Wie der Gewalt der Weg geebnet wurde. Die Verfassungskrise von 1993 und Russlands politischer Entwicklungspfad

Von Vladimir Gelman (Aleksanteri Institute, Universität Helsinki)

Zusammenfassung
Die Verfassungskrise von 1993 war einer der wichtigsten Wendepunkte in der gescheiterten Demokratisierung Russlands und der anschließenden Hinwendung des Landes zu einem personalistischen autoritären Regime. Die russischen Eliten gaben marktwirtschaftlichen Reformen den Vorrang und opferten die weitere Demokratisierung des Landes, um den neuen politischen Status quo zu erhalten. Dies war ein wichtiger Auslöser des Konflikts vom Oktober 1993. Die neue russische Verfassung reduzierte die institutionelle Beschränkung der Macht des Präsidenten drastisch und ebnete damit den Weg zur Etablierung eines autoritären Regimes.

Ein Schlüsselereignis

Am 21. September 1993 löste Präsident Boris Jelzin das russische Parlament auf und setzte Neuwahlen an. Dieser Schritt war eine offene und unverhohlene Verletzung der russischen Verfassung. So war es keine Überraschung, dass das Parlament für eine Absetzung Jelzins stimmte und Vizepräsident Alexander Ruzkoj zum geschäftsführenden Präsidenten ernannte. Einige Parteien und Politiker:innen wie auch Gouverneur:innen schlugen eine Rückkehr zum Status quo ante vor, wobei vorgezogene Präsidentschafts- und Parlamentswahlen anberaumt werden sollten. Diese Verhandlungen endeten jedoch abrupt am 3. Oktober 1993, als Unterstützer:innen des Parlaments in Moskau Unruhen anzettelten und einen großen Fernsehsender angriffen. Am folgenden Tag beschossen Truppen mit Panzern das Parlament. Mehrere Oppositionelle, unter anderem Ruzkoj, wurden verhaftet. Das war eine Nullsummenlösung für einen Konflikt innerhalb der Eliten zwischen der von Jelzin geführten Exekutive und der Legislative. Da Jelzin seine Rivalen nachhaltig ausgeschaltet hatte, wurde die Idee einer Verantwortlichkeit der Exekutive gegenüber der Legislative fallengelassen, ganz wie die von checks and balances im Sinne der Gewaltenteilung. Jelzin nutzte seinen Sieg in diesem Institutionenkonflikt, um die Macht des Präsidenten maximal auszuweiten: Die neuen Spielregeln für den politischen Betrieb in Russland wurden in der Verfassung verankert, die per Volksabstimmung am 12. Dezember 1993 angenommen wurde, am Tag der Neuwahl des Parlaments.

Diese Geschehnisse waren ein Schlüsselereignis auf dem Weg zu dem personalistischen autoritären Regime, das in den 2000er und 2010er Jahren im Entstehen begriffen war und sich konsolidierte. Expert:innen konzentrieren sich zwar zumeist auf die jüngsten Entwicklungen des autoritären Regimes und neigen dazu, die Ära von Jelzins anscheinend demokratischer Herrschaft der Autokratisierung unter Putin gegenüberzustellen. Eine tiefergehende Analyse von Russlands politischem Entwicklungspfad erfordert jedoch eine Untersuchung der Gründe und Auswirkungen des Konflikts von 1993 und deren Folgen für das politische System.

Demokratisierung wird geopfert

Claus Offe hat festgestellt, dass die Komplexität der postkommunistischen Veränderungen in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion die Notwendigkeit einer gleichzeitigen Transformation des politischen Regimes, des Wirtschaftssystems sowie eine Staaten- und Nationenbildung beinhaltet. Offe argumentierte, das von ihm postulierte »Dilemma der Gleichzeitigkeit« habe eine paradoxe Lösung: Nur das gleichzeitige Streben nach Demokratisierung, Wirtschaftsreformen und einem Aufbau von Staat und Nation sei für die postkommunistischen Ländern erfolgsversprechend, während schrittweise Veränderungen die zahlreichen Krisen nur verschärfen könnten. Anders als die meisten osteuropäischen Länder gab die russische Führung marktwirtschaftlichen Reformen den Vorrang vor einer Demokratisierung. Die wirtschaftlichen Veränderungen bedeuteten allerdings eine überaus hohe Inflation und eine tiefgreifende und anhaltende Rezession, während die Demokratisierung in den 1990er Jahren beschnitten und in den 2000er Jahren aufgegebenwurde. Im Ergebnis waren die russischen Wirtschaftsreformen in sich wenig stimmig und hatten sogar negative Folgen für die Demokratisierung.

Der wichtigste kritische Wendepunkt im postsowjetischen Russland trat im Oktober 1991 ein. Die politische Führung Russlands, die nach dem August 1991 an der Macht war, stand vor der Wahl zwischen alternativen Pfaden, die das Land bei den politischen und wirtschaftlichen Reformen einschlagen könnte. Das russische Parlament weigerte sich, den Entwurf für eine neue Verfassung zu diskutieren, den eine von Jelzin geführte Kommission vorgelegt hatte. Stattdessen stattete das Parlament Jelzin mit außergewöhnlichen Vollmachten aus, wodurch er Präsidialdekrete erlassen konnte (die die gleiche rechtliche Kraft hatten wie von der Legislative verabschiedete Gesetze). Auch war er befugt, Mitglieder der Regierung zu ernennen oder zu entlassen ohne die Zustimmung des Parlaments einzuholen. Die marktwirtschaftlichen Reformen erlangten oberste Priorität, und Jelzin ernannte eine neue Regierung, die den Prozess der wirtschaftlichen Transformation anstoßen sollte. Politische Reformen hingegen, die eine Demokratisierung Russlands zum Ziel hatten, wurden, ohne mit der Wimper zu zucken, zu Gunsten marktwirtschaftlicher Reformen fallengelassen. Selbst damals war es höchst fraglich, ob sich diese Entscheidung als kostengünstig und vorteilhaft erweisen würden. Die tatsächlichen Folgen für die Entwicklung des politischen Regimes in Russland erwiesen sich als unumkehrbar.

Die Logik der strategischen Entscheidung vom Oktober 1991 ergab sich zu einem Großteil aus den Eigeninteressen und Erwartungen derjenigen, die Russland nun regierten. Während das Ziel der Maximierung der eigenen Macht bereits aufgrund des Endes der kommunistischen Herrschaft erreicht war, hatten die nun Regierenden wenig Interesse, ihre Macht durch Wahlen zu verlieren. Zudem war es ihre oberste Priorität, die unpopulären marktwirtschaftlichen Reformen voranzutreiben, und zwar ohne dabei von gesellschaftlichen Akteuren behelligt zu werden. Die Furcht vor massenhaftem Widerstand gegen die Wirtschaftsreformen war der Grund dafür, warum die Demokratisierung vernachlässigt wurde. Denn es war absehbar, dass die Transformation eine Rezession und damit ein unausweichliches Absinken des Lebensstandards nach sich ziehen würde. Die russische Führungsriege ging also davon aus, dass eine Demokratisierung höchstwahrscheinlich die Abwahl der Eliten zur Folge haben würde, die ja gerade erst an die Macht gelangt waren. Die Koalition um Jelzin hatte wenig Anreize und rationale Gründe, eine elektorale Demokratie auf den Weg zu bringen, denn Wahlen sind offensichtlich mit großen Risiken verbunden. Die Schaffung demokratischer Institutionen ist in Russland somit den marktwirtschaftlichen Reformen geopfert worden: Die Demokratisierung wurde 1991 aufgeschoben und verschwand dann insbesondere nach dem Konflikt von 1993 vollständig von der Agenda.

Legitimität versus Legalität

Die schmerzhaften und zähen Wirtschaftsreformen in Russland sind unter den Bedingungen einer gescheiterten Stabilisierung der Staatsfinanzen unternommen worden. Die Transformationsrezession in Russland erwies sich als viel tiefgreifender und langwieriger als in vielen osteuropäischen Ländern, und erst der finanzielle Zusammenbruch [im Jahr 1998, Anm. d. Red.] markierte das Ende dieses Prozesses. Das Scheitern brachte neue politische Herausforderungen mit sich. Als das Parlament Jelzin außerordentliche Vollmachten erteilte, jedoch keinerlei Gegenleistung in Form von politischem Einfluss erhielt, fühlte sich ein beträchtlicher Teil der Abgeordneten natürlich hintergangen. Das ist der Grund, warum einige der ehemaligen Unterstützer:innen Jelzins (unter anderem sein Vize Ruzkoj und Parlamentspräsident Chasbulatow) die Regierung heftig kritisierten, die das Parlament weitgehend ignoriert hatte. Jelzin konnte sich vor 1991 noch auf eine knappe Mehrheit im Parlament stützen, mit der Zeit schwand dieser Rückhalt jedoch dahin.

Jelzin hatte [in den Jahren 1991 und 1992, Anm. d. Red.] aber immer noch einen gewissen Bewegungsspielraum. Er hätte seine politischen Prioritäten revidieren können, sich auf politische Kompromisse einlassen, das radikale Streben nach Wirtschaftsreformen aufgeben und stattdessen eine große Regierungsumbildung vorschlagen, oder sich wieder den politischen Reformen zuwenden können, unter anderem der Frage einer neuen Verfassung und von Neuwahlen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte eine solche Lösung Russlands Weg zu einer finanziellen Stabilisierung zwar schmerzhafter und langwieriger gemacht, aber es hätte den großen Konflikt [im Jahr 1993, Anm. d. Red.] verhindert und zu einem Aufbau demokratischer Institutionen beigetragen. Dieser Weg wurde jedoch nicht eingeschlagen, weil dieser nicht im Interesse Jelzins und seines Lagers war. Anstelle eines Kompromisses wählte Jelzin eine andere Lösung: Er schob die Verantwortung für die Verwerfungen durch die Wirtschaftsreformen seinen politischen Rivalen zu.

Das Parlament war ein willkommenes Ziel für scharfe Kritik. Dessen vielzählige Beschlüsse und Stellungnahmen zeugten oft von Inkompetenz, befürworteten Inflation und trugen viel zu Russlands wirtschaftlichen Problemen bei. Die Abgeordneten waren allerdings nicht der hauptsächliche oder einzige Grund für diese Probleme, und die Auflösung des Parlaments 1993 tat der Wirtschaft nicht gut. Dennoch war Jelzins Strategie, dem Parlament die Schuld für die Inflation zuzuweisen, erfolgreich. Dadurch konnte er die zunehmende politische Polarisierung nutzen, um seine Macht auf Kosten seiner Opponent:innen maximal auszubauen.

Das Parlament verlor unterdessen die Geduld mit Jelzin, der seinen Rival:innen und deren politischen Vorschlägen wenig Beachtung schenkte. Immer mehr Abgeordnete wollten nun die außerordentlichen Vollmachten kassieren, die Jelzin erhalten hatte; um Jelzin daran zu hindern, unkontrolliert zu regieren. Die Machtressourcen zwischen Jelzin und dem Parlament waren asymmetrisch verteilt und unterschiedlicher Natur. Das Parlament stützte sein Vorgehen auf uneingeschränkte Legalität, gemäß der seinerzeit geltenden russischen Verfassung [aus dem Jahr 1978, die zu diesem Zeitpunkt schon so oft abgeändert worden war, dass ihr die Kohärenz fast völlig abgegangen war, Anm. d. Red.]. Es war berechtigt, per Abstimmung Gesetze in jedwedem rechtlichen Bereich zu verabschieden. Allerdings sank der Rückhalt des Parlaments in der breiten Bevölkerung drastisch: Forderungen von Abgeordneten fanden in der Öffentlichkeit wenig Zustimmung, und die Legitimität des Parlaments war zumindest zweifelhaft. Die Unterstützung für Jelzin war zwar auch zurückgegangen, doch wurde er von der Öffentlichkeit immer noch als legitime Führungsfigur wahrgenommen. Der Widerspruch zwischen Legitimität und Legalität hatte immense Auswirkungen auf den Ausgang des Konflikts.

Als Jelzin deutlich machte, dass er seine außerordentlichen Vollmachten nicht aufgeben werde, fehlten dem Parlament die Hebel, um ihn wirksam in die Schranken zu weisen. Es konnte lediglich verkünden, dass ihm das Vorgehen des Präsidenten missfiel. Nach dem erfolglosen Versuch einer Amtsenthebung Jelzins setzte das Parlament ein Referendum zu folgenden Punkten an: 1) Vertrauen in den Präsidenten; 2) Unterstützung für die Sozial- und Wirtschaftspolitik der Regierung; 3) Unterstützung für vorgezogene Präsidentschaftswahlen; 4) Unterstützung für vorgezogene Parlamentswahlen. Das Vorfeld des Referendums war von einer beispiellosen Dominanz des Jelzin-Lagers in den Medien gekennzeichnet [Das Referendum wird mit dem Slogan »Da, Da, Njet, Da« in Verbindung gebracht, also der Abstimmungsempfehlung des Präsidentenlagers bei den vier Fragen: »Ja, Ja, Nein, Ja«; Anm. d. Red.]. Letzten Endes errang Jelzin die Mehrheit der Stimmen. Die Ergebnisse des Referendums hatten allerdings keine rechtliche Kraft. Sie zeigten nur die Haltung der Gesellschaft gegenüber den beiden Konfliktparteien auf. Ein Plebiszit ist nur ein magerer Ersatz für Wahlen und konnte den anhaltenden Konflikt nicht lösen. Stattdessen fühlte sich Jelzin aufgrund der mangelnden Popularität seiner Rival:innen ermutigt, das Parlament zu dominieren. Ungeachtet der formalen Omnipotenz des Parlaments, die legal von der Verfassung gestützt war, blieb dessen Rückhalt in der Bevölkerung sehr schwach. Die russischen Bürger:innen waren somit vor eine binäre Wahl gestellt, und viele entschieden sich für Jelzin, der für sie das kleinere Übel darstellte.

Aus den Ergebnissen des [rechtlich nicht bindenden, Anm. d. Red.] Referendums ging hervor, dass eine neue Verfassung zu verabschieden und vorgezogene Parlamentswahlen anzusetzen seien. Der größte Streitpunkt zwischen Jelzin und dem Parlament betrafen die formalen Kompetenzen in den exekutiv-legislativen Beziehungen und die institutionelle Einhegung der Macht des Präsidenten hinsichtlich der Ernennung und Entlassung der Regierung. Es ging aber auch um das Nebeneinander des Präsidenten mit einer womöglich oppositionellen Legislative. Der Jelzinsche Verfassungsentwurf sah ein präsidentiell-parlamentarischen Regierungssystem vor, und zwar mit weitreichenden und kaum eingeschränkten Vollmachten des Präsidenten. Das Parlament hingegen schlug ein premier-präsidentielles Regierungssystem vor, in der die Regierung allein dem Parlament gegenüber verantwortlich wäre. Diese beiden Entwürfe waren miteinander unvereinbar.

Der Gegensatz zwischen der plebiszitären Legitimität Jelzins und der uneingeschränkten Legalität des Parlaments trug dazu bei, dass nicht nach alternativen Lösungswegen gesucht wurde, die ein Nullsummenspiel hätten vermeiden können. Die Idee, gleichzeitig vorgezogene Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abzuhalten, wurde von beiden Konfliktparteien abgelehnt. Erst nach der Auflösung des Parlaments durch Jelzin, als der Konflikt zu einer offenen Konfrontation wurde, kehrte diese Idee auf den Verhandlungstisch zurück, um eine gewaltsame Eskalation zu vermeiden. Dafür war es aber schon zu spät: Für Verhandlungen, die Waffengewalt noch hätten verhindern können, blieb schlicht keine Zeit mehr. Letzten Endes obsiegte die Legitimität, die Legalität scheiterte.

Verhängnisvolle Folgen

Nach dem Konflikt von 1993 hatte Jelzin freie Hand bei der Ausarbeitung der Verfassung: Sein Team gestaltete den vorgelegten Entwurf um und setzte ein Referendum an, bei dem über den neuen Verfassungstext abgestimmt werden sollte. Die neue Verfassung war darauf ausgerichtet, die Ergebnisse von Jelzins Sieg über das Parlament festzuschreiben: Die Befugnisse des Präsidenten wurden maximal ausgebaut, die Kontrollmöglichkeiten des Parlaments waren begrenzt. Das Parlament hatte keinerlei Rechte bei der Regierungsbildung oder Einfluss auf deren Politik. Der Präsident hingegen konnte das Unterhaus des Parlaments auflösen, wenn es sich nicht loyal zeigte. In der Verfassung gab es zwar eine lange Liste deklarierter Menschenrechte und Freiheiten, doch blieben diese größtenteils deklaratorisch, da das Dokument keine Mechanismen zu deren Umsetzung enthielt. Nur der Präsident als rechtlicher Garant der Verfassung [Art. 80 Abs. 2 der Verfassung, Anm. d. Red.] konnte – aufgrund seines Wohlwollens – diese Rechte und Freiheiten durchsetzen. Die neue Verfassungsdoktrin stützte sich auf die Annahme, dass der Präsident das Recht hatte, alles zu tun, was nicht direkt per Gesetz verboten ist. Die einzige rechtliche Beschränkung der präsidialen Macht bestand darin, dass niemand länger als zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten Präsident sein konnte.

Neben der Verfassungsgebung hatte der Konflikt von 1993 auch eine Reihe politischer Folgen. Er erschwerte den Abgang Jelzins von der politischen Bühne. Nach dem Einsatz von Gewalt gegen das Parlament drohte Jelzin Strafverfolgung: Dieser Punkt war eines der angeblichen Verbrechen, die im Parlament bei einer versuchten Amtsenthebung Jelzins im Mai 1999 – die erfolglos blieb – aufgelistet wurden. Auch bei den Präsidentschaftswahlen 1996 konnte Jelzin den Kreml trotz der schwachen Umfragewerte nicht verlassen, einfach weil er nicht die rechtliche Verantwortung für den Konflikt von 1993 tragen wollte. Im Grunde gab es 1996 nur die Wahl zwischen einem Sieg Jelzins bei einem unfairen Urnengang einerseits und einer Abschaffung von Wahlen andererseits. Jelzin hat sein Amt erst im Dezember 1999 aufgegeben, indem er die Macht an Wladimir Putin übergab, einen auserwählten loyalen Nachfolger, der Jelzin nach dessen Abdankung Straffreiheit garantierte. Auf die undemokratische Entscheidung im Jahr 1993 folgte in einer Kettenreaktion eine Reihe weiterer undemokratischer Entscheidungen, die 1996 und 1999 getroffen wurden.

Gleichzeitig wirkte sich der Konflikt von 1993 nur wenig auf die Wirtschaftsreformen aus: Deren Bedeutung trat mit der Zeit merklich in den Hintergrund. Und Jelzin hätte ohne die beträchtliche Beteiligung der Sicherheitsorgane, der Silowiki, seine Rival:innen in diesem Nullsummenspiel nicht besiegen können. Nach 1993 musste Jelzin seine Schuld gegenüber seinen wichtigsten Unterstützer:innen begleichen. Die Silowiki traten immer stärker auf den Plan und erhöhten ihren politischen Einfluss mit der Zeit dramatisch. Der Ausgang des Konflikts von 1993 säte die Saat des Autoritarismus als politisches Übel, die später unter Putin aufgehen sollte.

Der Konflikt selbst brachte also viele negative Folgen mit sich, die Beendigung der Konfrontation brachte aber wenig unmittelbaren Nutzen. Die gewaltsame Lösung des Konflikts wurde zu einer maßgeblichen Hürde für die Demokratisierung Russlands, Sie ebnete den Weg dafür, dass Gewalt ein probates Mittel zum Machterhalt wurde. Der Konflikt hat dazu beigetragen, dass die Macht des Präsidenten massiv ausgebaut und die wechselseitigen Kontrollmechanismen in der Verfassung abgeschwächt wurden. Das war also der Dünger, der die Saat der Autokratie aufgehen ließ. Die politische Ordnung, die nach 1993 in Russland errichtet wurde, hat in weiten Teilen den weiteren politischen Entwicklungspfad des Landes bestimmt, wie auch dessen Abgleiten hin zu einem personalistischen autoritären Regime.

Diese Publikation wurde in Zusammenarbeit mit der Deutschen Sacharow-Gesellschaft im Rahmen des Projektes »Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur« durchgeführt. Dieses Projekt wird vom Auswärtigen Amt im Rahmen des Förderprogramms »Ausbau der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Russland (ÖPR-Programm)« finanziert. Die Analyse erschien zuerst am 7. Februar 2024 in englischer Sprache auf dem Verfassungsblog (https://verfassungsblog.de/paving-the-way-for-violence/) und basiert auf einem Artikel, der vor Kurzem in der Zeitschrift »Russian History« erschienen ist.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

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Analyse

Vorerst gescheitert: »Pussy Riot« und der Rechtsstaat in Russland

Von Caroline von Gall
Die Bilder der »Pussy Riot«-Musikerinnen Nadeschda Tolokonnikowa, Jekaterina Samuzewitsch und Maria Alechina auf der Anklagebank im Moskauer Chamowniki-Gericht gingen um die Welt. Wie kein anderes Verfahren bestimmte der Prozess die politische Debatte in diesem Sommer und rief auch in Deutschland starken öffentlichen Protest hervor. Aus juristischer Perspektive zeigt das Verfahren dagegen nur exemplarisch die bekannten Mängel der russischen Strafjustiz: Die russische Verfassung und die Europäische Konvention für Menschenrechte (EMRK) sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) werden bei der Auslegung der relevanten Normen nicht beachtet. Die Auseinandersetzung mit den Tatbestandsvoraussetzungen bleibt in Anklage und Urteil an der Oberfläche. Wenn auch in diesem Fall eine politische Einflussnahme nicht nachgewiesen werden kann, fehlt es den politischen Eliten seit langem am erkennbaren Willen, die Strafjustiz zu professionalisieren, die Urteile des EGMR systematisch umzusetzen und die Unabhängigkeit der Justiz deutlich zu verbessern. (…)
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