Am 16. Februar 2024 meldete die russische Strafvollzugsbehörde den Tod des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny. Er habe sich nach einem Spaziergang im Hof der Strafkolonie Nr. 3, genannt »Polarwolf«, in die er einige Wochen zuvor verlegt worden war, unwohl gefühlt und habe das Bewusstsein verloren. Eintreffende Rettungskräfte hätten erfolglos versucht, ihn wiederzubeleben. Nawalnys Team bestätigte den Tod am folgenden Tag. Die Todesursache ist ungeklärt, der Leichnam wird bisher nicht zur Obduktion freigegeben. Nawalnys Mitstreiterinnen und Mitstreiter sprechen von Mord. Doch unabhängig davon, wie Nawalny zu Tode gekommen ist, trägt die politische Führung des Landes dafür die volle Verantwortung.
In russischen Städten und in vielen anderen Orten der Welt versammeln sich Menschen, um ihre Trauer und ihre Wut zu äußern, halten Schilder hoch mit der Aufschrift »Mörder«. In Russland sind diese Gruppen klein und der Staat greift hart durch, wie immer in letzter Zeit bei politischen Protesten. Die Organisation OVD-Info zählte bis Sonntag 366 Festnahmen. Das Bild, das von der öffentlichen Reaktion auf Nawalnys Tod in Erinnerung bleiben wird, ist aber ein anderes. Es sind die Menschen, die Blumen niederlegen. An seinem früheren Wohnhaus in Moskau, am Gedenkstein für die Opfer politischer Repression der Sowjetunion gegenüber der FSB-Zentrale und an vielen anderen Orten im ganzen Land. Es ist ein Bild der individuellen Trauer, ein Bild der Stille, der Einsamkeit.
Erst vor zwei Wochen erklärte die Zentrale Wahlkommission, Boris Nadeschdin nicht zu den Präsidentschaftswahlen zuzulassen. Trotz seiner unklaren Beziehung zum Kreml war der liberale Politiker plötzlich zum Hoffnungsträger avanciert, hatte gar die Unterstützung der sonst so zerstrittenen liberalen Opposition erhalten und Hunderttausende zur Abgabe ihrer Unterschrift inspiriert. Die eigentlich erwartbare Entscheidung, Nadeschdin, der die Hoffnung im Namen trägt, nicht zuzulassen, war für viele eine bittere Enttäuschung. Unabhängig davon, ob Nawalny nun direkt oder indirekt ermordet wurde, ist sein Tod zu diesem Zeitpunkt ein weiteres, um Dimensionen schlimmeres Symbol der Ausweglosigkeit, des Immer-Weiter des brutalen Regimes und seines Krieges. Es ist möglich, dass Nawalny infolge der Folter seiner Haftbedingungen starb. Allerdings: Das Regime hat gelernt, durch Emotionen zu regieren. Es ist nicht auszuschließen, dass der Ablauf der Ereignisse einem präzisen Drehbuch folgt, mit dem Ziel, der Gesellschaft jede Hoffnung zu nehmen.
Das Bild der langen Reihen Einzelner, die Blumen ablegen, beschreibt den emotionalen Zustand, in dem sich weite Teile der Opposition und der kritischen Öffentlichkeit im Moment zu befinden scheinen: das Gefühl, durch den Verlust Nawalnys auf sich allein gestellt zu sein. Nicht Wut ist die dominante Emotion, sondern Trauer, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit. Mikhail Fischman kämpfte im Internetsender Dozhd mit den Tränen. Der Soziologe Grigoriy Judin, nicht bekannt für emotionale Ausbrüche, schrieb bei Meduza: »In Russland sagt man gerne, dass es vor der Morgendämmerung am dunkelsten ist. Ich glaube, das stimmt – nur kennen wir die wahre Dunkelheit noch nicht. […] Die Sonne ist verschwunden.«
Nawalnys Aufstieg
Nawalny hatte es seit seiner Rückkehr nach Russland und seiner gezielt in kauf genommenen Inhaftierung als seine Hauptaufgabe gesehen, Mut zu verbreiten. Diese Rolle als lagerübergreifende Projektionsfläche der Hoffnung war für ihn, der durch Penetranz, unterhaltsamen Sarkasmus und aggressive, vernichtende Kritik bekannt wurde, nicht unbedingt vorgezeichnet.
Als Verehrer und später heftiger Kritiker Boris Jelzins, begann Nawalnys politische Karriere als Anwalt für Kleinaktionäre und als Kampagnenmanager bei Jabloko. Sein rhetorisches Talent erkannte er im Debattenklub, den er in den 2000ern moderierte. Er entwickelte individuelle politische Ambitionen und driftete, entgegen der Ratschläge seiner Freude, in die nationalistische Bewegung, von der er sich jedoch schnell wieder trennte (ohne allerdings einen harten Bruch mit den Inhalten zu vollziehen). Sein größter politischer Erfolg – nach demokratischen Maßstäben – war sein zweiter Platz bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau im Jahr 2013. Sein Ergebnis von 27 % war für den Kreml das Signal für das Ende der Kooptationsstrategie, mit der er versucht hatte, Nawalny als Sinnbild einer ungehindert antretenden und stets sieglosen liberalen Opposition zu inszenieren. Nawalny versuchte viele Male erfolglos, seine eigene Partei zu registrieren, die Repression nahm zu.
Trotzdem war der eigentliche Höhepunkt seines politischen Wirkens Nawalnys Präsidentschaftskampagne von 2016 – 2018, die ihn zwar – vorhersehbar – nicht auf den Wahlzettel führte, bei der er aber zum ersten Mal in der Geschichte der Opposition im postsowjetischen Russland ein landesweites Netzwerk von Unterstützerinnen und Unterstützern aufbaute. Diese Breitenwirkung verhalf dem innovativen System taktischen Wählens (»umnoje golosovanie« / »kluges Abstimmen«) von 2018 bis 2020 zu manchen lokalen Erfolgen. Der Mordanschlag im Jahr 2020, seine Inhaftierung 2021, die vollständige Zerstörung seiner Organisation und die langen Haftstrafen selbst gegen regionale Aktivistinnen und Aktivisten adelten Nawalny und sein Team als die wichtigste Oppositionskraft, mit der es Wladimir Putin jemals zu tun hatte. Auch wenn er und seine Gefährten sich weiterhin heftige Wortgefechte mit anderen Oppositionsakteuren lieferten, so zollten ihm doch alle ihren Respekt für diese Position.
Nicht antipolitisch, sondern vorpolitisch
Nawalny ist von linker und nationalistischer Seite zuweilen für seine liberale Naivität kritisiert worden. Es sei mit einem Elitenaustausch, einer Justizreform und fairen Wahlen nicht getan. Doch aus Nawalnys Sicht war die Forderung nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die im Zentrum seiner Arbeit stand, nicht antipolitisch sondern vorpolitisch. Nawalny versuchte durch die experimentelle und teils widersprüchliche Kombination oberflächlicher Programmelemente einen Minimalkonsens zusammenzufügen, eine Allianz (in der Politikwissenschaft auch Negativkoalition genannt), deren Kern immer im fundamentalen Widerstand gegen das autoritäre und durch Korruption zusammengehaltene Regime bestand. Diese Allianz sollte »normalen« politischen Wettbewerb erst ermöglichen. (Dass Nawalny die Selbstorientalisierung, die die westliche repräsentative Demokratie als Normalität und alles andere als die Abweichung versteht, nicht sah, teilt er mit vielen anderen Liberalen.) In diesem freien Wettstreit, so seine Vorstellung, hätte sich Nawalny dann auf eine von vielen politischen Richtungen zurückgezogen.
Zum Vorwurf der Antipolitik trägt auch die Zuspitzung von Nawalnys Plattform auf seine Person bei. Und selbstverständlich war Nawalny als charismatischer Anführer seiner Organisation in hohem Maße machtbewusst. Nawalnys Team sollte zwar ein Beispiel für die effizienten, präzisen Institutionen des »Großartigen Russlands der Zukunft« sein (ein Slogan, den er selbst prägte). Es war aber auch das personalistische – und zuweilen autoritäre – Spiegelbild des personalistischen autoritären Regimes. Sieht man allerdings, wie das Regime unter Putin die Politik als solche systematisch stillgelegt und damit die Ausbildung stabiler ideologischer Positionen verunmöglicht hat, ist der Fokus einer erfolgreichen Oppositionsbewegung auf eine Person leicht erklärlich – und möglicherweise die erfolgversprechendste Strategie.
Die Rückkehr des Kollektiven
Nawalnys vielleicht größtes Verdienst ist es, für die Selbstwirksamkeit gekämpft zu haben, für die Überzeugung, dass vom eigenen Handeln etwas abhängt. Nach der Protestwelle von 2011/12, die in den Regionen noch immer von den Veteranen der Perestrojkazeit dominiert wurde, war Nawalnys Kampagne von 2017/18 der wichtigste Moment der Mobilisierung politischer Impulse. Nawalnys Regionalbüros waren Punkte der Vernetzung und der juristischen Hilfe weit über das junge urbane Publikum hinaus, es waren Zentren der unabhängigen Informationen und der Erfahrung kollektiver Handlung.
Die »Koordinatoren« dieser Zentren sind ebenfalls längst in Haft oder außer Landes. Doch viele Tausend Aktivistinnen und Aktivisten tragen ihre Erlebnisse und ihre Solidarität weiter mit sich. Heute legen sie Blumen nieder, jeder und jede für sich, in Wolgograd oder in Vilnius. Doch wenn sie eines Tages wieder da sind und gemeinsam am »Großartigen Russland der Zukunft« arbeiten, dann ist das auch Alexej Nawalny zu verdanken.
Eine gekürzte und leicht veränderte Version des Textes ist in englischer Sprache bei The Dispatch erschienen.