Einleitung der Gastherausgeberin

Von Caroline von Gall (Goethe-Universität Frankfurt)

Am Sonntag, dem 17. März 2024, endete die Scheinwahl, auf die der russische Machthaber Wladimir Putin eine weitere, für ihn dritte Amtszeit in Folge stützt, die ihn bis in das Jahr 2030 zum Präsidenten machen soll. Nach der vor gut 30 Jahren am 12. Dezember 1993 in Kraft getretenen Verfassung steht ihm keine weitere Amtszeit zu. Auch wenn die maßgeblich von Präsident Jelzin verantwortete, erste postsowjetische russische Verfassung aus dem Jahr 1993 dem Präsidenten weite Kompetenzen zusprach, hatte die Verfassung die Macht zumindest in Bezug auf die Dauer der Machtausübung beschränkt. Sie gewährte dem Präsidenten nur zwei Amtszeiten in Folge. Wladimir Putin hat dieser letzten verfassungsrechtlichen Beschränkung seiner Macht mit der rechtswidrigen Verfassungsreform im Jahr 2020 ein Ende gesetzt. Zwar wurde »in Folge« im Zuge der Verfassungsreform aus dem Text gelöscht, Putin aber gewährte sich und Dmitrij Medwedjew eine Ausnahme, die Putin nun zwei weitere Amtszeiten von jeweils sechs Jahren ermöglichen soll. Während die Verfassung weiterhin formal in den ersten beiden Kapiteln an den zentralen Prinzipien der Demokratie festhält, ist die Macht des Präsidenten nach den konkreten Kompetenznormen im geänderten Verfassungstext seit 2020 verfassungsrechtlich unbeschränkt. Die sogenannte Verfassungsreform gibt der Machtusurpation einen legalistischen Anstrich. Gleichzeitig verstößt die Reform gegen zentrale verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Prinzipien. Gerade wenn eine Verfassung eine starke präsidentielle Macht vorsieht, fordert das Demokratieprinzip die Begrenzung der Amtszeiten, kritisiert etwa die Venedig-Kommission des Europarats. Auch deshalb halten die Parlamentarische Versammlung des Europarats und zahlreiche Beobachter:innen die Wahlen heute für illegitim.

Wie konnte es dazu kommen, warum konnte die liberale demokratische Verfassung den Aufstieg Wladimir Putins zur Macht nicht verhindern? Warum griff das Verfassungsgericht nicht ein? Warum segnete es die Verfassungsreform trotz ihrer zahlreichen Mängel sogar noch ab?

30 Jahre später blickt Vladimir Gelman in seinem Beitrag noch einmal auf die Verfassungskrise des Jahres 1993 und zeichnet ein düsteres Bild von der Entstehung der russischen Verfassung, die damals aufgrund der deutlichen Abkehr vom sowjetischen System gerade auch im Westen von großen Hoffnungen begleitet war. Gelman erinnert daran, dass die Verfassung Ergebnis eines gewalttätigen Machtkampfes zwischen Jelzin und dem Volksdeputiertenkongress war. Nach der damals geltenden Verfassung war der Volksdeputierenkongress für die Verfassungsreform zuständig, was Jelzin zu verhindern wusste. Gelman wirft Jelzin vor, bereits zu diesem Zeitpunkt mit der gewaltsamen Lösung des Konflikts den Weg in das Gewalt-Regime Putins vorgezeichnet zu haben. Die Gewaltanwendung sei einer der Gründe dafür gewesen, dass Jelzin die Macht an Putin übergeben habe, der ihm Straffreiheit garantierte. Nach der Devise »the winner takes it all« habe sich Jelzin 1993 als Präsident in der Verfassung mit übermäßiger Macht ausgestattet. Ähnlich argumentiert auch William Partlett: Die Verfassung stütze sich auf zwei Säulen: die zentralisierte Macht mit dem Präsidenten an der Spitze sowie die Menschenrechte, die demokratische Gewaltenteilung sei aber vernachlässigt worden. Insbesondere rügt er die schwache Stellung des Parlaments. Marianna Muravyeva zeigt in ihrer Analyse, dass allerdings auch die Menschenrechte der Frauen von Anfang an zu schwach ausgeprägt waren.

Gelman und Partletts ähnliche Thesen, wonach die Machtfülle Jelzins in die Diktatur Putins geführt habe, kann nur teilweise überzeugen. Beide Autoren vernachlässigen, dass die Verfassung von 1993 auf revolutionäre Weise eine zweite Ebene der Machtbeschränkung einbaut: den völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz und das Recht der Bürger:innen, auch internationale Gerichte anzurufen. Dies hat für die ersten Jahre, jedenfalls bis 2012, einen erheblichen Effekt, wie Bill Bowring in Erinnerung ruft. Außerdem enthielt die Verfassung von 1993 mit dem Föderalismus und der kommunalen Selbstverwaltung zusätzliche Elemente der Gewaltenteilung. Letztlich zeigt der Rechtsvergleich, dass andere Verfassungen mit einem starken Präsidenten nicht automatisch in die Diktatur und den genozidalen Krieg führen. Texte können unterschiedlich ausgelegt werden. Eine Auslegung im Sinne der Gewaltenteilung hätte textliche Mängel durchaus überwinden können.

Doch dafür fehlte es an einem unabhängigen und respektierten Verfassungsgericht. Denn der Machtkampf zwischen Jelzin und dem Volksdeputiertenkongress führte dazu, dass das Verfassungsgericht in den Strudel der Macht geriet. Nach einer Stellungnahme gegen Jelzin wurde es im Herbst 1993 suspendiert und hatte in der Folge mit einem deutlichen Autoritätsverlust zu kämpfen. Sicherlich auch um einer erneuten Suspendierung zu entgehen, entschied sich das Verfassungsgericht nun zur Loyalität gegenüber den Präsidenten Jelzin und später Putin. In den für das Regime zentralen Fragen entschied es sich, nicht mehr aufzubegehren und ebnete mit absurden Auslegungen der Kompetenzen des Präsidenten und des Föderalismusprinzips den Aufstieg Putins, wie Olga Podoplelowa nachzeichnet. Im Gegenzug konnte es jedenfalls bis zu Beginn der dritten Amtszeit Putins im Jahr 2012 in den für das Regime weniger entscheidenden Fragen, auch unter Heranziehung der Europäische Menschenrechtskonvention, die Hoffnungen auf den Verfassungsstaat in beschränktem Maße lebendig halten. Doch spätestens ab den 2010er Jahren setzte sich, mit tatkräftiger Unterstützung des Verfassungsgerichts, ein autoritäres, in vielen Aspekten sowjetisches Verständnis von der Verfassung als Machtinstrument durch. Dmitry Dubrovksiy zeigt am Beispiel der Menschenrechte in der juristischen Ausbildung an Hochschulen, wie Ideen und Konzepte des sowjetischen Verständnisses von Menschenrechten unter Putin wieder erstarkten.

Die gewaltsame Lösung des Verfassungskonflikts 1993 und die vom Verfassungsgericht und anderen politischen Institutionen mitgetragene graduelle Autokratisierung bilden somit ein schweres Erbe, sollten sich in der Zukunft noch einmal die politischen Voraussetzungen ändern und der russische Staat auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit setzen.

Doch die Phase der relativen Öffnung und Freiheit der 1990er und 2000er Jahre und die Mitgliedschaft im Europarat haben ebenfalls Spuren hinterlassen. Es hat sich eine sehr gut ausgebildete und kompetente Anwaltschaft herausgebildet, die selbst heute noch die von Repressionen betroffene Bevölkerung verteidigt und vor Gericht die Staatsmacht herausfordert. Die Anwaltschaft tut dies mit beeindruckendem Mut, Integrität, Sachverstand und mit einer nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten exzellenten Verteidigung, wenn diese auch vor Gericht meist erfolglos bleibt. Sollte diese jüngere Generation der Menschenrechtsanwält:innen Posten in den Gerichten und Institutionen in Russland nach einem Regimewechsel übernehmen, dann könnte in der Zukunft Vieles gelingen. Aber dazu müssten die politischen Voraussetzungen geschaffen werden, was derzeit kaum denkbar erscheint.

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