Wie man den Drachen besiegt

Von Wladimir Kara-Mursa

Politische Veränderungen kommen in Russland immer unerwartet. Der zaristische Minister Wjatscheslaw von Plehwe, der sich vor 1904 so sehr für einen »kleinen siegreichen Krieg« eingesetzt hatte, ahnte nicht, dass dieser zu einer revolutionären Explosion führen und die Autokratie zwingen würde, eine Verfassung, ein Parlament und die Pressefreiheit zu akzeptieren. Lenin, der im Januar 1917 gegenüber den Schweizer Sozialdemokraten beklagte, dass »wir alten Männer die entscheidenden Schlachten dieser kommenden Revolution vielleicht nicht mehr erleben werden«, ahnte nicht, dass sie nur noch wenige Wochen entfernt war; und niemand rechnete im Sommer 1991 damit, dass noch am Ende desselben Jahres die Kommunistische Partei der Sowjetunion verboten und die Sowjetunion aufgelöst werden würde.

Auch beim nächsten Mal wird der Wandel auf die gleiche Weise kommen – abrupt und unerwartet. Niemand von uns kennt den genauen Zeitpunkt und die genauen Umstände, aber es kann nicht mehr lange dauern. Die Kette von Ereignissen, die zu diesem Wandel führen, wurde bereits in Gang gesetzt – durch das Regime selbst, im Februar 2022. Offen ist einzig, wann es so weit sein wird.

Und das bedeutet, wie Alexej Nawalny zu Recht feststellt, dass sich in Russland bald wieder ein »Fenster der Möglichkeiten« für einen staatlichen Neuanfang nach demokratischen Grundsätzen öffnen wird. Kein »Fenster der Garantien«, kein »Fenster fertiger Ergebnisse«, kein »Fenster einer strahlenden und glücklichen Zukunft«, sondern ein »Fenster der Möglichkeiten«, die wir richtig nutzen müssen – oder verspielen werden, wie wir es in den 1990er Jahren getan haben. Deshalb ist ein ernsthaftes, sinnvolles und öffentliches Gespräch über diese verpassten Gelegenheiten so wichtig, nicht als historische Reflexion, sondern um nicht wieder auf dieselbe Harke zu treten.

Kaum jemand wird bestreiten können, dass die Anführer des demokratischen Russland in den 1990er Jahren eine einzigartige historische Chance verpasst haben. Nur haben sie sie meiner Meinung nach lange vor den Ereignissen verpasst, die Alexej beschreibt: vor der Verfassung von 1993, den Privatisierungen Mitte der 1990er Jahre und den Präsidentschaftswahlen von 1996. Fenster der Möglichkeiten, die durch revolutionäre Umbrüche aufgehen, sind im Allgemeinen sehr klein und sie schließen sich schnell wieder. Die neue Regierung hat nur wenige Monate, bestenfalls ein Jahr Zeit, um mit der totalitären Vergangenheit entschieden zu brechen und keinen Rückschlag zuzulassen.

Genau diese Chance hat Jelzins Mannschaft in jenen entscheidenden Monaten 1991/92 vertan, als jeder Tag Gold wert war. Die Gesellschaft, die das Trauma einer brutalen Diktatur, massiver Unterdrückung im Inneren und aggressiver Kriege im Außen erlitten hatte, die jahrzehntelang unter den Bedingungen der totalen Lüge und der bewussten Verzerrung menschlicher Werte gelebt hatte, brauchte vor allem eine moralische Läuterung. Das ist der Weg, den in der jüngeren Geschichte in unterschiedlicher Form, aber mit demselben Kern, Länder wie Deutschland nach dem Nationalsozialismus, die lateinamerikanischen Staaten nach ihren Militärdiktaturen, die ehemaligen sozialistischen Länder Osteuropas oder Südafrika nach der Apartheid gegangen sind. Damit das Böse nicht zurückkommt, muss es erkannt, verurteilt und bestraft werden – öffentlich und unbedingt auf staatlicher Ebene. Damit sich weder die Ideologie, die dem früheren Regime zugrunde lag, noch die Strukturen und Personen, die seine repressive Politik umsetzten, nachteilig auf die junge Demokratie auswirken können, insbesondere in den ersten, wichtigsten Jahren ihrer Entstehung.

Dieser Weg einer echten Erneuerung stand 1991/92 auch Russland offen. Die Gesellschaft war bereit dafür. Die immer stärker werdende soziale Bewegung der späten 1980er und frühen 1990er Jahre und auch die Augustrevolution von 1991 basierten auf einem antitotalitären Pathos, auf der Ablehnung und Zurückweisung von Gewalt seitens der Kommunistischen Partei und ihrer »bewaffneten Truppen«. Es ist kein Zufall, dass unmittelbar nach dem Sieg über die Putschisten Massen von Moskauern auf den Lubjanka-Platz zogen, um das Dsershinski -Denkmal zu stürzen . Auch die Andropow-Gedenktafel an der Fassade des KGB-Hauptgebäudes wurde abmontiert. Und möglicherweise wären diese Gedenktafel und das Denkmal erst der Anfang gewesen: Die Menschen, die sich auf dem Platz versammelt hatten, waren bereit, weiter zu gehen und das Gebäude zu stürmen. Doch der Anführer der siegreichen Revolution – der russische Präsident Boris Jelzin – kam persönlich auf den Platz an der Lubjanka, um sie von diesem Vorhaben abzubringen. Seine Autorität war damals unbestritten, und die Menschen zerstreuten sich. Dies war das erste Alarmsignal.

Nur wenige Tage später sprach auf einer anderen Kundgebung beim Majakowski-Denkmal der Schriftsteller Wladimir Bukowski, ehemaliger politischer Häftling und Mitbegründer der demokratischen Bewegung der UdSSR, prophetische Worte: »Wir dürfen uns nicht täuschen, der Drache ist noch nicht tot. Er ist tödlich verletzt mit gebrochenem Rückgrat, aber in seinen Krallen hält er noch zahlreiche menschliche Seelen und Länder fest.« Das ganze darauffolgende Jahr versuchten Bukowski und ein paar der weitsichtigsten demokratischen Leitfiguren – darunter die Volksdeputierte und Beraterin von Präsident Jelzin Galina Starowoitowa –, die russische Regierung dazu zu bringen, »den Drachen zu erledigen«: die Archive der KPdSU und des KGB zu öffnen, die Unterlagen der Verbrechen des Sowjetregimes und seines Strafvollzugssystems zu veröffentlichen, diese Verbrechen auf staatlicher Ebene zu verurteilen und dafür zu sorgen, dass die Menschen, die diese Verbrechen begangen hatten, nicht Russlands Schicksal lenken dürfen. Nein, das wäre keine »Hexenjagd« gewesen, wie die verängstigten Parteibeamten schrien. »Die Aufgabe bestand ja nicht darin, eine Einteilung in Schuldige und weniger Schuldige vorzunehmen und die Schuldigen zu bestrafen, sondern eine allmähliche moralische Läuterung der Gesellschaft in Gang zu setzen«, schreibt Bukowski in seinem Buch Der Moskauer Prozess. »Dafür hätte man das System mit all seinen Verbrechen vor Gericht stellen müssen.« Zu einem »russischen Nürnberg« wollte Bukowski den 1992 vor dem Verfassungsgericht der Russischen Föderation stattfindenden KPdSU-Prozess machen, während dem erstmals einige (sehr wenige) Dokumente aus dem Archiv des Zentralkomitees vorgelegt wurden, die die Verbrechen des Sowjetregimes ans Licht holten. Im selben Jahr (1992) brachte Galina Starowoitowa vor dem Obersten Sowjet der Russischen Föderation einen Gesetzesentwurf zu Lustrationen ein, der für ehemalige Parteifunktionäre sowie für hauptamtliche, nebenamtliche und Mitarbeiter der Reserve des KGB ein auf fünf bis zehn Jahre begrenztes Berufsverbot in der Exekutive vorsah.

Wie wir wissen, wurde aus all dem nichts. Jelzin war zu einem endgültigen Bruch mit der sowjetischen Vergangenheit nicht bereit. Die westlichen Staatsoberhäupter setzten ihn unter Druck, die Moskauer Archive lieber geschlossen zu halten – aus Angst, sie könnten auch über sie viel Interessantes preisgeben. Der Oberste Sowjet sah sich Starowoitowas Gesetzesentwurf nicht einmal an; und das Verfassungsgericht verkündete einen halbherzigen Beschluss, der das Wichtigste außen vor ließ, nämlich die Tätigkeit der KPdSU als rechtswidrig zu bewerten (unter dem albernen Vorwand, sie existiere ja nicht mehr). Der Verfassungsrichter Anatoli Kononow kritisierte diese Vorgangsweise als »Justizverweigerung« und konstatierte, dass das dem Gericht vorliegende Material ausreichen würde, um »diese Organisation (die KPdSU) als kriminell einzustufen« – unter anderem auf Basis internationaler Regelwerke »über Genozid, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit«. Besonders hob der Richter die Rolle der »der KPdSU unterstellten Strafvollzugsorgane« in diesen Verbrechen hervor.

In Bezug auf diese »Organe« gab es jedoch keine offiziellen Schlussfolgerungen. Die Archive blieben größtenteils geschlossen. Der KGB kam mit ein paar kosmetischen Eingriffen davon, die nicht einmal Sanierung, sondern höchstens Fassadenauffrischung genannt werden können. Leute, die unmittelbar an den Repressionen mitgewirkt hatten, nahmen bereits in den ersten Tagen des demokratischen Russlands Führungspositionen ein. Im Dezember 1991 wurde Wjatscheslaw Lebedew, der gerade noch politisch motivierte Urteile verhängt hatte, als Präsident des Obersten Gerichts der Russischen Föderation bestätigt. Im Januar 1992 wurde Anatoli Trofimow, der als KGB-Ermittler Prozesse gegen zahlreiche Moskauer Dissidenten geführt hatte, zum Leiter des Amts für Korruptionsbekämpfung am Ministerium für Staatssicherheit ernannt; bald wurde er zum Chef des Moskauer FSB und stellvertretenden Leiter der ganzen Behörde befördert. Solche Beispiele gab es viele, ich möchte nur noch eines anführen: Ebenfalls 1992 wurde der KGB-Offizier Wladimir Putin, der in den 1970er Jahren persönlich an Hausdurchsuchungen und Verhören von Leningrader Dissidenten beteiligt war, zur rechten Hand des Sankt Petersburger Bürgermeisters Anatoli Sobtschak ernannt.

»Das ist wie bei einem verletzten Tier: Wenn ihr es nicht endgültig erledigt, greift es euch an«, warnte Bukowski Jelzins Kreise erfolglos, bis er schließlich Moskau verließ. Die unmenschlichen Verbrechen des Sowjetsystems und seiner Strafvollzugsorgane wurden somit vom Staat weder moralisch noch rechtlich bewertet. Ich wiederhole: Wenn das Böse nicht begriffen, verurteilt und bestraft wird, dann kommt es unweigerlich zurück. Am 20. Dezember 1999 ließ Premierminister Wladimir Putin – elf Tage vor seinem Umzug in den Kreml – auf der Lubjanka die Gedenktafel für Andropow, die im August 1991 demontiert worden war, wieder anbringen.

Wir haben nicht das Recht, diesen Fehler zu wiederholen, wenn sich das Fenster der Möglichkeiten das nächste Mal auftut. Alle Archive müssen geöffnet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Alle Verbrechen sowohl des sowjetischen als auch des Putin-Regimes müssen auf staatlicher Ebene eine angemessene Bewertung erhalten. Alle Strukturen, die an diesen Verbrechen beteiligt waren – vor allem der FSB –, müssen aufgelöst werden, und die Menschen, die diese Verbrechen verübt haben, müssen juristisch zur Verantwortung gezogen werden. Wer in der repressiven Politik eine Führungsrolle innehatte, darf nicht zur Ausübung staatlicher Ämter berechtigt sein – und auch das ist keine »Hexenjagd« (wie auch diesmal einige Beamte schreien werden), sondern ein unerlässlicher Schutz vor einer neuerlichen autoritären Revanche. Und auch wenn es selbstverständlich ist, füge ich hinzu: Für die Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Putins Regime im Zuge der Aggression gegen die Ukraine begangen hat, muss ein Internationales Tribunal geschaffen werden (nach dem Muster von jenen zu Jugoslawien und Ruanda), dem alle Verdächtigen übergeben werden müssen, ungeachtet ihrer Dienstgrade und Funktionen.

Nur so – indem man diese Verbrechen umfassend aufdeckt und verurteilt – kann sich Russland von der Last der Vergangenheit befreien, vorankommen und zu einem freien, modernen Staat auf Grundlage von Recht und allgemein menschlicher Werte werden. Damit wir nie wieder in diesen Teufelskreis geraten und die nächste Generation russischer Politiker solche Diskussion nicht mehr zwischen dem Straflager in Wladimir und einem Gefängnis in Moskau führen muss.

Ich vertraue darauf, dass wir es schaffen.

Übersetzung aus dem Russischen:Jennie Seitz, Ruth Altenhofer

Die Originalfassung des vorliegenden Beitrags von dekoder ist online verfügbar unter https://specials.dekoder.org/nach-putin/kara-mursa/.

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