Die russische Politik zur Frage häuslicher Gewalt und Beschränkungen der reproduktiven Rechte von Frauen

Von Anonym (Russland)

Zusammenfassung
Der vorliegende Artikel analysiert das systemische Problem der Gewalt gegen Frauen in Russland, insbesondere im Hinblick auf häusliche Gewalt und reproduktive Nötigung. Häusliche Gewalt wird nicht als Straftat anerkannt, was zu unzureichendem Opferschutz führt: Opfer häuslicher Gewalt erhalten selten Hilfe, und offizielle Stellen neigen dazu, mit einer Täter-Opfer-Umkehr betroffenen Frauen die Schuld zu geben. Auch in Bezug auf reproduktive Rechte werden Frauen in Russland stark eingeschränkt. Es gibt Verbote und hohe bürokratische Hürden bei Abtreibungen, Frauen werden zu aggressiven „Beratungen“ vor Schwangerschaftsabbrüchen verpflichtet und wiederholt werden gezielt Patientinnendaten geleaked. Die zunehmenden staatlichen Repressionen beschränken den Zugang zu Verhütungsmitteln und freiwilliger Sterilisierung. Trotz dieser Entwicklungen gibt es in Russland Graswurzelinitiativen, die sich für die Rechte und den Schutz von Frauen einsetzen. Diese Initiativen zeigen, dass es gesellschaftliche Unterstützung für die Bekämpfung systemischer Gewalt gegen Frauen gibt.

Geschlechtsspezifische Ungleichheit in Russland

Gewalt[1] ist eine der Manifestationen des autoritären politischen Systems in Russland. Sie breitet sich stetig aus und führt nicht nur innerhalb des Landes zu Angst, sondern auch im Ausland (wie etwa seit Beginn der Vollinvasion in die Ukraine). Strenge Hierarchien und eine Unterdrückung der Schwachen sind in allen Bereichen der russischen Gesellschaft zu beobachten: Angefangen von Schulen und Universitäten über das Gesundheitswesen bis hin zum Militär.

Dem Index der geschlechtsspezifischen Ungleichheit (Gender Inequality Index – GII)[2] der UNO zufolge rangiert[3] Russland auf Platz 133 hinsichtlich der Gleichheit bei den politischen Rechten und Möglichkeiten, und auf Platz 81 im Gesamtvergleich der 156 Länder (Russland wurde 2022 und 2023 bei der Studie nicht mehr berücksichtigt). In den föderalen gesetzgebenden Organen Russlands (der Staatsduma und dem Föderationsrat) sitzen zu 83 Prozent Männer (wobei der Critical-Mass-Theorie zufolge mindestens 30 Prozent Frauen notwendig sind, damit es einen Einfluss auf Entscheidungsprozesse gibt). In diesem Beitrag konzentrieren wir uns auf zwei Aspekte der Gewalt gegen Frauen, in denen der Staat die größte Kontrolle hat, im Bereich der häuslichen Gewalt und der reproduktionsbezogenen Gewalt gegen Frauen.

Systemische Probleme bei der Gesetzgebung zu häuslicher Gewalt

Häusliche Gewalt wird in Russland nicht als Straftat eingestuft. Daher fehlen diesbezüglich offizielle Statistiken und es ist schwierig, das Ausmaß des Problems zu erfassen. Allerdings wissen wir, dass für Frauen die Wahrscheinlichkeit, Opfer von Gewalt durch den Partner zu werden, dreifach größer ist als die eines Übergriffs durch einen Fremden. Anstelle offizieller Statistiken müssen wir uns also auf verschiedene Forschungsansätze stützen.

Einer Studie von 2012 zufolge erlebt jede fünfte Frau in Russland im Laufe ihres Lebens häusliche Gewalt.[4] Seither hat es keine weiteren Forschungsarbeiten zu diesem Thema gegeben. Die letzten verfügbaren Daten des Innenministeriums stammen ebenfalls von 2012 (auch wenn sie nicht mehr öffentlich zugänglich sind) und geben folgendes Bild ab:

1. Gewalt ist in der einen oder anderen Form in jeder vierten Familie zu beobachten;

2. Jedes Jahr sterben rund 2.000 Frauen durch die Gewalt ihres Partners oder eines anderen nahen Verwandten;

3. Bis zu 40 Prozent aller schwerwiegenden Gewaltverbrechen werden innerhalb der Familie begangen.

Die tatsächlichen Zahlen der Opfer waren mit Sicherheit beträchtlich höher, da diese Statistiken nur Fälle erfassen, bei denen anschließend ein Strafverfahren eingeleitet wurde. Die Zahl der Gewaltverbrechen innerhalb der Familie ist gestiegen und hat sich im Laufe von vier Jahren verdoppelt (92 Prozent der Opfer waren Frauen), wenn man den jüngsten Daten des staatlichen Statistikdienstes (Rosstat) von 2016 folgt.

Weltweit gibt es in 146 Ländern ein Gesetz zur Vorbeugung gegen häusliche Gewalt, nur nicht in Russland. Die Verabschiedung eines solchen Gesetzes ist jahrzehntelang diskutiert worden: Die Staatsduma hat rund 50 Gesetzesvorlagen verhandelt, von denen die letzte aus dem Jahr 2019 stammt.

2021 erließ der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einen Beschluss, in dem festgehalten wurde, dass das Problem der häuslichen Gewalt in Russland ein „systemisches“ ist, und dass die russischen Gesetze keine Mechanismen enthalten, neuen Akten häuslicher Gewalt vorzubeugen.[5] Dem Beschluss zufolge muss Russland seine Gesetze mit der Europäischen Menschenrechtskonvention in Einklang bringen und den Opfern Zugang zu fairen Gerichtsverfahren gewähren. Das ist jedoch nicht geschehen [Russland hat den Europarat 2022 verlassen].

In Russland gibt es keine Schutzanordnungen, die es einem Täter untersagen, sich dem Opfer zu nähern oder sich in der gleichen Wohnung aufzuhalten (derlei Anordnungen werden weltweit in 126 Ländern eingesetzt). Russische Gerichte weigern sich oft, den Opfern Schutz zu gewähren, selbst bei schwersten Verbrechen.[6] Dadurch geraten die Opfer oft in neue Spiralen der Gewalt.

Der Gewalt zu entkommen, wird auch dadurch erschwert, dass der Staat Frauen nicht vor wirtschaftlicher Gewalt durch ehemalige Partner schützt (Nichtzahlung von Unterhalt für Kinder). Die Gesamtrückstände von Unterhaltszahlungen für Kinder belaufen sich in Russland auf rund 156 Milliarden Rubel. Die Frauen müssen selbst vor Gericht ziehen und sich dabei selbst mit den Verfahrensdetails vertraut machen. Das gesamte Verfahren ist langwierig und sieht keine staatliche Unterstützung für die Klägerinnen vor.

Anstelle eines Versuchs, dieses Problem zu lösen, hat Russland die Strafen für Ersttäter in der Familie gemildert (sie sind 2017 zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft worden, für die eine kleine Geldbuße droht). Das bedeutete zudem, dass es in den offiziellen Kriminalstatistiken einen irreführenden Rückgang von Fällen häuslicher Gewalt gab.

In den Jahren 2017 und 2018 erhielt häusliche Gewalt große öffentliche Aufmerksamkeit, was auf eine Kampagne von Aktivist:innen zurückzuführen ist. 2018 befürwortete bei einer landesweiten Umfrage die Hälfte der Befragten, dass häusliche Gewalt unter Strafe gestellt werden sollte.[7] Eine Petition, die ein neues Gesetz zu häuslicher Gewalt forderte, wurde von 960.000 Personen unterzeichnet. Es gab zwar einige Abgeordnete, die sich für eine Unterstützung derjenigen aussprachen, die gegen häusliche Gewalt kämpfen. Doch bewirkte die offizielle Rhetorik von „traditionellen Werten“ und „Russlands Sonderweg“, dass jegliche Bemühungen im Sand verliefen.

Während der Coronapandemie erreichte die häusliche Gewalt einen Höhepunkt. Daten des Innenministeriums zufolge ging die Anzahl der Straftaten innerhalb der Familie während des Lockdowns 2020 um 13 Prozent zurück. Die Daten der russischen Menschenrechtsbeauftragten besagen allerdings, dass Fälle häuslicher Gewalt auf das Zweieinhalbfache zunahmen. Der Unterschied zwischen den Daten des Innenministeriums und denen der Krisenstellen lässt sich dadurch erklären, dass die Opfer oft nicht zur Polizei gehen konnten (deren Daten die Grundlage für die Statistiken des Innenministeriums bilden), weil sie sich in einer Selbstisolierung befanden, während die Krisenzentren den Opfern online und anonym halfen.

Die Zahl der Frauen, die von Familienangehörigen getötet wurden (in Prozent der Gesamtzahl von Morden an Frauen) stieg während der Pandemie von 66 Prozent (2011-2019) auf 71 Prozent (2020-2021).[8] Zwischen 2011 und 2019 starben in Russland über 12.000 Frauen durch ihre Partner, während es 2020 und 2021 rund 2.600 solcher Todesfälle gab.

Eingeschränkter Zugang zur Justiz und mangelnder Opferschutz

Russland zählt zu den 18 Ländern, die am schlechtesten abschneiden, wenn es auf gesetzlicher Ebene um den Schutz von Frauen vor Gewalt geht. Die russische Polizei hat beispielsweise gesetzlich nicht das Recht, in eine Wohnung einzudringen, um dort Körperverletzung oder Mord zu verhindern.

Die Opfer in Russland suchen nur selten Hilfe. Nur zwischen 10 und 30 Prozent derjenigen, die Opfer von Gewalt wurden, gehen zur Polizei (wobei nur drei Prozent der dann eröffneten Verfahren tatsächlich vor Gericht landen). Es werden nur selten Strafverfahren wegen häuslicher Gewalt eröffnet. Sie werden dann häufiger eingestellt als weitergeführt, entweder in „gegenseitigem Einvernehmen“ oder wegen formaler Fehler.

Polizist:innen und die Gesellschaft geben oft den Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, die Schuld (sie hätten das „provoziert“). Oder aber es wird versucht, den Opfern einzureden, dass der Täter „sie einfach sehr liebt“. Die Vorstellung, dass eine Vorbeugung gegen Gewalt in der Familie „traditionelle Werte“ untergräbt, ist in den Medien recht weit verbreitet.[9] Das bringt Frauen dazu, zu denken, dass Gewalt eine „Familienangelegenheit“ sei, in die sich niemand einmischen sollte. Die meisten Frauen (75 Prozent), die bei Sorgentelefonen anrufen, um wegen häuslicher Gewalt Hilfe zu suchen, haben wiederholt gewalttätige Übergriffe erlebt.[​​​​​​​10]

Strafermittlungen wegen Körperverletzung werden in Russland nur dann aufgenommen, wenn das Opfer sich an die Polizei wendet. Opfer müssen eine Vielzahl von Hürden überwinden. Unter anderem müssen sie selbständig Beweise sammeln und die Unkosten tragen, während der Täter das Anrecht auf einen kostenlosen Anwalt hat. Mit anderen Worten: Der Staat verteidigt eher den Aggressor als das Opfer. Somit wird die Verantwortung für die Wahrung des Rechts der Person auferlegt, der Gewalt angetan wurde (was ein Scheitern darstellt, die Verpflichtungen Russlands zum Schutz von Frauen zu erfüllen [zumindest, wenn die Europäische Menschenrechtskonvention als Maßstab angelegt wird, Anm. d. Red.]). Ein Strafverfahren kann nur dann eröffnet werden, wenn es mehrere Übergriffe gab, bei denen eine Frau schwer verletzt wurde, oder wenn eine Frau getötet wurde.

Den Daten von „Reiche eine Hand“ zufolge, einer Initiative, die inhaftierten Frauen hilft, waren viele Frauen dazu gezwungen, das eigene Leben gewaltsam zu retten und saßen dann dafür später wegen Mordes ein. Forschungen zu Frauen, die ihre Partner getötet haben, ergaben, dass sie sich dabei in vier von fünf Fällen vor häuslicher Gewalt geschützt hatten.

Für die NGOs, die mit Kampagnen auf häusliche Gewalt aufmerksam machen, gab es 2024 dann einen Hoffnungsschimmer, als das Verfassungsgericht Russlands entschied, dass Gerichte Angreifern die Annäherung an Orte untersagen können, die regelmäßig von ihren Opfern aufgesucht werden. Das kommt einer Schutzanordnung gleich. Offenbar wurde also damit ein solches Instrument in der russischen Rechtspraxis möglich gemacht.

Eine der Frauen, die beim Verfassungsgericht die Klage eingereicht hatten, die zu dieser Entscheidung führte, war von ihrem ehemaligen Partner misshandelt worden. Eine andere war, als ihr Partner sie am Arbeitsplatz angriff, schwer verletzt worden, und zwar bis zur Bewusstlosigkeit. In beiden Fällen waren die Angreifer trotz Klagen vor dem Bezirksgericht und einer Berufung vor der nächsthöheren Instanz und dem Obersten Gerichtshof nicht mit einer Gefängnisstrafe belegt worden, sondern wurden einfach nur verpflichtet, einige Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit einzuhalten.

Unterstützung für Opfer häuslicher Gewalt

Die Unterstützungsarbeit für Opfer häuslicher Gewalt ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil der Staat so wenig unternimmt, um den betroffenen Frauen zu helfen. Ein Beispiel ist das Zentrum „Prawo Golossa“ (dt.: „Recht auf eine Stimme“) in Woronesch, ein Teil der russischen Kinderstiftung.[​​​​​​​11] Das Zentrum verbreitet Informationen über Übergriffe und deren Auswirkungen auf Kinder. Allerdings werden die Einschränkungen für die Organisation immer schwerwiegender. Anfang 2024 veröffentlichte „Prawo Golossa“ widersprüchliche Nachrichten: Eine über feministische Ideen, und eine andere über „Familienwerte“, mit dem Foto eines Priesters.

Es gibt in den meisten Regionen Russlands ähnliche Unterstützungsinitiativen, auch wenn sie Ziel staatlicher Repressionen sind. So müssen sie etwa auf Öffentlichkeitsarbeit verzichten, um überleben zu können. Die Gruppe „Feminitiv“ in Kaliningrad hilft Frauen in Krisensituationen. Nach Angaben von Freiwilligen dieser Initiative sind die meisten Anfragen nach psychologischer Hilfe auf häusliche Gewalt zurückzuführen. Auf ihren Accounts in den sozialen Medien erwähnt „Feminitiv“ häusliche Gewalt nicht – aus Sicherheitsgründen.

Reproduktive Nötigung

In Bezug auf reproduktive Nötigung (engl.: reproductive coercion; also eine Situation, in der Reproduktionsentscheidungen einer Frau missbräuchlich beeinflusst werden) vollziehen sich in der russischen Politik wichtige Veränderungen. Die wichtigsten sind: ein Verbot von Abtreibungen in Privatkliniken in einigen russischen Regionen; Beratungen vor einem Schwangerschaftsabbruch, die aggressive Gespräche umfassen; Weitergabe von Patientinneninformationen an konservative Medienportale; Einführung von Geldbußen für einen „Druck“ auf Frauen, Abtreibungen vornehmen zu lassen; Beschränkungen für den freien Verkauf von Mitteln zur „nachträglichen Verhütung“; Begrenzung des Zugangs von Frauen zu freiwilliger Sterilisierung.

1. Verbote von Schwangerschaftsabbrüchen in Privatkliniken

Diese Frage wurde 2023 in vielen Regionen Russlands besonders kontrovers diskutiert. Im Dezember 2023 ging eine feministische Aktivistin in Kaliningrad an die Öffentlichkeit. Sie zeigte in einer Recherche, dass sich 15 private Kliniken in der Stadt ohne triftigen Grund weigerten, bei ihr einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Lediglich eine Klinik bot einen Termin an, der dann aber auch mit einem verweigerten Schwangerschaftsabbruch endete.

Im Winter 2023/24 gab es im ganzen Land eine Vielzahl solcher Episoden, obwohl kein offizielles Verbot von Abtreibungen ergangen war. Im Gegenteil: Das russische Gesundheitsministerium erklärte, es habe nie ein Verbot erlassen und es gebe auch keine Absicht, dies auch nur in Betracht zu ziehen. Die Weigerung privater Kliniken, diese Leistung für Frauen anzubieten, wurde mit der Eigeninitiative einzelner Kliniken erklärt, die aufgrund einer Pro-Life-Haltung erfolge (und nicht durch staatlichen Druck).

Gleichzeitig ist die Entscheidung von Privatkliniken, keine Abtreibungen mehr anzubieten, wohl darauf zurückzuführen, dass die Staatsanwaltschaften die Lizensierungsanforderungen verschärft haben. Früher konnte eine Klinik auch dann eine Abtreibung vornehmen, wenn sie lediglich über eine Lizenz für Gynäkologie und Geburtshilfe verfügte. Neue Bestimmungen sehen jedoch vor, dass eine Klinik (selbst wenn sie nur nichtchirurgische Abtreibungen anbietet) stationäre und intensivmedizinische Betreuung sowie Anästhesiemöglichkeiten vorweisen muss. Diese Veränderungen waren der tatsächliche Grund, warum viele Kliniken keine Abtreibungen mehr anbieten.

Für Frauen in Regionen, in denen keine Abtreibungen in Privatkliniken durchgeführt werden können, sind die Optionen begrenzt: Sie müssen auf „Abtreibungstourismus“ zurückgreifen und in Regionen fahren, wo Abtreibungen in privaten Kliniken noch angeboten werden. Oder sie müssen in eine staatliche Klinik gehen. Ersteres ist oft zu teuer. Letzteres ist mit beträchtlichen bürokratischen – und psychologischen – Schwierigkeiten verbunden. Und es kann viel Zeit erfordern, nämlich durch die obligatorische, 2012 eingeführte „Ruhewoche“, der zufolge zwischen Beratungsantrag und der Abtreibung sieben Tage liegen müssen. Diese Verzögerung bedeutet möglicherweise, dass mehr Frauen eine chirurgische Abtreibung vornehmen lassen müssen. Ein solcher Eingriff ist sehr viel komplexer und kann sehr viel ernstere Folgen für die Gesundheit haben.

2. Beratung vor einem Schwangerschaftsabbruch

Die Beratungen, die vermeintlich Frauen in Krisensituationen helfen sollen, eine wohlinformierte Entscheidung zu treffen, sind schnell zu einer Form psychologischer Folter geworden. Es liegt auf der Hand, dass Priester, Sozialarbeiter:innen und Psycholog:innen, die anhand ihrer Statistiken zeigen sollen, dass ihr Vorgehen zu weniger Abtreibungen führt, auf alle möglichen Methoden und Argumente zurückgreifen können.

Frauen beschreiben, wie Psycholog:innen und Priester unterschiedliche Taktiken verfolgen, um den emotionalen Zustand der betroffenen Frauen zu destabilisieren. So kann etwa gefragt werden „Warum haben Sie beschlossen, genau dieses Kind zu töten? Warum nicht eines der anderen, die Sie schon geboren haben?“ Eine der vorgeschriebenen Fragen ist die nach der Meinung des Kindsvaters, ganz gleich, wie das Verhältnis zu ihm aussieht. Auf jeden Fall wird den Frauen nahegelegt, dass sie zusammen mit dem Kindsvater kommen und eine gemeinsame Entscheidung treffen sollen.

Die Ärzt:innen, die diese Beratungen durchführen, überschreiten oft die Grenzen anständigen Verhaltens. In einem Interview mit einem christlich-orthodoxen Medienportal verhehlte ein Arzt nicht, dass er versucht, seine Patientinnen mit Küretten und Details des Abtreibungsverfahrens abzuschrecken. „Ich nehme ein Instrument und zeige anschaulich, wie eine Abtreibung erfolgt“, sagte er. Oft sind falsche Informationen über das Risiko einer Unfruchtbarkeit zu hören, oder zu möglichen Komplikationen und Folgen von Abtreibungen.

Die Beratung vor einem Schwangerschaftsabbruch soll für alle Patientinnen staatlicher Kliniken verpflichtend sein, obwohl das zwei föderalen Gesetzen widerspricht: 1) Nichtmedizinische Mitarbeiter:innen dürfen keine Beratungen zu medizinischen Fragen anbieten; 2) Die Weitergabe medizinischer Details an Nichtmediziner:innen stellt eine Verletzung des Datenschutzes von Patient:innen dar.

3. Leaks von Patientinnendetails

Mehrere große konservative, den Krieg unterstützende Telegram-Kanäle – etwa „Konserwatiwnaja Z“ (dt.: „Konservatives Z“), „Russkaja Obschtschina“, (dt.: „Russische Gemeinde“), „Aleksandra Maschkowaja-Blagich“, ANO „Spassi Schisn“ (dt.: „Rette das Leben“) – veröffentlichen regelmäßig Details über Situationen bei einer Beratung vor einem Schwangerschaftsabbruch, von denen Frauen berichtet haben. Das bedeutet, dass die Details von jenen geleakt wurden, die die Beratung vornahmen.

In diese Art von Veröffentlichungen werden oft die Klarnamen der betroffenen Frauen genannt. Und sie wird von aggressiver Kritik an deren moralischer Haltung und deren Lebensentscheidungen begleitet. Das kann für die betroffenen Frauen weitere psychische Traumata und zusätzliche Nachstellungen im Internet und den sozialen Netzwerken bedeuten.

4. Strafen für die „Nötigung“ von Frauen zur Abtreibung

Seit August 2023 haben neun russische Regionen nacheinander identische Gesetze verabschiedet, durch die Geldstrafen für jene eingeführt wurden, die Frauen zur Abtreibung „drängen“. Die Definition von „drängen“ ist extrem schwammig und umfasst Handlungen wie „überreden“ und „vorschlagen“. Und sie kann gegen den Partner der betreffenden Frau angewandt werden. Eine Geldstrafe kann unabhängig davon verhängt werden, ob die Frau abgetrieben hat oder nicht.

5. Verschärfung der Rezeptpflicht für Medikamente zur nachträglichen Verhütung

Am 1. September 2023 erließ das russische Gesundheitsministerium eine Verordnung, durch die die Verbreitung von Medikamenten für medikamentös vorgenommene Abtreibungen und zur nachträglichen Verhütung eingeschränkt wurde. Das betrifft insbesondere zwei Präparate, die bei medikamentösen Abtreibungen eingesetzt werden: Misoprostol und Mifepriston. Das bedeutet, dass die Bestände von Mifepriston, das auch bei nachträglicher Verhütung eingesetzt wird (in 20-fach verringerter Dosis), jetzt quantitativ, jedoch ohne Dosierungsspezifizierung nachgewiesen werden müssen. Apotheken können es nicht mehr gegen ein normales Rezept ausgeben (das in der Praxis oft nicht geprüft wird). Stattdessen müssen sie darauf achten, dass der/die Patient:in ein korrektes Rezept vorlegt, weil Verstöße Strafverfahren nach sich ziehen könnten. Gynäkolog:innen haben früher nie mit Präparaten gearbeitet, die auf diese Art reguliert wurden (der neue Status bedeutet, dass eine Klinik die Gesundheitskarte einer Patientin anfordern muss, um Mifepriston zu verschreiben).

Patientinnen können damit nicht mehr anonym bleiben, und es ist deutlich schwieriger für sie geworden, an die betreffenden Präparate zu kommen. Je schneller man eine „Pille danach“ nimmt, desto wahrscheinlicher kann eine Schwangerschaft vermieden werden. Vor einem Jahr noch war die Entfernung bis zur nächsten Apotheke ausschlaggebend. Jetzt kann es aufgrund der neuen Hürden Tage dauern, wobei das Präparat nur bis zum dritten Tag danach wirksam ist.

Für ein anderes populäres Präparat zur nachträglichen Verhütung gibt es bislang keine Beschränkungen durch das Gesundheitsministerium, nämlich für Levonogestrel. Laut Herstellerangaben sollte das Medikament frei verkäuflich sein. Allerdings weigern sich manchmal Apotheken trotzdem, Frauen das Präparat ohne Rezept zu verkaufen.

6. Beschränkter Zugang für Frauen zu freiwilliger Sterilisierung

Trotz des Widerstands durch Ärzt:innen und konservative Gruppierungen wird chirurgische Sterilisierung ein zunehmend populäres medizinisches Verfahren. Allerdings ist unter Patientinnen die Ansicht weit verbreitet, dass man über 35 sein und zwei Kinder haben muss, um dafür in Frage zu kommen. Das Gesetz verlangt allerdings nur eines dieser beiden Kriterien. Große Medienportale befördern dieses Missverständnis weiter. Über eine ganze Reihe von medizinischen Gründen, die eine Sterilisierung rechtfertigen können (unabhängig vom Alter und der Anzahl der Kinder), gibt es nahezu keine öffentlich bestätigten Informationen.

Darüber hinaus wird diese relativ einfache Operation in Russland immer unter Vollnarkose vorgenommen. In Europa wird seit 1983 Spinalanästhesie eingesetzt, bei der es keine erheblichen Nachteile gibt. Zwar kann sich der Blutverlust erhöhen, allerdings nur in seltenen Fällen. Die meisten Frauen würden diese Methode wählen, weil die Erholung viel schneller einsetzt als nach einer Vollnarkose.

Gruppen, die für reproduktive Rechte kämpfen

Es gibt in Russland derzeit nicht viele Graswurzelinitiativen, die sich für reproduktive Rechte einsetzen. Dennoch erzielen sie wichtige Erfolge, und deswegen ist es wichtiger denn je, sie zu unterstützen. Allein ihre reine Existenz verdeutlicht, wie unpopulär die Beschränkungen der reproduktiven Rechte sind. Und es zeigt, wie viele Menschen bereit sind, Zeit und Geld aufzuwenden, um sich dem aktuellen Trend entgegenzustellen.

Unmittelbar nach Einführung der Restriktionen für Präparate zur nachträglichen Verhütung im Sommer 2023 schuf eine Gruppe von Aktivist:innen aus Petrosawodsk ein System, um die Versorgung mit „Pillen danach“ zu gewährleisten. Die „Stiftung für Medikamente zur nachträglichen Verhütung“ wurde im September 2023 gegründet. Anonyme Aktivist:innen aus 77 Städten haben sich darin zusammengeschlossen. Befreundete Gynäkolog:innen steuern die Rezepte für die Pillen bei, die dann von Freiwilligen mit Hilfe von Spendengeldern gekauft werden. Die Frauen können ihre Anfragen über einen Chat-Bot auf Telegram stellen, der einen Auftrag für die Verhütungsmittel an Freiwillige sendet und bei der Festlegung des Übergabeorts hilft. Sehr viele Menschen haben dieses Projekt mit Geld und ihrer Zeit unterstützt. Sie betrachten es als Graswurzelinitiative, die praktische Hilfestellung leistet und daher unterstützenswert ist. Die Bedeutung des Projekts ist schwerlich zu überschätzen, da die meisten der Frauen, denen es hilft, unter 15 sind.

Die Graswurzelinitiative „Reschaj Sama!“ [dt. „Entscheide selbst!] wendet sich gegen die Praxis rechtswidriger und übergriffiger Beratungen vor Schwangerschaftsabbrüchen. Sie entstand 2021 in Rostow am Don und hat sich mittlerweile auf über 20 Regionen ausgebreitet. Aktivist:innen hinterlassen an den Info-Schaltern von Kliniken vorgefertigte, von Anwälten geprüfte Formblätter zur Verweigerung der Beratung. Hinzu kommen Flugblätter mit Empfehlungen, wie der psychologische Schaden begrenzt werden kann. Mit der Parole „Du brauchst keinen Grund für eine Abtreibung“ verteilen Aktivist:innen Materialien, wie man seine Rechte wahren und die erforderlichen Dokumente sowie Unterschriften in medizinischen Einrichtungen erlangen kann. Da einige Frauen nicht wissen, was bei den Sitzungen mit „Psycholog:innen“ vor sich geht, und das Risiko nicht genau einschätzen können, sammelt „Entscheide selbst!“ Berichte von Patientinnen, die den Druck der Psycholog:innen erlebt haben. So schrieb eine der betroffenen Frauen: „Das Verfahren war ein stärkerer psychologischer Schlag als die Abtreibung selbst.“ Solche Geschichten und Zitate helfen, den Schmerz öffentlich zu machen, den diese Praktiken auslösen. Und das bei einer Maßnahme, die vorgeblich als etwas Notwendiges und Hilfreiches eingeführt wurde.

Die Gemeinschaft ist gewachsen, und zwar um die Gruppe „Wahrheit über Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft“ in dem sozialen Netzwerk „VKontakte“. Sie wurde 2015 gegründet und macht es für Frauen, die es gewohnt sind, Sätze zu hören wie „Warum willst du überhaupt darüber sprechen?“, möglich, ihre negativen Erfahrungen mit Schwangerschaft und Geburt in einer unvoreingenommenen Atmosphäre zu diskutieren. Damals war die Frage der reproduktiven Rechte noch weniger kontrovers. Bemühungen, das System zu ändern und Abtreibungen von der Liste der Verfahren zu streichen, die von der Pflichtversicherung übernommen werden, kamen von konservativen Gruppierungen, und nicht vom Staat. Da die Lage sich mittlerweile verschlechtert hat, ist die Gemeinschaft jetzt stärker politisiert. Administrator:innen und Autor:innen sind zu Aktivist:innen geworden, die Gesetzesinitiativen gegen Abtreibungen bekämpfen. 2020 haben Kampagnen dieser Gemeinschaft geholfen, einen Versuch des Gesetzgebers aufzuhalten, durch den die Anzahl der medizinischen Gründe für eine Abtreibung reduziert werden sollte.

Diese Online-Community für reproduktive Rechte in VKontakte hat heute über 40.000 Abonnent:innen und ist die größte russischsprachige Ressource für Menschen mit Pro-Choice-Ansichten. In jüngster Zeit haben Aktivist:innen der Gruppe nicht nur Geschichten von Frauen veröffentlicht, die unter den Ärzt:innen zu leiden hatten, sondern auch Forschungen zu gynäkologischer Gewalt, die sie gemeinsam mit freiwilligen Soziolog:innen unternehmen. In einer Atmosphäre von Lügen und Verschweigen suchen die Aktivist:innen nach vertrauenswürdigen Ärzt:innen und bitten sie, kontroverse Themen zu diskutieren. Die Gemeinschaft unterhält eine Weiße Liste und eine Schwarze Liste von Gynäkolog:innen und Geburtskliniken.

Fazit

Frauen sind in der russischen Gesellschaft zunehmend angreifbar. Die systemischen Lücken in der russischen Gesetzgebung, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt hat, sind nicht angegangen worden. Es gibt keine Wege, jene zu schützen, die Gewalt durch wiederholte Übergriffe erfahren haben. Und es gibt für die Opfer keinen Weg, Gerechtigkeit oder Hilfe vom Staat zu erlangen.

Die Lage hat sich darüber hinaus durch Verbote verschlechtert, die den freien Willen von Frauen einschränken, über den eigenen Körper zu bestimmen. Viele dieser Einschränkungen werden schrittweise eingeführt, ohne große offizielle Ankündigungen. Tatsächlich handelt es sich hier um ein signifikantes Charakteristikum der derzeitigen russischen Politik: Destruktive Veränderungen werden klammheimlich und unterschwellig eingeführt. So besteht beispielsweise kein formales Verbot von Abtreibungen. In der Praxis jedoch weigern sich viele Kliniken, sie vorzunehmen.

Dessen ungeachtet sind viele NGOs und Graswurzelinitiativen weiterhin in Russland aktiv und helfen Frauen in den schwierigsten Situationen. Aus diesem Grund ist es so wichtig, dass nichtstaatliche Zusammenschlüsse, die sich dafür einsetzen, dass die systemische Gewalt in der russischen Gesellschaft gestoppt wird, Unterstützung erfahren.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder


Verweise

[1] https://www.after-russia.org/ru/explained/gender-violence

[2] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/996122/umfrage/ranking-der-laender-mit-der-niedrigsten-geschlechtsspezifischen-ungleichheit/

[3] https://www.weforum.org/publications/global-gender-gap-report-2021/

[4] https://web.archive.org/web/20240616180243/https://rosstat.gov.ru/free_doc/new_site/population/zdrav/zdravo-2011.pdf

[5] https://www.hrw.org/news/2019/08/22/european-court-slams-russia-over-domestic-violence-case

[6] https://ria.ru/20210309/order-1600436138.html

[7] https://fom.ru/Obraz-zhizni/14087

[8] https://readymag.website/algorithmsveta/2020-2021/

[9] https://wcons.net/assets/files/aivazova_3-13.pdf

[10] https://www.hrw.org/sites/default/files/report_pdf/russia1018ru_web_free2.pdf

[11] https://dfvrn.ru/projects/proekt-pravo-golosa/

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