. Aber wenn eine Universität Zehntausende von Studierenden und Tausende von Mitarbeiter:innen hat, entsteht unweigerlich die für große Organisationen typische bürokratische Hierarchie. Und da die Wyschka relativ schnell in die Kategorie der großen Organisationen aufgestiegen ist, ist es ab diesem Zeitpunkt sinnvoller, sie mit anderen großen russischen Universitäten wie der Moskauer Staatlichen Universität, dem MGIMO (Moskauer Staatliches Institut für Internationale Beziehungen, Anm. d. Red.) oder der Finakademija (Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Anm. d. Red.) zu vergleichen. Der grundlegende Unterschied zu diesen großen Bildungseinrichtungen bestand darin, dass Kusminow nie davor zurückschreckte, starke Leute in sein Team zu holen. Er versuchte, unkonventionelle Denker:innen in der HSE um sich herum zu scharen, die durchaus länger mit ihm diskutieren konnten. Vielleicht war das in den letzten Jahren nicht mehr ganz so, aber zumindest in den ersten 15 bis 20 Jahren gab es sowohl im Rektorat als auch im Akademischen Rat lebhafte Diskussionen. Das heißt, es war eine echte akademische Selbstverwaltung in einer großen Organisation, was für Universitäten mit sowjetischem Erbe eher untypisch war.
Dieses Modell hat zu zahlreichen hochschulpolitische Innovationen geführt. Dazu gehören das International Institute of Economics and Finance (IIEF) als sehr erfolgreicher Studiengang mit einem Doppelabschluss mit der Universität London, der die Einstellung von Lehrkräften mit internationaler Erfahrung in Gang brachte; die ausschließliche Zulassung von Bewerber:innen auf der Grundlage formalisierter Tests, die an der HSE lange vor der Einführung des Einheitlichen Staatsexamens (Jedinyj Gosudarstwennyj Examen, JeGE, Anm. d. Red.) begann; internationale Laboratorien, Forschungs- und Lehrlaboratorien, Dissertationsausschüsse und eine gezielte Reproduktion des akademischen Personals; ein internes Anreizsystem und ein System zur Evaluierung der Lehr- und Forschungskräfte; HSE-Campus in den russischen Regionen, die sich grundlegend vom Modell anderer Universitäten unterschieden und es den regionalen HSE-Campus ermöglichten, zu gleichwertigen Konkurrenten der lokalen etablierten Volluniversitäten zu werden.
Gleichzeitig hatte Kusminow immer ein autoritäres Element in seinem Führungsstil, aber er lud Leute ein, die in der Lage waren, sich ihm zu widersetzen. Auch wenn diese Personen später aus verschiedenen Gründen in weniger prominente Positionen gedrängt wurden, blieben sie der Universität erhalten. Kusminow blieb seinen Mitarbeiter:innen lange Zeit treu, auch wenn sie nicht mit ihm übereinstimmten.
T-invariant: Jewgenij Grigorjewitsch Jasin, eine der wichtigsten Persönlichkeiten für die Wyschka, ist kürzlich verstorben. Wie würden Sie seine Rolle beschreiben?
Andrei Yakovlev: Die ursprüngliche Idee der Higher School of Economics, die dann als Förderantrag bei der EU zu Papier gebracht wurde, entstand im Austausch zwischen Kusminow und Jasin, das erzählten mir einige Personen, die direkt an der Gründung beteiligt waren. Anfang und Mitte der 1990er Jahre half Jasin dann bei der Einwerbung von Drittmitteln für die Weiterentwicklung der HSE und bei der Integration der Gebäude der Wirtschaftsakademie und des Instituts für Mikroökonomie (des ehemaligen Forschungsinstituts von Gosplan) in die HSE. In den 2000er Jahren spielte Jasin eine herausragende Rolle: Es waren seine Bemühungen, die das öffentliche, liberale Image der HSE maßgeblich prägten. In dieser Hinsicht ist der Kommentar eines HSE-Absolventen zu meinem Facebook-Post über Jasins Tod (https://www.facebook.com/yakovlev.andrei.5/posts/pfbid0hEWraUQxYVSaH69ZHpiCuL2pgi8WUpRuk4aZCoDZJc68Zv3xVPBBeGBDcfK6CeT4l) sehr charakteristisch: »Jewgenij Grigorjewitsch ist einer der Menschen, die mich dazu motiviert haben, mich an der Wyschka einzuschreiben. Und dann, als ich bereits an der Wyschka studierte, besuchte ich als Gasthörer seine brillanten und unglaublich faszinierenden Vorlesungen über die Geschichte der russischen Reformen in der Pokrowka (eines der vielen, weit verstreuten Gebäude der HSE im Stadtzentrum Moskaus am Pokrowskij Bulwar, Anm. d. Red.). Jewgenij Grigorjewitsch ist das Gesicht Russlands, wie ich es mir wünsche: freundlich, friedlich, hell, offen, frei. Er strebte nach den wichtigsten Idealen und Werten, um Russland und seine Menschen zum Besseren zu verändern«.
T-invariant: Wie ist die Wyschka reich geworden? Sie sagten bereits, dass sie als Hochschule mit Fördermitteln der Europäischen Union begonnen hat. Woher kam das Geld, sie zu einer angesehenen und reichen Universität zu machen? Einer der hartnäckigsten Mythen, die sich um die Wyschka ranken, ist die Tatsache, dass die finanziellen Mittel für die Entwicklung der Hochschule vom Tandem der Familie Kusminow-Nabiullina bereitgestellt wurden (die Zentralbankchefin Elwira Nabiullina ist seit ihrer Promotionszeit an der Moskauer Staatlichen Universität in der späten Perestrojka mit Jaroslaw Kusminow verheiratet; Nabiullina war von 2007 bis 2012 Ministerin für wirtschaftliche Entwicklung, Anm. d. Red.). Außerdem unterstand die Wyschka bis 2008 dem Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung Russlands und wurde 2008 an die russische Regierung übergeben. Sie waren lange Zeit für die Finanzen der Wyschka zuständig und haben miterlebt, wie alles begann. Wie war es denn wirklich?
Andrei Yakovlev: Das habe ich auch schon gehört, aber das hat nichts mit der Realität zu tun. Zum besseren Verständnis möchte ich hinzufügen: Ab Herbst 1993 hatte ich fünfzehn Jahre lang fast täglich mit Kusminow zu tun. Auch Nabiullina kenne ich seit meiner Studienzeit an der Moskauer Staatlichen Universität (sie war zwei Jahre älter als ich und war Doktorandin von Jasin, als ich bei ihm mein Diplom schrieb). Dann kreuzten sich unsere Wege im Experteninstitut und im Wirtschaftsministerium, wo sie ihre Tätigkeit begann, als Jasin Minister wurde. Im Laufe ihrer Karriere sind wir uns immer seltener begegnet, aber was ich über Nabiullina weiß, ist, dass sie ein außergewöhnlich sensibler Mensch ist. Seit ihrer Ernennung zur Ministerin im Jahr 2007 (als sie die Möglichkeit hatte, die Finanzen wesentlich zu beeinflussen) gab es innerhalb der HSE ernsthafte Diskussionen darüber, wie man das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung als übergeordnete Behörde verlassen könnte. Denn aufgrund der Eigenheiten von Nabiullinas Charakter war es für die Spitzenmanager:innen der HSE offensichtlich, dass sie nun in ihrer Beratungstätigkeit doppelt so viel arbeiten müssen würden, ohne zusätzliche Gelder zu bekommen. Aus diesem Grund wurde die HSE der Regierung unterstellt.
T-invariant: War das notwendig, um einen direkten Interessenkonflikt zu vermeiden?
Andrei Yakovlev: Ja, aber das war nicht der einzige Grund. Der Punkt ist, dass Kusminow bereits eine Finanzstrategie entwickelt hatte, die mit der Ernennung Nabiullinas zur Ministerin nicht mehr realisierbar gewesen wäre. Kusminow setzte auf Entwicklung, d. h. er investierte kontinuierlich in die Einstellung neuer hochqualifizierter Lehrkräfte, in die Einführung neuer Programme und Projekte und in den Aufbau neuer Abteilungen. Für solche Zwecke gab es im Finanzplan den Posten »Reserve des Rektors«, und im Laufe des Haushaltsjahres wurden die Ausgaben durch die Einnahmen ausgeglichen. Die Verpflichtungen waren jedoch langfristiger Natur, so dass die finanziellen Mittel über das Jahr hinaus unweigerlich knapp wurden. Deshalb forderte Kusminow ständig zusätzliche Mittel aus dem föderalen Haushalt an, versprach neue Ergebnisse, und deckte gleichzeitig alte Verpflichtungen mit neuen Haushaltsmitteln ab. So entstand eine Art »Pyramide«, die mit Nabiullina nicht mehr durchgegangen wäre. Ihre Entschlossenheit in solchen Angelegenheiten ist bekannt. Ich glaube übrigens, dass diese Eigenschaft neben ihrer Fachkompetenz der Grund dafür ist, dass Nabiullina sich bis heute im Machtsystem halten konnte. Die Silowiki können ihr nichts anhaben, auch wenn sie mit ihrer Politik als Zentralbankchefin unzufrieden sind. Meiner Meinung nach war der erhebliche politische Druck, der ab 2019 auf Kusminow ausgeübt wurde, zu einem großen Teil nicht einmal Druck auf die Higher School of Economics, sondern auf Nabiullina. Denn zu diesem Zeitpunkt war Nabiullina bereits eine viel einflussreichere politische Akteurin als [ihr Mann, Anm. d. Red.] Kusminow.
[…]
T-invariant: Wenn Nabiullina nicht der Schlüssel zum finanziellen Erfolg der Wyschka war, wer dann?
Andrei Yakovlev: In erster Linie waren es die persönlichen Eigenschaften von Jaroslaw Kusminow. Er hatte die Fähigkeit, Gelder aufzutreiben und die Geber davon zu überzeugen, dass es gerechtfertigt war, sie der HSE zukommen zu lassen. Kusminow gehört zu einer seltenen Gattung von öffentlichen Unternehmer:innen. Es handelt sich um eine seltene Spezies in der russischen Hochschullandschaft.
Die Higher School of Economics war bereits in den 1990er Jahren eine finanziell erfolgreiche Organisation, da ein großer europäischer Projektantrag zur Gründung der Higher School of Economics bewilligt wurde. Es folgten weitere Fördermittel, um das Studium der Wirtschaftswissenschaften in den russischen Regionen mit neuen Bildungsstandards zu reformieren. Jasin spielte dabei eine wichtige Rolle. Beide Projekte wurden in Zusammenarbeit mit der Universität Rotterdam durchgeführt. Die Gelder wurden für klassische technische Unterstützung verwendet, indem Ausrüstung und Literatur angeschafft wurde. Darüber hinaus gab es Praktikaplätze für Dozierende der HSE in den Niederlanden, in Frankreich und im Vereinigten Königreich. Damals standen die jungen, frisch promovierten Doktorand:innen inmitten des damaligen Chaos vor der Wahl, in die Wirtschaft zu gehen, im Ausland zu promovieren oder in der russischen Wissenschaft zu verbleiben. Die Wyschka war schon damals in der Lage, ihnen angemessene finanzielle Bedingungen zu bieten, allerdings nicht in Form eines garantierten Gehalts aus dem Haushalt des damaligen Bildungsministeriums, sondern in Form von Stipendien, die im Rahmen dieser europäischen Praktika gezahlt wurden.
Aber neben dem Geld war ein ebenso wichtiger Faktor, dass es eine Vision gab, eine Zukunftsvision und eine Strategie. All dies ging weitgehend von Kusminow aus. Gleichzeitig hatte die HSE bis Anfang der 2000er Jahre kein offizielles Strategiepapier. Das Gefühl, dass die Zukunftsperspektiven vielversprechend waren, vermittelte Kusminow in persönlichen Gesprächen. Die Atmosphäre im Wissenschaftsbetrieb war informell und sehr angenehmen.
T-invariant: Wann hat sich das Finanzierungsmodell im Laufe der Zeit geändert?
Andrei Yakovlev: Die erste Trendwende gab es Anfang der 2000er Jahre, als es weniger Mittel, aber mehr Studierende gab. Wenn ich mich nicht irre, wurden allein im Jahr 2002 fünf neue Fakultäten eröffnet. Und allein die Zahl der Einschreibungen hat sich mehr als verdoppelt. Bei dieser rasanten Entwicklung mussten schnell viele neue Lehrkräfte eingestellt werden. Die Qualität der Lehre drohte darunter zu leiden. Zuvor hatte Wyschka die Crème de la Crème des russischen Hochschulmarktes abgeworben. Anfang der 2000er Jahre war diese Ressource weitgehend ausgeschöpft.
Gleichzeitig sind aber auch Einnahmen aus kommerziellen Projekten hinzugekommen: Studiengebühren, MBA- und Zweitstudiengänge, Vorbereitungskurse für Schüler:innen. Auch die Auftragsforschung für verschiedene staatliche Behörden trug dazu bei. Die verschiedenen Finanzierungsquellen, darunter staatliche Haushaltsmittel (einschließlich Mittel für Gebäudeinstandhaltung und Investitionen), Fördermittel und kommerzielle Einnahmen, hielten sich in etwa die Waage.
Zu diesem Zeitpunkt haben wir beschlossen, einen Teil der Einnahmen aus kommerziellen Projekten in die Entwicklung der Universität zu investieren. So entstand die Wissenschaftsstiftung der HSE, die interne Stipendien vergab und ein Bonussystem einführte, das wissenschaftliche Leistungen belohnte. Kusminow bemühte sich, die Gehälter der Lehrkräfte zu erhöhen, unabhängig davon, ob sie an der Wirtschaftsfakultät, der Geschichtsfakultät oder der Mathematikfakultät arbeiteten. Aber für mich als damaliger Vizerektor für Wissenschaft und Finanzen war es offensichtlich, dass der Markt für Wirtschaftswissenschaftler:innen und Historiker:innen unterschiedlich funktioniert.
Das Bonussystem für wissenschaftliche Exzellenz wurde eingeführt, um hochqualifiziertes Lehrpersonal durch finanzielle Anreize an die HSE zu binden. Wissenschaftliche Publikationen galten als messbarer Indikator für erfolgreiche Forschungstätigkeit. Diese wiederum galt als wichtiges Kriterium für die Beurteilung der Qualität der Lehre. Die Boni standen nur Lehrenden zur Verfügung, aber auch Forscher:innen, die gute Veröffentlichungen vorweisen konnten und mindestens 0,25 Stunden unterrichteten. Es gab also einen Anreiz, Forscher:innen in den Lehrbetrieb einzubeziehen.
T-invariant: Wie hat sich das Geschäftsmodell der Wyschka nach 2008 verändert, als die Universität der Regierung unterstellt wurde?
Andrei Yakovlev: Dies war die zweite Weggabelung. Entscheidend war hier nicht nur der Interessenkonflikt zwischen Nabiullina und Kusminow. Vielmehr wollte Kusminow weiter expandieren und wachsen, wofür ihm aber die eigenen Ressourcen fehlten. Also musste entweder das Wachstum gebremst werden oder es mussten andere, nicht private Wachstumsressourcen erschlossen werden. Aus diesem Grund hatte ich damals regelmäßig Auseinandersetzungen mit Kusminow. Das führte zunächst dazu, dass ich die Verantwortung für die Finanzen abgab. Später trat ich als Vizerektor zurück.
Ein Wendepunkt war für mich die Sitzung des Akademischen Rates Ende 2007, als wir den Finanzplan für das kommende Jahr besprachen und gleichzeitig einen Antrag an die Regierung auf zusätzliche Mittel diskutierten. In der Begründung zu diesem Antrag wurde geschrieben, dass wir aktiv in die Entwicklung der Wissenschaft investieren, auch in Form von leistungsabhängigen Boni, die aus HSE-Mitteln finanziert werden. Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, dass die Boni weiter erhöht werden und nun sogar das Grundgehalt der Lehrkräfte übersteigen sollen. In der gleichen Anfrage an die Regierung wurden jedoch auch Zahlen genannt, dass wir neben zusätzlichen Mitteln für Forschung und Entwicklung, Ausrüstung, Gebäudeinstandhaltung und Kapitalinvestitionen auch Geld für die Gehälter der Reinigungskräfte und Klempner:innen benötigen, da diese an der HSE nur die Hälfte des Durchschnittsgehalts in Moskau betrugen.
T-invariant: Das heißt Kusminows und Ihre Wege haben sich getrennt, weil Sie sich nicht über Klempner:innen und Reinigungskräfte einigen konnten?
Andrei Yakovlev: Dies ist nur ein konkretes Beispiel. Insgesamt ging es um die Frage, inwieweit die Entwicklung der Universität von der staatlichen Finanzierung abhängig gemacht werden soll. Diese Diskussion dauerte mehr als eine Stunde in Anwesenheit des gesamten Akademischen Rates, und kurz danach reichte ich mein Rücktrittsgesuch als Prorektor ein, da der Akademische Rat mich nicht unterstützt hatte. Die Mehrheit unterstützte Kusminow, und die akademische Selbstverwaltung beschloss, beim Staat zusätzliche Mittel für die Entwicklung der Universität zu beantragen. So kam es Ende der 2000er Jahre zu einem Paradigmenwechsel, als sich die HSE verstärkt auf die Einwerbung staatlicher Mittel zur Förderung von Spitzenuniversitäten konzentrierte: vom Programm der Forschungsuniversitäten zum Programm 5-100 (d. h. Universitäten konnten den Status von Nationalen Forschungsuniversitäten (Nazionalyj Issledowatelskij Universitet, NIU) erlangen). Ziel des Programms 5-100 war es, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der russischen Universitäten zu verbessern und mindestens fünf von ihnen unter die 100 besten Universitäten der Welt zu bringen, Anm. d. Red.) Die HSE, vertreten durch Kusminow, hat sich aktiv für die Einführung dieser staatlichen Programme eingesetzt. Durch diese Programme erhielten nicht nur die HSE, sondern auch mehrere Dutzend führende Universitäten erhebliche finanzielle Mittel für ihre Entwicklung. Gleichzeitig wurden die Universitäten aber auch an den Staat gebunden. Ein Beispiel sind die Rektoren, deren Wahl abgeschafft wurde und die nun von der Regierung ernannt wurden.
T-invariant: Wie fatal war diese Entscheidung? War Ihnen sofort klar, dass die Wyschka nicht nur in finanzieller, sondern auch in ideologischer Hinsicht eine staatliche Universität werden würde?
Andrei Yakovlev: Die Gespräche mit Kusminow über diese Themen begannen bereits Anfang der 2000er Jahre. Ein entscheidender Wendepunkt war die Yukos-Affäre. Danach wurden Kontakte zwischen Universitäten und Großunternehmen, die nicht vom Kreml genehmigt waren, misstrauisch beäugt. Davor hatten wir auf Einladung von Jasin bei den April-Konferenzen der Higher School of Economics viele Leute aus der Wirtschaft, darunter auch Chodorkowskij. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass es für eine große Universität völlig normal ist, Kontakte zu verschiedenen Interessengruppen zu pflegen: zum Staat, zur Wirtschaft und zu wichtigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Ich habe ein solches Kooperationsmodell unterstützt. Aber Kusminow hatte von Anfang an eine viel »staatsfreundlichere« Einstellung. Jasin war in den 2000er Jahren am aktivsten in der Kommunikation mit der Wirtschaft. Kusminow sprach vor allem über den Aufsichtsrat der Higher School of Economics mit Wirtschaftsvertreter:innen. Dessen Vorsitzender war zunächst Wolodin, später Kirijenko (gemeint sind Wjatscheslaw Wolodin und Sergej Kirijenko in ihrer Funktion als stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung, wo sie für die Innenpolitik zuständig waren bzw. sind, Anm. d. Red.) Der Dialog mit der Wirtschaft fand also unter der Aufsicht des Kremls statt. Kusminow empfand jede eigenständige Kommunikation mit der Wirtschaft als Risiko.
T-invariant: Wollen Sie damit sagen, dass Kusminow mehr Angst vor der Wirtschaft als vor dem Staat hatte, und dass diese Einstellung die zukünftige Ausrichtung der HSE bestimmte?
Andrei Yakovlev: Es war eine Kombination von zwei Faktoren. Ein Faktor war die Abhängigkeit von Haushaltsmitteln als Haupteinnahmequelle. Im Allgemeinen ist es einfacher, gegenüber dem Staat Rechenschaft über die Ausgaben abzulegen als gegenüber der Wirtschaft. Der zweite Faktor ist die ständige Vergrößerung der HSE. Wir haben neue Fakultäten gegründet und die Zahl der Studierenden in den alten Fakultäten erhöht. Diese Expansion war wiederum ein Instrument, um zusätzliche Haushaltsmittel zu erhalten. Diese Strategie führte zu einer zunehmenden Abhängigkeit der HSE vom Staat.
T-invariant: […] Was war dann der nächste Scheideweg?
Andrei Yakovlev: Da muss ich etwas ausholen. Im Dezember 2008 fand der »Marsch der Nichteinverstandenen« (Marsch nesoglasnych) statt, bei dem Studierende der Higher School of Economics festgenommen wurden. Im Januar 2009 erhielt die HSE ein Schreiben des Moskauer Innenministeriums mit der Aufforderung, gegen diese Studierenden vorzugehen. Soweit mir bekannt ist, haben auch andere Hochschulen solche Schreiben erhalten, woraufhin diese Studierende exmatrikuliert wurden. Die offizielle Antwort von Kusminow lief darauf hinaus, dass Bürger:innen das Recht haben, ihre Meinung zu äußern. Und wenn vor Gericht bewiesen wird, dass sie tatsächlich ein Verbrechen oder einen Gesetzesverstoß begangen haben, dann sind wir (als Higher School of Economics, Anm. d. Red.) bereit, darüber zu diskutieren. Ansonsten müssten wir alle Studierenden exmatrikulieren, die bei Rot über die Ampel gehen. Damals konnte sich die HSE mit solchen formalen Antworten noch aus der Affäre ziehen. Aber damals war auch der Präsident ein anderer… (gemeint ist Dmitrij Medwedew, Anm. d. Red.).
T-invariant: Ein Präsident, für den »Freiheit besser ist als Unfreiheit«…
Andrei Yakovlev: Genau, so war das. Später, im März 2011, gab es eine öffentliche Debatte zwischen Kusminow und Nawalnyj in dem Saal, in dem auch der Akademische Rat der HSE tagt. Die Debatte wurde von Jewgenij Grigorjewitsch Jasin moderiert. Aus heutiger Sicht ist das kaum zu glauben, aber das alles hat es gegeben. (auf der Webseite der HSE findet sich ein Bericht über die Veranstaltung mit Stenogramm https://www.hse.ru/news/communication/27534931.html, die dreieinhalbstündige Debatte kann auch auf Youtube angeschaut werden https://youtu.be/K9B2nzcI8ww?si=uRs9gMl7m_1av_UM , Anm. d. Red.).
T-invariant: Hatte Jewgenij Grigorjewitsch Jasin Einfluss auf Kusminows Entscheidungen? Wollte er das überhaupt?
Andrei Yakovlev: Nach seinem Rücktritt aus der Regierung und seinem Wechsel zur HSE fungierte Jasin nur noch als Berater. Er äußerte seine Meinung, überließ aber Kusminow als Rektor die Entscheidungen. Nichtsdestotrotz war es Jasin, der das Image der HSE in den 2000er Jahren maßgeblich prägte und sowohl starke Lehrkräfte als auch motivierte Studierende an die Hochschule lockte. Trotz der Veränderungen, denen die HSE heute unterliegt, bin ich sicher, dass der Geist von Jasin in den Absolventen der HSE weiterleben wird. Ich hoffe, dass die HSE eines Tages den Namen von Jewgenij Grigorjewitsch Jasin tragen wird.
T-invariant: Wann hat sich die HSE der herrschenden Staatsideologie angenähert?
Andrei Yakovlev: Die Situation war aus meiner Sicht zwischen den Jahren 2012 und 2014 bereits unumkehrbar geworden. Im Jahr 2014 nahm Kusminow an den Wahlen zur Moskauer Stadtduma teil. Soweit ich gehört habe, wollte er das eigentlich gar nicht. Aber er wurde dazu gedrängt, weil Nawalnyj bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen 2013 fast 30 Prozent der Stimmen gewonnen hatte und es notwendig war, Sobjanin (den vom Kreml unterstützten amtierenden Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin, Anm. d. Red.) zu unterstützen. Die politische Lage sollte stabilisiert werden, indem die Moskauer Stadtduma mit Leuten aus Wissenschaft, Kultur und Bildung besetzt wurde, die anerkannte Macher waren und nicht Politik machen wollten. Kusminow stimmte zu. Er nahm seine Abgeordnetentätigkeit tatsächlich ernst, er putzte Klinken und kam mit den Moskauer:innen ins Gespräch. Dabei wurde er tatkräftig von Walerija Kasamara unterstützt, die später Vizerektorin wurde.
Kusminows Tätigkeit als Abgeordneter der Moskauer Stadtduma brachte der HSE Aufträge der Moskauer Regierung für verschiedene Forschungsprojekte ein. Nach den Präsidentschaftswahlen 2012 wandte sich die HSE, die bis dahin vor allem Auftragsforschung für Regierungsbehörden durchgeführt hatte, zunehmend von der Regierung ab und konzentrierte sich auf die Präsidialverwaltung als Hauptauftraggeberin. Insbesondere wurde die HSE mit dem Monitoring der Umsetzung der Mai-Dekrete beauftragt (die Mai-Dekrete setzten Putins Wahlprogramm in konkrete politische Ziele um, die föderale und regionale Akteure nach Vorgaben aus Moskau umsetzen sollten). Für die qualitative und quantitative Bewertung der Umsetzung der Zielwerte benötigte der Kreml fachliche Expertise, Anm. d. Red.) 2014 wurde Wolodin (stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung, zuständig für Innenpolitik) Aufsichtsratsvorsitzender der Higher School of Economics.
Die Situation spitzte sich weiter zu. Bei den nächsten Wahlen zur Moskauer Stadtduma 2019 trat Kusminow nicht mehr an. Er hatte immer ein gutes Gespür und schickte Walerija Kasamara ins Rennen. Das hatte er sich gut überlegt. Viele werden sich noch an die skandalösen Vorfälle während des Wahlkampfes erinnern (Kasamara trat im Team von Bürgermeister Sergej Sobjanin in jenem Wahlkreis an, in dem auch der von Nawalnyj unterstützte Oppositionelle Ilja Jaschin kandidieren wollte, der auch bei den Studierenden der HSE große Sympathien genoss. Jaschin wurde nicht zur Wahl zugelassen und Kasamara verlor gegen Magomet Jandijew von »Gerechtes Russland«.)
Gleichzeitig häuften sich politisch motivierte Entlassungen an der Wyschka. Im Jahr 2018 wurde das Labor von Transparency International unter der Leitung von Jelena Panfilowa aufgelöst (das studentische Labor befasste sich mit Korruptionsbekämpfung, auch oppositionelle Aktivist:innen nahmen an den Treffen des Labors teil, Anm. d. Red.) Im Jahr 2019 verließen mehrere prominente Politikwissenschaftler:innen die HSE im Zuge der Umstrukturierung des Fachbereichs Politikwissenschaft und seiner Zusammenlegung mit dem Fachbereich Öffentliche Verwaltung. Im Jahr 2020 wurde der Fachbereich Verfassungsrecht im Zuge der Entlassung zahlreicher führender Professor:innen, die sich öffentlich gegen Verfassungsänderungen ausgesprochen hatten, aufgelöst.
T-invariant: Sie beschreiben hier also einen paradoxen Prozess: Die Ambitionen von Jaroslaw Kusminow, die Wyschka hinsichtlich des Umfangs der Aufgaben, der Zahl der Fakultäten und der Zahl der Studierenden zu vergrößern, trugen zum Aufblühen der Wyschka und zu ihrem Aufstieg zu einer führenden russischen Universität bei. Andererseits trugen die gleichen Ambitionen des Rektors zum Niedergang der Wyschka bei.
Andrei Yakovlev: Daran ist nichts Paradoxes. Ich habe Kusminow bewusst als sozialen Unternehmer bezeichnet. Unternehmensverhalten und Unternehmensführung gehören zu meinen Hauptforschungsgebieten. Es ist ein ganz typisches Phänomen in der Wirtschaft, dass ein Start-up entsteht, sich erfolgreich entwickelt, zu einem mittleren Unternehmen wird, dann zu einem großen, dann zu einer riesigen Holding und schließlich in Konkurs geht.
Ich sage nicht, dass die HSE ein Unternehmen ist. Das ist sie nicht. Aber es gibt gewisse Ähnlichkeiten. An einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung hat die HSE eine Größe erreicht, die es ihr ermöglicht, die Hochschulkultur zu bewahren, die die Grundlage für das Ansehen der HSE in Russland bildet.
Gegenwärtig befindet sie sich in einem Prozess der Umwandlung in eine gewöhnliche große russische Universität, die den Nachwuchs ausbildet. Das Russland der letzten zehn Jahre brauchte die Higher School of Economics, die in den 1990er Jahren ihre Blütezeit erlebte und in den 2000er Jahren glänzte, eigentlich nicht mehr.
Die HSE ist heute eine Bildungseinrichtung, die Wirtschaftswissenschaftler:innen, Manager:innen, Jurist:innen, Soziolog:innen, Psycholog:innen, IT-Spezialist:innen und gleichzeitig Physiker:innen und Mathematiker:innen massenhaft ausbilden kann. Und als solche wird die HSE auch weiterhin gefragt sein. Alle neuen Ideen sind überflüssig geworden, vor allem die, die Zusammenarbeit mit internationalen Partnern auszubauen. Und im Grunde brauchte das vor zehn Jahren auch niemand mehr, aber erstaunlicherweise gab es trotzdem solche Aktivitäten. Es standen Haushaltsmittel aus dem Programm 5-100 zur Verfügung und die Verwaltung musste sich für die Umsetzung des Programms 5-100 verantworten.
T-invariant: War der schockierende Rücktritt von Kusminow im Jahr 2021 eine »Spezialoperation«?
Andrei Yakovlev: Der Rücktritt glich in gewisser Weise einer »Spezialoperation«. Denn erst 2019 war Kusminow für weitere fünf Jahre zum Rektor bestellt worden. Seine Amtszeit dauerte also bis 2024. Dabei war seine Wiederwahl 2019 schon keine Selbstverständlichkeit mehr. Ende 2018 gab es eine diskreditierende bildungspolitische PR-Kampagne gegen die HSE. Zuvor hatte es von einzelnen Personen Seitenhiebe gegeben, weil viele bildungspolitische Initiativen der HSE auf Widerstand gestoßen waren. Aber das hatte noch nicht den Charakter einer Kampagne. Ganz im Gegensatz zum Herbst 2018. Anfang 2019 gab es einen Wechsel beim FSB: Bisher war der FSB-Dienst für wirtschaftliche Sicherheit für die Aufsicht über die HSE zuständig, ab 2019 wechselte die HSE in den Bereich des FSB-Dienstes für die Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung und Terrorismusbekämpfung (jede Regierungsbehörde wird vom FSB durch die Entsendung von »Kuratoren« überwacht. Der Wechsel der Zuständigkeiten innerhalb des FSB deutet darauf hin, dass die HSE vor allem in ideologischer Hinsicht kontrolliert werden soll, um abweichendes Denken zu verhindern, Anm. d. Red.). Und ich erinnere mich gut daran, wie Kusminow im Frühjahr 2019 bei einer Sitzung, die dem neuen Konzept für die Entwicklung der Hochschule gewidmet war, drei Personen vorstellte, die die ganze Zeit irgendwo am Rande gesessen hatten: Es wurden zusätzliche Mitarbeiter:innen abgestellt, die sich in erster Linie um die Studierenden kümmern werden, aber auch in die Abteilungen kommen können, also seien Sie bereit, mit Ihren Kolleg:innen zu sprechen.
T-invariant: Was war der Grund für diesen Wechsel?
Andrei Yakovlev: Die politische Situation wurde immer komplizierter, und deshalb bat die HSE-Leitung das FSB um eine engere Zusammenarbeit. So wurde es uns erklärt. Die allgemeine Lage verschlechterte sich, doch Kusminow setzte weiterhin auf internationale Kontakte, den Ausbau der Zusammenarbeit, die Rekrutierung von Lehrkräften aus dem internationalen wissenschaftlichen Arbeitsmarkt und die Aufnahme ausländischer Studierender. Und obwohl er ein solches Konzept vorgelegt hatte, wurde er als Rektor wiedergewählt.
Das heißt aber nicht, dass sich die Situation nicht verändert hat. Mir scheint, dass das Jahr 2018 der endgültige Wendepunkt war, nicht nur für die Wyschka, sondern für ganz Russland. Vor den Präsidentschaftswahlen gab es noch Hoffnung, dass sich die Innenpolitik doch noch ändern würde. Doch nach den Wahlen wurde eine »neue alte Regierung« mit Dmitrij Medwedew als Premierminister eingesetzt. Gleichzeitig machte sich in der Gesellschaft eine Ermüdung des »Krim-Konsens« breit. Das ist durchaus verständlich, denn die Gesellschaft kann nicht dauerhaft in einem Zustand der Mobilisierung verharren. Zumal immer deutlicher wurde, dass sich die Elite selbst nur mäßig mobilisiert hatte und insgesamt keine substanziellen Veränderungen eingetreten waren. Zur gleichen Zeit begannen im ganzen Land Proteste: in Archangelsk und Schijes, in Jekaterinburg, Baschkirien und Chabarowsk.
Ich denke daher, dass die Entlassung von Kusminow damit zusammenhing, dass die politischen Risiken (aus Sicht des Kremls, Anm. d. Red.) bis 2021 zu groß geworden waren und eine so große und einflussreiche Organisation wie die HSE unter Kontrolle gebracht werden musste. Eine ähnliche Situation war an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung (RANChiGS) zu beobachten, als eine Reihe von Strafverfahren eingeleitet wurde, die mit dem Rücktritt von Wladimir Mau (seit 2002 Rektor der RANChiGS, Anm. d. Red.) endeten.
T-invariant: Der Rücktritt Kusminows ist also letztlich eine Entscheidung Putins?
Andrei Yakovlev: In jedem Fall. Die Ernennung des Rektors der HSE ist ein Vorrecht des Präsidenten, ebenso wie die Ernennung des Rektors der RANChiGS, des Rektors der Moskauer Staatlichen Universität oder der Staatlichen Universität St. Petersburg.
T-invariant: Wäre Jaroslaw Kusminow bis heute Rektor geblieben, hätte das für die Wyschka seit Kriegsbeginn einen wesentlichen Unterschied gemacht?
Andrei Yakovlev: Ich glaube nicht, dass das in der aktuellen Situation einen Unterschied gemacht hätte. Ich erinnere mich an die Verhaftung des HSE-Studenten Jegor Schukow im Jahr 2019. Damals unterzeichneten Lehrkräfte der HSE einen offenen Brief, um Schukow zu unterstützen. Kusminow rief die Mitglieder des Akademischen Rates der HSE an.
T-invariant: Hat er Sie auch angerufen?
Andrei Yakovlev: Nein, er hat mich nicht angerufen. Aufgrund unserer sehr langen Bekanntschaft wusste er wahrscheinlich, dass es keinen Sinn mehr hatte, mich zu überreden, meine Unterschrift zurückzuziehen. Aber ich hörte, wie er mit einem anderen Kollegen sprach, einem Mitglied des Akademischen Rates. Kusminow erklärte diesem Kollegen, dass es für die Universität sehr gefährlich sei, solche offenen Briefe zu unterzeichnen: »Sie werden die Hochschule einfach auseinandernehmen, und dann wird es einen anderen Rektor geben«.
Man sollte auch bedenken, dass eine zu lange Amtszeit selbst die talentiertesten und kreativsten Menschen verändert. Auch Kupferrohre beginnen irgendwann zu rosten. Ich glaube, dass es für Kusminow Anfang der 2020er Jahre bereits wichtiger war, zur Elite zu gehören, an Entscheidungsprozessen beteiligt zu sein und Zugang zu Personen zu haben, die Entscheidungen auf höchster Ebene treffen, als die Universität zu erhalten. In unserem letzten langen persönlichen Gespräch im Dezember 2021 hatte ich den Eindruck, dass ihm seine Position als Vorsitzender des Expertenrats der Regierung viel wichtiger war als die des wissenschaftlichen Leiters der Hochschule, die er nach seinem Rücktritt als Rektor übernommen hatte.
Kusminows Aktivitäten nach Kriegsbeginn sind meiner Meinung nach auch recht bezeichnend, vor allem im Vergleich zu Nabiullina, die für einen bedeutenden Teil der russischen Wirtschaft verantwortlich war und Verpflichtungen gegenüber vielen Menschen hatte, die sie zu sich geholt hatte. Kusminow hatte keine solchen Verpflichtungen mehr, er war bereits als Rektor zurückgetreten. Er hätte sicherlich die Möglichkeit gehabt, eine Nebenrolle zu spielen und zumindest Stillschweigen zu bewahren.
Aber soweit ich von Kolleg:innen weiß, ist Kusminow ziemlich aktiv. Er fordert, dass Vertreter:innen anderer Universitäten in den Expertenrat der Regierung aufgenommen werden. Er hat die Schließung des IGITI (Institut für geisteswissenschaftliche und historisch-theoretische Forschung an der HSE, Anm. d. Red.) und des Budnizkij-Zentrums an der HSE (Zentrum für Geschichte und Soziologie des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen unter Leitung von Prof. Oleg Budnizkij, Anm. d. Red.) initiiert. Bei Arbeitstreffen mit Regierungsbeamten hält er regelmäßig patriotische Reden, obwohl diese gar nicht gefragt sind. Die Regierung will eher praktische Ratschläge. Angesichts all dessen glaube ich, dass sich auch dann nicht viel geändert hätte, wenn Kusminow Rektor geblieben wäre.
T-invariant: Dann stellt sich die Frage: Warum wollten Sie trotz allem, was Sie gerade gesagt haben, die Wyschka nicht verlassen? Sie sind nicht freiwillig gegangen, und in Ihrem Abschiedsbrief (https://www.facebook.com/yakovlev.andrei.5/posts/pfbid0BBdbqLEnXqfUh9QhY9GUooD161fuSKFcySh1wVjeGZrHLa51Us2cmpbrGsypLzLzl) schreiben Sie, dass Sie hoffen, an die Wyschka zurückkehren zu können. Obwohl Sie wahrscheinlich wissen, dass einer Ihrer Kolleg:innen diesen Brief einen optimistischen Nachruf genannt hat. Wie erklären Sie sich also Ihren Optimismus?
Andrei Yakovlev: Ich betrachte meinen Facebook-Post keineswegs als einen Nachruf auf die Higher School of Economics. Die HSE setzt ihre Tätigkeit fort und unterrichtet Studierende. Ja, eine ganze Reihe von Forscher:innen und Lehrkräften hat die Universität verlassen, und das wird sich im Laufe der Zeit auswirken: Dennoch werden in den grundständigen Studiengängen immer noch die gleichen Formate und Inhalte gelehrt wie vor drei Jahren. Das Bildungssystem ist generell sehr träge.
Es handelt sich also keineswegs um einen Nachruf. Ja, die Wyschka hat sich verändert, aber sie ist keineswegs vom Erdboden verschwunden. Genau das macht meinen Optimismus aus. Ich glaube, dass die HSE das gegenwärtige politische Regime, das nicht mehr lange zu leben hat, überleben wird. Ich gehe davon aus, dass die »dunkle Gegenwart« bald vorbei sein wird und Russland wieder aufgebaut werden muss. Dies wird in erster Linie von den Menschen in Russland geleistet werden müssen. Deshalb ist es für mich wichtig, mich mit meinen Kolleg:innen auszutauschen und durch den Kontakt mit ihnen zu verstehen, was im Land geschieht. […]
Das Interview führte Olga Orlowa, Chefredakteurin von T-invariant. Die Russland-Analysen veröffentlichen das Interview in leicht gekürzter Fassung.