Antisemitismus in Russland – ein alter Bekannter meldet sich zurück

Von Ksenija Poluektowa-Krimer (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam)

Zusammenfassung
Der Krieg gegen die Ukraine, der von der russischen Propaganda als Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs dargestellt wird, entfaltet sich in dem geografischen und historischen Raum, in dem der Holocaust verübt wurde. Semantisch geschieht er in den »Bloodlands«, wie sie von Timothy Snyder in seinem Buch bezeichnet werden. Der groß angelegte Einmarsch Russlands in diesen faktischen wie symbolträchtigen geografischen Raum hat die revisionistischen Diskurse über die Kollaboration in den Zeiten des Zweiten Weltkrieges, den Holocaust und die Geschichte jüdischer Menschen in der Ukraine verstärkt. Das Putin-Regime streut verschwörungstheoretische Narrative über die »eigentlichen« Gründe und Nutznießer des Krieges, die gleichzeitig schlummernde antisemitische Vorurteile aus der Sowjetära wiederbeleben und neue Vorurteile über das Judentum erzeugen. Die Rückkehr des Antisemitismus in den öffentlichen Raum Russlands ist nicht nur durch den Krieg gegen die Ukraine und die zunehmend feindschaftliche Haltung zum »kollektiven Westen« zu erklären, sondern auch durch eine Reihe dynamischer innenpolitischer und internationaler Faktoren.

Von Gaza bis Dagestan

Am 28. und 29. Oktober 2023 kam es in mehreren Republiken des Nordkaukasus zu Pogromen, denen eine antisemitische Kampagne vorausgegangen war, die fast zweieinhalb Wochen in regionalen Telegram-Kanälen wütete. Diese Ereignisse entfalteten sich vor dem Hintergrund eines weltweiten Ausbruchs von Antisemitismus nach dem Angriff der Hamas auf den Süden Israels am 7. Oktober 2023 und dem anschließenden Einsatz der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen. Die Behörden reagierten schwach und unentschlossen, wobei sie gegenüber dem Mob eine erstaunliche Milde an den Tag legten. Putin wies die Schuld am Geschehen »Agenten westlicher Geheimdienste« zu (insbesondere denen der USA), die »nicht zuletzt vom Territorium der Ukraine aus« agiert hätten. Die Pogrome in Dagestan wurden als Fortsetzung jenes Krieges interpretiert, den Russland in der Ukraine gegen die »globale Diktatur Washingtons« führt.

Der Kreml gab deutlich zu verstehen, welche der Seiten er bei den Ereignissen im Nahen Osten unterstützt: Am 26. Oktober fand in Moskau ein gemeinsames Treffen hochrangiger Hamas-Mitglieder mit dem stellvertretenden Außenminister des Iran statt. Vier Tage später wechselte Präsident Putin auf einer Sitzung zu den antisemitischen Gewaltausbrüchen in Dagestan das Thema und sprach über den Gazastreifen: »Wenn man die blutüberströmten Kinder sieht, die getöteten Kinder […], da ballt man natürlich die Fäuste zusammen, und es kommen einem Tränen«.

Die Unterstützung der Hamas durch Russland findet ihren Ausdruck auch in einer weltweiten Desinformationskampagne, die Russland im digitalen Raum unternimmt. Damit sollen die Argumente Israels und dessen wichtigsten Verbündeten, der USA, untergraben werden. All das bedeutet das Ende einer über drei Jahrzehnte währenden Phase freundschaftlicher Beziehungen zwischen Russland und Israel. Diese hatten sich in den letzten 16 Jahren aufgrund der persönlichen und ideologischen Nähe von Putin und Netanyahu mit dessen nationalistischen, autoritären Populismus noch weiter gefestigt. Russland versucht sich als Anführer des Globalen Südens zu positionieren und scheint bereit zu sein, zu seiner alten Rolle als Schutzmacht der palästinensischen Bewegung zurückzukehren, die es während des Kalten Krieges innehatte.

Die Propaganda Russlands verfügt über ein reiches Repertoire antizionistischer Klischees und Motive, die sich in den Jahrzehnten der sowjetischen Dämonisierung Israels angesammelt haben. Einige von ihnen erleben heute in Fernsehsendungen, ultrapatriotischen, antiukrainischen Telegram-Kanälen der Sorte »Z« [der Buchstabe Z wurde in Russland zum Symbol der sog. »Militärischen Spezialoperation«, wie der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine in der russischen Propaganda genannt wird, Anm. d. Red.] sowie auf diversen medialen und digitalen Plattformen eine Renaissance. Diese Desinformationskampagne soll den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine relativieren, die weltweite Aufmerksamkeit von ihm ablenken und womöglich westliche Waffenlieferungen an die Ukraine torpedieren. Die Kampagne verbreitet die Vorstellung von »doppelten Standards«, indem die westliche Verurteilung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine der angeblich allseitigen Gutheißung der israelischen Bodenoperation gegen die Hamas gegenübergestellt wird. Sie stachelt verschwörungstheoretische Fantasien an, indem behauptet wird, hinter sämtlichen militärischen Konfrontationen stünden »Strippenzieher aus den USA«, die Putin als »Wurzel des Bösen« bezeichnet; er verglich das Land mit einer »Spinne«, die »mit ihrem Netz die ganze Welt umgarnen will«. Dieses schaurige Bild ist übrigens jenen, die die antisemitische Propaganda der Nazis und die sowjetische antizionistische Propaganda erforschen, sehr wohl bekannt. Durch die Dimensionen dieser Kampagne, die über Nutzer:innen der sozialen Netzwerke eine Lawine emotional geladener Inhalte ausschüttet (die zu einem guten Teil durch künstliche Intelligenz generiert oder aber in anderen Kriegsgebieten wie etwa Syrien aufgenommen wurden), wird die globale öffentliche Meinung zusätzlich polarisiert. Die Kampagne vergrößert das Misstrauen gegenüber jedweder Medienberichterstattung zum Krieg in der Ukraine wie auch zum Vorgehen der israelischen Streitkräfte.

Die jetzige Zunahme des Antisemitismus in Russland fügt sich allerdings nicht einfach nur in eine weltweite Tendenz, die durch die aktuelle Eskalation im Nahen Osten angefacht wird. Um die Dynamik der Rückkehr des Antisemitismus in den öffentlichen Raum besser verstehen zu können, müssen wir uns dem innerrussischen Kontext zuwenden.

Die wichtigste verschwörungstheoretische Fantasie

Für all jene, die den aktuellen Ausbruch des Antisemitismus in Russland verfolgen, waren die Unruhen in Dagestan ein Anzeichen für eine sehr beunruhigende Tendenz. Seit Beginn des groß angelegten russischen Einmarsches in die Ukraine haben sich Putin, seine engsten Vertrauten und die führenden Propagandist:innen eine ganze Reihe antisemitischer Äußerungen erlaubt. In vielen dieser Statements tritt die Besessenheit der russischen Führung mit der jüdischen Herkunft Wolodymyr Selenskyjs zutage. Diese hatte für das Narrativ von einer »Entnazifizierung« der Ukraine seit langem ein unangenehmes Problem darstellt. Das ist jedoch nicht alles.

Putin gebiert sich seit langem als eine Art »Befreier-Zar« [eine ironische Anspielung der Autorin auf den russischen Zaren Alexander II. – Anm. d. Red.], der von den Höhen seines personifizierten autoritären Regimes über seine Machtvertikale der Bevölkerung Signale darüber sendet, was möglich ist und was nicht – und der sich dabei nun von früheren Tabus verabschiedet. Zu diesen zuvor selten verletzten Tabus hatten öffentlich geäußerte Manifestierungen von Antisemitismus gehört, was Putin die Reputation eines Menschen eingebracht hatte, der mit jüdischen Menschen mitfühlt, ja sogar dem Judentum wohlgesinnt sei. Offiziell verurteilt der Kreml Fremdenfeindlichkeit, wobei dieser zwischen einem nicht hinnehmbaren isolationistischen ethnischen Nationalismus und einem weitergefassten russischen imperialen Nationalismus unterscheidet. Letzterer ist insbesondere nach 2014 zur Leitlinie des Putinismus geworden. Heute spielt es allerdings überhaupt keine Rolle mehr, ob Wladimir Putin persönlich antisemitische Vorurteile hegt oder nicht. Angemerkt sei nur, dass sein Antisemitismus keine Überraschung darstellte, da Putin wie viele aus seiner Umgebung – von Außenminister Sergej Lawrow über Sergej Tschemesow (Chef des Rüstungskonzerns Rostec) und Nikolai Patruschew (Sekretär des russischen Sicherheitsrats) bis zu Wiktor Tscherkessow [er galt im FSB und später als Chef der Drogenbehörde als enger Vertrauter Putins, bis er 2007/2008 in Ungnade fiel, als er sich öffentlich über Konflikte in den Geheimdiensten gegen Ende von Putins zweiter Amtszeit ausließ, Anm. d. Red.] – beim KGB in Leningrad groß wurde. Das dortige Komitee für Staatssicherheit war seinerzeit berüchtigt für seinen tiefverwurzelten Antisemitismus.

Die Sache ist nämlich die, dass die persönlichen Überzeugungen Putins (falls es sie gibt) keinerlei Bedeutung haben: Wichtig ist nur, was er sagt und macht, weil das die Signale sind, auf die seine Propagandist:innen und hochrangigen Bürokrat:innen ungeduldig warten, damit sie diese dann über die Kanäle des Systems weiterverbreiten können. Die Logik des Regimes und jener Kräfte, die das Regime im Land und darüber hinaus freisetzte, machten die Rückkehr des Antisemitismus in die politische Rhetorik praktisch unausweichlich.

Allgemein wird davon ausgegangen, dass der Putinismus keinen in sich schlüssigen ideologischen Kern hat und sich erstaunlich leicht an verschiedene ideologische Herausforderungen anpasst. Seit Putins Münchener Rede von 2007 füllt sich das ideologische Vakuum im Herzen des Regimes allerdings zunehmend mit einem manichäischen, verschwörungstheoretischen Denken nach dem Motto »wir gegen die anderen«. Das infiziert das Bewusstsein der Bevölkerung und kommt auf vielfältige Weise in massenhafter Corona-Dissidenz, einer Selbstwahrnehmung als »belagerte Festung« und jetzt auch in einer umfassenden Leugnung der russischen Untaten in der Ukraine zum Ausdruck. Antisemitismus ist hier gewissermaßen die wichtigste oberste verschwörungstheoretische Fantasie, die ein weitgefächertes Repertoire austauschbarer Feinde bereithält, für die jedes Mal das Codewort »Jude« eingesetzt werden kann.

Die aktuellen antisemitischen Narrative in Russland müssen nicht unbedingt folgerichtig und logisch sein, um zu überzeugen. Sie verpflanzen lediglich ins Bewusstsein der Bevölkerung diverse Schreckgespenster – »Kulte« und »Sekten«, »Satanisten«, »liberale Verräter«, »fünfte Kolonne«, »westliche globalistische Eliten«, »Russophobe« – die dann diskursiv mit dem Judentum verknüpft werden. Und sie keimen prächtig auf dem wohlgedüngten Boden der kulturellen Erinnerung an die antisemitischen und antiwestlichen Kampagnen der Sowjetzeit. In der heutigen Situation besteht das Neue darin, dass es einen Übergang von einem latenten Antisemitismus zu kaum verhüllten oder offenen antisemitischen Anspielungen gibt, die vollauf schamlos aus Putins Umgebung und von ihm selbst zu hören sind; von Propagandist:innen, Diplomat:innen und Prominenten. Und die niemanden mehr peinlich berühren.

»Teuflische Saat«

In dem Leitfaden für Soldatenvon 2022, der vom russischen Verteidigungsministerium zur Veröffentlichung freigegeben wurde, werden den mobilisierten Soldaten die Ziele des Krieges in der Ukraine erklärt: »Die gesamte Macht [in der Ukraine – ergänzt durch d. Autorin] ist in den Händen von Staatsangehörigen Israels, der USA, Großbritanniens konzentriert, die den Völkermord an der einheimischen Bevölkerung organisierten […]. Heute kämpfen wir – orthodoxe Christen und Muslime, Buddhisten und Schamanisten – geschlossen gegen den ukrainischen Nationalismus und den globalen Satanismus, der hinter ihnen steht.«

Diese Passage enthält Anklänge an einen Artikel aus dem Jahr 2019, den Putins damaliger Wirtschaftsberater Sergej Glasjew [Glasjew bekleidete die Funktion eines »Beraters«, sowjetniki, die im Vergleich zu den pomoschtschniki – für Wirtschaftsfragen ist derzeit Maxim Oreschkin verantwortlich – in der Präsidialverwaltung wenig Einfluss genießen, Anm. d. Red.] geschrieben hat und in dem dieser behauptete, die US-amerikanische Unterstützung für Selenskyj sei auf die »allgemeine Hinwendung der Trump-Administration in Richtung der extrem rechten Kräfte in Israel« zurückzuführen, die eine »massenhafte Umsiedlung von Bewohnern des Gelobten Landes [organisieren wollen], die des permanenten Krieges im Nahen Osten müde sind«, und zwar »in die von russischer Bevölkerung ‚gesäuberten‘ Gebiete im Süden und Osten der Ukraine«.

In dieser neuen Besessenheit in Bezug auf »Satanismus« hallt nicht nur die apokalyptische Rhetorik der Russischen Orthodoxen Kirche wider. Sie signalisiert das Erscheinen eines neuen Punktes auf der Liste der zahlreichen Übel, die Russland in der Ukraine bekämpft. Es ist ein neues Schreckgespenst, das im Diskurs in Umlauf gebracht wird, neben der Erwähnung jüdischer Menschen bzw. Israels und »Sekten«. Im Oktober 2022 rief Alexej Pawlow, Generalleutnant des FSB und Berater des Sekretärs des russischen Sicherheitsrates Patruschew, in einem Artikel für die Zeitung »Argumenty i fakty« zu einer »Entsatanisierung der Ukraine« auf. Letztere habe sich Pawlow zufolge in eine totalitäre Hypersekte verwandelt, die von Washington kontrolliert werde und Hunderten »neuheidnischer Kulte« Unterschlupf bietet. Unter diesen Kulten nannte Pawlow auch die chassidische Bewegung Chabad-Lubawitsch. Berl Lasar, der gewöhnlich dem Kreml gegenüber loyale Oberste Rabbiner Russlands (der Föderation jüdischer Gemeinden Russlands) empörte sich über den Artikel und warnte vor dem Anbruch »einer neuen Ära der Haltung Russlands gegenüber jüdischen Menschen« [Alexej Pawlow wurde am 20. Januar 2023 von Putin per Präsidialdekret von seinem Posten entlassen, Anm. d. Red.].

Diese neue Ära zeigte sich im Mai 2023 auch durch die Verhaftung von Jewgenija Berkowitsch und Swetlana Petrijtschuk, die wegen des Theaterstücks »Finist – Heller Falke« der »Gutheißung von Terrorismus« beschuldigt wurden. Petrijtschuk hatte das Stück geschrieben und Berkowitsch hatte es 2021 inszeniert. Zur Analyse des Stückes zog die Staatsanwaltschaft ein Team von Pseudo-Expert:innen hinzu, unter anderem Roman Silantjew, den Erfinder der pseudo-wissenschaftlichen Disziplin »Destruktologie«, die sich mit »destruktiven Kulten und Extremismus« befasst. Silantjew erklärte seine Befürwortung einer Haft für Berkowitsch und Petrijtschuk folgendermaßen: »Es ist nicht hinnehmbar, insbesondere, wenn dafür Theaterpreise verliehen werden, wenn das beworben wird. Selbst wenn das, Verzeihung, Menschen jüdischer Nationalität tun. Ich beobachte nicht zum ersten Mal, dass Juden sich aktiv für Wahhabiten [dt. auch »Salafisten«, gemeint sind hier wohl »islamistische Terroristen«, Anm. d. Red.] einsetzen, ich habe den Eindruck zum Schaden der Russen«.

»Liberale Verräter«

Das Verfahren gegen Berkowitsch aktualisiert einen weiteren wirkmächtigen Sinnkomplex: »Liberale« gelten automatisch als »Juden« und »fünfte Kolonne« feiger Verräter, die aus dem Land fliehen und den Krieg nicht unterstützen. Berkowitsch mit ihrer eindeutigen Antikriegs-Haltung passt perfekt zu dieser Definition, wie das Portal »Life.ru« umgehend verbreitete, obwohl sie in Russland geblieben war. Diese Vorstellung ist über Jahre hinweg durch eine Reihe Skandale und persönlicher Ausfälle geprägt worden. Erinnert sei hier nur an Sachar Prilepins »Brief an den Genossen Stalin« von 2012 oder das Bedauern der Journalistin Uljana Skobejda, dass »die Nazis die Vorfahren der heutigen Liberalen nicht zu Lampenschirmen verarbeitet haben« (2013). Ausfälle dieser Art hatten in der Presse keinerlei Folgen für die Urheber; es war eher so, dass der dubiose Ruhm ihren Karrieren zuträglich war.

Im Frühjahr 2014 tauchte an der Fassade des zentralen »Haus des Buches« in Moskau (offensichtlich mit Genehmigung der Behörden) ein riesiges Banner auf: Neben den Worten »Fünfte Kolonne: Fremde unter uns« waren Bilder von Alexej Nawalnyj, Andrej Makarjewitsch, Boris Nemzow und anderen Oppositionellen zu sehen, die die Annexion der Krim verurteilt hatten. Zehn Monate später wurde Boris Nemzow, einer der »Verräter«, im Stadtzentrum von Moskau erschossen. Als Putin dessen Mutter sein Beileid aussprach, redete er sie plötzlich mit ihrem (erkennbar jüdischen) Geburtsnamen Ejdman an. Über Generationen hinweg haben jüdische Menschen in der Sowjetunion ihre Fertigkeit perfektioniert, unscheinbare Signale als Gefahr zu deuten, die »von oben« droht. Und wenn der Präsident öffentlich den »wahren« – d. h. jüdischen – Nachnamen einer Person nennt, wurde das unmissverständlich verstanden.

Putin hat unlängst öffentlich über den Mitbegründer von »Yandex«, Arkadij Wolosch, sowie über Anatolij Tschubajs hergezogen, die beide jetzt in Israel leben. Putin beschuldigte Wolosch der Undankbarkeit gegenüber Russland und meinte, dieser würde den Krieg gegen die Ukraine nur deshalb öffentlich verurteilen, um sich bei der israelischen Regierung lieb Kind zu machen. Tschubajs hingegen sei, Putin zufolge, »abgehauen« und »versteckt sich aus irgendeinem Grund, wobei er in die Illegalität abgewandert ist« und angeblich den Namen »Mosche Israiljewitsch« angenommen habe.

Die russischen Propagandist:innen, unter anderem Margarita Simonjan, die Macher von Z-Telegram-Kanälen sowie regimetreue Prominente, verhöhnen vehement die ausgewanderten Kriegsgegner:innen, insbesondere jene, die sich in Israel niedergelassen haben. Ganz nach dem Motto: Ihr wollt nicht in dem Land leben, das jetzt im Krieg steht und seid doch in ein Land gezogen, das ständig Krieg führt – »typische Doppelmoral«. In einem Interview mit Wjatscheslaw Manutscharow, das viral ging, nannte die Schauspielerin Walentina Talysina das »wahre«, jüdische Patronym von Alla Pugatschowa. Die Sängerin hatte sich öffentlich vor ihren Mann (und »ausländischen Agenten«) Maxim Galkin gestellt. Das Gleiche widerfuhr der langjährigen Regimekritikerin Lija Achedschakowa.

»Russophobie ist der neue Antisemitismus«

Die russische Propaganda nutzt allerdings auch selbst Antisemitismusvorwürfe und hält Nachbarländern eine historische Verantwortung für den Holocaust vor, um die eigene militärische Aggression gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Bei dieser Logik sind immer die anderen die »Nazis«, Antisemit:innen und »Aggressor:innen«, während Russland stets die Rolle des größten Opfers beansprucht. Das wird in der verbreiteten Phrase »Die Russen sind die neuen Juden« deutlich. Jede Kritik am Vorgehen Russlands wird als Zeichen von »Russophobie« gewertet, die wiederum mit Antisemitismus gleichgesetzt wird. 2017 verglich Putin Fragen der NBC-Journalistin Megyn Kelly zu einer möglichen Einmischung Russlands in die Präsidentschaftswahlen 2016 mit Antisemitismus. »Das kommt mir überhaupt wie Antisemitismus vor: An allem sind die Juden schuld. Verstehen Sie, [man ist] selbst ein Armleuchter, kriegt nichts auf die Reihe, aber die Juden sind schuld.« Im März 2022 verglich er erneut die Sanktionen des Westens gegen Russland mit der Verfolgung jüdischer Menschen durch die Nazis: »Bei dem Versuch, Russland ‚zu canceln‘ hat der Westen alle Masken des Anstands heruntergerissen, begann sich rüpelhaft zu benehmen und zeigte sein wahres Wesen. Da drängen sich ja direkt Analogien zu den antisemitischen Pogromen auf, die die Nazis in den 1930er-Jahren in Deutschland veranstalteten, und anschließend ihre Nacheiferer in vielen europäischen Ländern«. Seit Mai 2022 diskutierten Abgeordnete der Staatsduma die Möglichkeit, »Russophobie« strafrechtlich zu verfolgen, wobei »Russophobie« als »Nazismus oder Antisemitismus des 21. Jahrhunderts« bezeichnet wurde. Putins Äußerungen vom März und diese Duma-Initiativen griffen im Grunde die These von Alexander Brod auf, einem Mitglied des Rates zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte beim Präsidenten der Russischen Föderation. Brod, der sich selbst als Jude identifiziert, hatte die »Spirale der Russophobie im Westen« mit der Verfolgung jüdischer Menschen in Hitler-Deutschland verglichen. Dass derartige Vorstellungen von jemandem geäußert werden, der sich professionell mit der Entwicklung der jüdischen Kultur befasst (Brod war 2023 Träger des von der Föderation jüdischer Gemeinden Russlands vergebenen Preises »Für Verdienste um die Entwicklung des jüdischen Lebens in Russland«) ist ein alarmierendes Signal. Und es erinnert an die sowjetische Praxis, bekannte jüdische Wissenschaftler:innen und Kulturschaffende zur Propagandaarbeit des »Antizionistischen Komitees der sowjetischen Öffentlichkeit« [russ. Abk.: AKSO] einzuspannen.

Die Vergleiche von »Russophobie« mit Antisemitismus waren ganz nach dem Geschmack der russischen Gesellschaft, und zwar sowohl des gegen den Krieg eingestellten Teils wie auch des regierungstreuen: Zu stark ist die Bereitschaft, sich als Opfer des Krieges und der Sanktionen wahrzunehmen. Die Band »Leningrad« hat den Song »Kein Zutritt!« aufgenommen, in dem ein »Genozid« verurteilt wird, den die Europäer angeblich »so peu à peu aufführen«: »Ja, der Russe ist jetzt wie ein Jude in Berlin / anno neunzehnhundertvierzig«, »Der Russe ist für euch der neue Drecksjude, / als sollten wir alle im Ofen verbrannt werden«. Die Diskussionen in den sozialen Netzwerken über die EU-Einreisebeschränkungen für russische Staatsangehörige waren ebenfalls voller Vergleiche zwischen Russ:innen, für die es jetzt schwierig ist, ein Schengen-Visum zu bekommen, und den jüdischen Menschen, die 1939 an Bord des Dampfers »St. Louis« aus Nazi-Deutschland zu fliehen versuchten. Die Teilnehmer:innen an diesen Diskussionen arbeiteten mit den vom Kreml verbreiteten propagandistischen Klischees, bei denen Polen und den baltischen Staaten die Legitimität abgesprochen wird, Befürchtungen hinsichtlich ihrer nationalen Sicherheit zu haben. Ebenso wird die Legitimität ihrer historischen Erinnerung infrage gestellt. Und sie werden an Kollaboration in der Kriegszeit erinnert und an eine Beteiligung an der Vernichtung jüdischer Menschen vor Ort.

Jüdische Menschen in Russland sind pessimistisch

Das Repertoire der antijüdischen Anschuldigungen, die in den russischen Medien und in der politischen Rhetorik kursieren, ist sehr viel breiter gefächert, als in diesem Beitrag beschrieben werden kann. Zu nennen wären die berüchtigten »jüdischen Strippenzieher«, also die wahren Organisator:innen des Majdan und des Krieges gegen die Ukraine. Oder die angeblich bestehenden Verbindungen Selenskyjs zu internationalen »jüdischen Kreisen«, über die er sich dann Unterstützung für die Ukraine sicherte, usw. Die Frequenz, mit der jüdische Menschen, Israel und diverse Aspekte des jüdischen Lebens (in erster Linie der Holocaust) in den vergangenen zwei Jahren von hochrangigen Vertreter:innen des Staates, von Kunstschaffenden und Propagandist:innen erwähnt werden, sorgt erwartungsgemäß für eine zunehmende Unruhe unter den im Lande verbliebenden jüdischen Menschen.

Im Sommer 2022 hat der Soziologe [des Lewada-Zentrums, Anm. d. Red.] Alexej Lewinson eine Studie mit Fokus-Gruppen aus Angehörigen der jüdischen Bevölkerung einiger russischer Städte veröffentlicht. 2020 hatten Respondent:innen einer ähnlichen Studie des Lewada-Zentrums noch behauptet, dass es in Russland praktisch keinen Antisemitismus gebe. Die aktuellen Ergebnisse der Fokus-Gruppen machten jedoch deutlich, dass allgemein eine Zunahme von Antisemitismus zu erwarten ist, ganz wie die Angst vor einer möglichen Rückkehr sowjetischer antisemitischer Praktiken und Politik. Diese Angst ist verständlich, bedenkt man das Abgleiten ins Sowjetische – stilistisch, rhetorisch und vom Wesen her –, das in der russischen Innen- und Außenpolitik zu beobachten ist. Der Staat, der in Gestalt des Präsidenten immer noch als entscheidender Einflussfaktor wahrgenommen wird, ist in der Lage, Feindseligkeit in der Gesellschaft gegen bestimmte Minderheiten anzustacheln oder zu unterdrücken. Die Schließung der russischen Sparte der jüdischen Organisation »Sochnut« im Jahr 2022, die auf Druck der Regierung erfolgte Ausreise von Pinchas Goldschmidt, des obersten Moskauer Rabbiners (der sich geweigert hatte, den Einmarsch in die Ukraine zu unterstützen und jüdischen Menschen in Russland die Emigration empfohlen hatte) sowie die Dämonisierung Israels und die öffentlichen antisemitischen Anspielungen im Fernsehen, all das sind Signale, die von jüdischen Menschen in Russland eindeutig wahrgenommen werden.

Die Rückkehr des Antisemitismus in den öffentlichen Raum ist ein markantes Symptom für die Zersetzung des politischen Systems wie auch der Normen, die für einen Zusammenhalt der Gesellschaft sorgen und die seit dem 24. Februar 2022 immer stärker aus den Fugen geraten. Der Ausbruch des Antisemitismus in den letzten Jahren von Stalins Herrschaft hatte die isolationistische Paranoia der Gesellschaft widergespiegelt, wie auch die Suche des Regimes nach neuen Feinden. Die jetzige Renaissance des Antisemitismus steht für die Krankheitserreger, die die moralische Zersetzung der sozialen und politischen Institutionen in Russland mit verursachen. Sie ist auch Symptom des allgegenwärtigen verschwörungstheoretischen Denkens.

Antisemitismus ist keine in sich geschlossene und innerlich von Widersprüchen freie »Ideologie«, sondern eher ein Zustand des Bewusstseins, des Verstandes. Er ist eine Art »pathogene Mikroflora«, um es mit den trefflichen Worten des Ethnografen Walerij Dymschiz zu beschreiben. Eine Bakterie, die jahrelang schlummern kann, jedoch im Falle einer Schwächung des Wirtsorganismus aufgrund einer Krise pathogene Wirkung hat: Dann vermehrt sich die Bakterie mit unglaublicher Geschwindigkeit. Heute wird durch den internationalen Kontext – Israels Krieg gegen die Hamas, Russlands Krieg gegen die Ukraine – wie auch interne Faktoren, die sich aus der Natur des Putin-Regimes ergeben (Isolationismus, verschwörungstheoretisches Denken, eine Hexenjagd, die immer mehr Fahrt aufnimmt) eine pathogene Umgebung erzeugt, in der einst schlummernde Phobien aufleben und in der politischen Rhetorik in den Vordergrund rücken. Noch ist unklar, ob diese Phobien nur rein rhetorischer Natur bleiben oder in aktiver Diskriminierung münden werden.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Dieser Text ist zuerst am 12. Januar 2024 beim Online-Portal Riddle Russia erschienen. Die Redaktion der Russland-Analysen bedankt sich bei Riddle Russia für die Erlaubnis, die Übersetzung abdrucken zu dürfen. Das Original ist in englischer Sprache abrufbar unter: https://ridl.io/russian-anti-semitism-long-time-no-see/

Lesetipps / Bibliographie

  • Poluektova-Krimer, Ksenia. 2024. The Strange Case of Russian Anti-Semitism, in: Šrāders, Sandis und George Spencer Terry (Hrsg.): The Paradox Of Power: Ukraine’s Struggle, Russia’s Dilemmas and Global Consequences. The Conference on Russia Papers 2024, University of Tartu Press, S. 77 – 91, frei abrufbar unter: https://www.baltdefcol.org/files/images/cache/publications/Rusconf_24_veeb.pdf.

Zum Weiterlesen

Analyse

Eine neue Phase der russisch-israelischen Beziehungen nach dem 7. Oktober 2023

Von Lidia Averbukh
Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 nahm Russland eine israelkritische Haltung ein. Damit wurde eine neue Phase der russisch-israelischen Beziehungen eingeläutet. Weder Putins persönliche Sympathien gegenüber Israel, die in den 2000er Jahren die Beziehungen prägten, noch die israelische Neutralität im russischen Krieg in der Ukraine, die den Bemühungen westlicher Verbündeter zuwiderlief, konnten den Bruch verhindern. Russland ordnete den Krieg im Nahen Osten der übergreifenden außenpolitischen Logik unter, die den Westen und die USA dafür verantwortlich macht. (…)
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS