Fehlwahrnehmung: Inguschetien und Dagestan zwei Jahre nach der russischen Vollinvasion in die Ukraine

Von Harold Chambers (Indiana University, Bloomington, Indiana, USA)

Zusammenfassung
Russlands groß angelegter Einmarsch in der Ukraine hat die »normale Politik« in Russland außer Kraft gesetzt. Moskau ist damit beschäftigt, die Kriegsanstrengungen aufrechtzuerhalten und ist fixiert auf die Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Ukraine. Diese Präferenzen haben zu schwerwiegenden Fehleinschätzungen der soziopolitischen Dynamik durch den Kreml und seiner regionalen Beamten geführt. Dieser Wandel in der russischen Politik zeigt sich nirgendwo deutlicher als in den nordkaukasischen Repu- bliken Inguschetien und Dagestan. Vor dem Krieg hat sich das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft in diesen Regionen verschlechtert, die Invasion hat die Probleme nur noch verschärft. Typische staatliche Reaktionen auf das mangelhafte Regierungshandeln in den Regionen wie die Entlassung von Gouverneu- ren wurden ausgesetzt. Infolgedessen sahen sich die Regionen mit wachsenden politischen Konflikten kon- frontiert, die sowohl friedlich als auch gewaltsam ausgetragen wurden, ohne dass es eine tragfähige Strate- gie zu ihrer Lösung geben würde.

Der Zusammenbruch der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft in Inguschetien vor der Vollinvasion

Das politische Schicksal Inguschetiens schien 2018 besiegelt, als der damalige Gouverneur Junus-Bek Jewkurow heimlich einem verfassungswidrigen Landtausch mit Ramsan Kadyrow, dem Gewaltherrscher und Gouverneur des benachbarten Tschetscheniens, zustimmte (Moscow Times 2018). Das Ereignis löste Massenproteste und einen völligen Zusammenbruch der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft aus, da der Staat die Organisatoren verhaftete, unter denen die wichtigsten Sprachrohre der inguschischen Gesellschaft waren (Sokolowa 2018). Die Proteste, an denen sich mehrere Tausend Menschen beteiligten, waren so heftig, dass Jewkurow auf Geheiß des Kremls vorzeitig zurücktreten musste. Sein Nachfolger Mahmud-Ali Kalimatow hat die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft seither nicht mehr auf die richtige Bahn leiten können.

In den Jahren danach sind die sozialen Probleme nicht weniger geworden, und die ohnehin schon schlechten sozioökonomischen Bedingungen wurden durch die Pandemie noch verschärft (Light 2020). Es überrascht deswegen nicht, dass Kalimatow immer härter gegen die Zivilgesellschaft vorging, was im Jahr 2021 zu den bisher schwersten Repressionen führte (Chambers 2022). Der Rat der Tejps (Sowjet Tejpow), eine der wichtigsten zivilgesellschaftlichen Organisationen der Republik, die auf der traditionellen Gesellschaftsstruktur (meist Familienclans) basiert, wurde aufgelöst, weil seine Anführer die Proteste gegen den Landtausch organisiert hatten. Dadurch wurden die Beziehungen zwischen der Zivilgesellschaft und dem Staat nachhaltig beschädigt. Während der Rat der Tejps das wichtigste Sprachrohr für die gesamte Gesellschaft war, hat das Wiederaufflammen der Verfolgung der Batalchatschinzy den Gouverneur Kalimatow am meisten belastet (Klyszcz 2020). Diese Sufi-Bruderschaft war eine geschlossene Gemeinschaft von mindestens mehreren Tausend Mitgliedern und eine Gruppe des organisierten Verbrechens, die neben anderen illegalen Aktivitäten auch mit Waffen- und Drogenhandel zu tun hatte. Sie waren früher das alternative Machtzentrum der Regierung in der Republik, bevor sie 2019 mit den Behörden in Konflikt gerieten. Teils wegen ihrer öffentlichen Unterstützung der Proteste gegen den Landtausch, aber auch weil sie mutmaßlich für die Ermordung eines der höchsten Sicherheitsbeamten der Republik verantwortlich waren. Im Jahr 2021 ließ Kalimatow die Anführer der Bruderschaft verhaften und verbannte sie gleichzeitig aus dem Regionalparlament (Chambers 2022). Diese Strategie Kalimatows, die Organisation zu enthaupten, schlug fehl. Vor dem Krieg war das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft in Inguschetien somit höchst belastet.

Aufgestaute Probleme in Dagestan

Jahrzehntelang wurden in Dagestan echte Investitionen in die sozioökonomische Entwicklung der Republik vernachlässigt, was die Bevölkerung immer unzufriedener werden ließ. Gouverneure kamen und gingen, aber an den Verhältnissen änderte sich wenig, so dass sich die Probleme, wie etwa bei der Energieversorgung, aufstauten (Kawkasskij Usel 2023). Die Pandemie brachte nicht nur wirtschaftliche Probleme mit sich, sondern auch einen Tourismusboom (Light 2022): Die Russen waren gezwungen, im Inland Urlaub zu machen und stellten dabei fest, dass Dagestan entgegen der landläufigen Meinung nicht nur sicher, sondern auch ein attraktives Reiseziel war. Obwohl sich der Tourismus als wirtschaftlicher Segen erwies, führte er die mangelnde Entwicklung der Infrastruktur in Dagestan deutlich vor Augen (TASS 2022).

Vor diesem Hintergrund wurde Sergej Melikow 2021 zum Gouverneur ernannt. Ein weiterer Grund war jedoch, dass Melikows kränkelnder Vorgänger Wladimir Wasiljew nicht als Gegengewicht zu einem zunehmend irredentistischen Kadyrow taugte (Kawkasskij Usel 2020; Dsuzati 2021). Letztlich hat Melikows langjähriger Dienst auf nationaler und regionaler Ebene, insbesondere in den Sicherheitsorganen, seine Legitimität auf föderaler Ebene erhöht (RIA 2021). Mit diesem Karriereweg hatte er das volle Vertrauen Moskaus, die Stabilität in Dagestan aufrechtzuerhalten, auch wenn dies eine schwierige Aufgabe war.

Wie schlecht es um die gesellschaftspolitische Situation in Dagestan vor dem Krieg bestellt war, zeigt sich vielleicht am besten an der plötzlich veränderten Haltung in Dagestan gegenüber Alexej Nawalnyj. Während der Proteste gegen die Inhaftierung des russischen Oppositionellen im Januar 2021 kam es allein in Machatschkala zu erheblichen Protesten und Massenverhaftungen (Klyszcz 2021). Im April 2021 eröffnete das Team Nawalnyj sogar ein Regionalbüro, das jedoch kurz darauf zusammen mit Nawalnyjs Stiftung geschlossen wurde (Kawkasskij Usel 2021). Dies war eine deutliche Abkehr von der im Nordkaukasus weithin bekannten Abneigung gegenüber Nawalnyj (Radio Swoboda 2021), die auf seine frühere Unterstützung der nationalistischen russischen Bewegung »Es reicht, den Kaukasus zu füttern!« zurückgeht [»Chwatit kormit Kawkas!« Nawalnyj prangerte an, dass die vorwiegend muslimischen Republiken im Nordkaukasus hohe Transferleistungen aus dem föderalen Zentrum bekamen im Vergleich zu vorwiegend ethnisch russischen Regionen, Anm. d. Red.]. Das ist zwar eine Ausnahme, die spricht aber für die grundlegende Verschlechterung der Lebensbedingungen in der Republik. Vor der groß angelegten Invasion in die Ukraine wuchs somit in Dagestan die gesellschaftliche Unzufriedenheit, denn der Lebensstandard sank und die öffentliche Infrastruktur bröckelte zusehends.

Krieg als Normalzustand

Der Nordkaukasus hat, wie die meisten Regionen mit ethnischen Minderheiten, im Zuge der russischen Invasion in der Ukraine unverhältnismäßig viele Kriegsopfer zu beklagen (Iwschina 2024). Vor allem Dagestan ist eine der am stärksten betroffenen Republiken, während Inguschetien gemessen an den pro Kopf Gefallenen, keine bedeutende Rolle spielte. Sowohl die regionalen Spitzenwerte als auch die Unterschiede zwischen den Föderationssubjekten in Bezug darauf, sich der russischen Armee anzuschließen, lassen sich auf eine Kombination sozioökonomischer Faktoren zurückführen wie niedrige Löhne, hohe Arbeitslosigkeit und geringe berufliche Perspektiven jenseits des Militärs (Lenton 2022).

Inguschetien und Dagestan haben sich als Regionen bemüht gezeigt, Moskau ihre Unterstützung für den Krieg zu signalisieren. Inguschetien eröffnete die erste Anti-NATO-Museumsausstellung im Nordkaukasus (Ingushetia 2022). Es sei allerdings auch angemerkt, dass sich in Inguschetien nur ein paar Männer als Freiwillige gemeldet hatten und die gesellschaftliche Unterstützung damit recht beschränkt blieb (Fortanga 2022). Auch Dagestan hat Loyalität gegenüber Putins Krieg gezeigt. Einige Dörfer versammelten sich zu Kundgebungen, um ihre Unterstützung für die Mobilmachung zum Ausdruck zu bringen (1Adat 2022). Der Gouverneur Melikow machte aus Putins Besuch gleich im Anschluss an den Wagner-Aufstand eine medienwirksame Werbeveranstaltung (TASS 2023).

Bei den Präsidentschaftswahlen im März 2024 schließlich gaben nach offiziellen Angaben sowohl Inguschetien als auch Dagestan rund 90 Prozent der Stimmen für Putin ab. Die Manipulation der Stimmauszählung ist dabei ein Hinweis auf die Loyalität der Gouverneure gegenüber dem föderalen Zentrum und Putin persönlich.

De-Mobilisierung der Gesellschaft

Die Mobilmachung vom September 2022 zeigte, wie abgehoben Moskaus Politik von den lokalen Realitäten war, denn Proteste gegen den Einzug von wehrfähigen Männern erschütterten Kabardino-Balkarien, Inguschetien und sogar Tschetschenien, am heftigsten waren sie jedoch in Dagestan (Chambers 2022). In der gesamten nordkaukasischen Region waren die Behörden derartig unvorbereitet, dass es einige Tage oder sogar Wochen dauerte, bis sie auf die Proteste reagierten.

Die Demonstranten in Dagestan, die sich gegen die Mobilmachung wehrten und von jenen oppositionellen Telegram-Kanälen angeheizt wurden, die für die Unabhängigkeit der Republik von Moskau eintraten, gerieten tagelang mit der Polizei aneinander, bevor die Behörden die öffentlichen Plätze absperrten und damit die Proteste abrupt beendeten (Chambers 2022). Es blieb bei Massenschlägereien, ohne dass die Gewalt weiter eskalierte, wobei die Polizisten besonders Frauen und junge Männer ins Visier nahmen. Dabei war es überraschend, dass die Situation nicht weiter eskalierte, wenn man bedenkt, dass die Einsatzkräfte die unbewaffneten Protestierenden mit Schusswaffen einzuschüchtern versuchten. Hunderte wurden bei den Protesten verhaftet, die genaue Anzahl der Demonstranten und Verhaftungen ist allerdings nicht bekannt.

Aus Inguschetien drangen jedoch wenig Informationen nach außen an die Öffentlichkeit. Während der Mobilmachungskampagne berichteten die lokalen Medien stattdessen über das Vorgehen der Behörden gegen die Batalchadschinzy (Fortanga 2022(2)). Einige Tage später tauchten Gerüchte auf, dass die Inguschen versuchten, sich der Mobilmachung zu entziehen (Fortanga 2022(3)). Darauf folgte ein Besuch des Gesandten des Präsidenten im Föderationskreis Nordkaukasus, Jurij Tschaika, der mit der schleppend vorangehenden Mobilmachung in Verbindung gebracht wurde (Fortanga 2022(4)). Ende Januar 2023 wurden Razzien in Militärkommissariaten als Reaktion auf »Mängel im Zuge der Mobilmachung« durchgeführt (Fortanga 2023). Offensichtlich war die Mobilmachung in Inguschetien gescheitert.

Inguschetien und Dagestan weisen somit zwei gegensätzliche Reaktionen auf, die sowohl den regionalen als auch den föderalen Behörden Sand ins Getriebe streuten. Sowohl das Nichtstun als auch die aktive Revolte verdeutlichen die zweifache Problematik der Sicherheitsdienste: Sie erwiesen sich als nicht in der Lage, wirksam auf gesellschaftliche Belange zu reagieren. Die Gründe dafür sind zum einen die weitverbreitete Korruption, die die Regierungsqualität maßgeblich beeinträchtig wie auch die kompromisslose Härte gegenüber gesellschaftlichem Unmut, die die Sicherheitsbehörden zunehmend delegitimierte.

Dagestan-Rebellen

In den vergangenen Jahren gab es zahlreiche Proteste, die die schlechten sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in Dagestan, vor allem hinsichtlich der öffentlichen Infrastruktur, anprangerten (Chambers 2023). Sowohl in Bergdörfern als auch in der Hauptstadt Machatschkala waren Ausfälle in der Versorgung mit Gas, Wasser und Strom keine Seltenheit. Erst kürzlich wurde die frühere Unternehmensleitung des regionalen Stromanbieters DagEnergo wegen Korruption verhaftet (Kawkasskij Usel 2024) Diese Verhaftungen können somit auch als eine verspätete Vergeltung für die tatsächliche Ursache der Proteste interpretiert werden.

Um gegen diese Versäumnisse des Staates zu protestieren, sperrten die Einwohner Straßen, darunter eine der Bundesstraßen der nordkaukasischen Republik (Chambers 2023). Derartige sozioökonomisch motivierten Proteste sind keine Seltenheit, mindestens einer findet jeden Monat statt. Viele Dagestaner sehen es inzwischen als wenig zielführend an, sich an Gouverneur Melikow zu wenden. Sie umgehen zunehmend die lokalen Behörden und wenden sich stattdessen direkt an Präsident Putin (Kawkas.Realij 2023). Melikows anhaltende Untätigkeit gegenüber legitimen gesellschaftlichen Beschwerden hat ihn das Vertrauen der Dagestaner gekostet. Der Gouverneur konnte diese Proteste bisher unter Kontrolle halten und löste sie häufig mit Gewalt auf.

Die Erstürmung des internationalen Flughafens von Machatschkala am 29. Oktober 2023 kurz nach Beginn des Krieges zwischen Israel und der Hamas erwischte Melikow allerdings vollkommen auf dem falschen Fuß (Chambers 2023(2)). In dem Irrglauben, es kämen israelische Asylbewerber an, machte der Mob Jagd auf Juden und besetzte wiederholt das Rollfeld, da die Polizei nur sehr behäbig reagierte (Robinson 2023). Melikow hatte die Auswirkungen seiner Repressionen völlig falsch eingeschätzt und angenommen, dass aufgrund seiner Einschüchterungstaktik ein derartiger Vorfall nicht möglich wäre.

Wiedererstarken des islamistischen Untergrunds?

In Anbetracht der Tatsache, dass mehr als zwei Jahre Krieg die soziale und wirtschaftliche Lage noch verschlimmert haben, ist es wenig verwunderlich, dass sich der Nährboden für gewaltsamen Widerstand vergrößert hat. Die Lebensbedingungen im gesamten Nordkaukasus gehören zu den schlechtesten in ganz Russland (Merenkowa 2021). Die erhöhte Anfälligkeit der Behörden aufgrund des Krieges hat zu einer noch stärkeren Unterdrückung geführt, die praktisch jegliche öffentliche Meinungsäußerung unterbindet. Durch den Krieg sind Waffen unkontrolliert in die nordkaukasische Region gelangt (Bessedin 2023). Die Sicherheitsdienste sind durch Politisierung, indem sie sich vor allem auf die Verfolgung politische Gegner konzentrierten und echte Sicherheitsbedrohungen vernachlässigten, sowie Korruption blind geworden für viele Gefahren (Chambers 2024). Während die Bedrohung durch den bewaffneten Untergrund im Nordkaukasus im Zuge der Pandemie und zu Anfang der Vollinvasion gering blieb, scheint diese jetzt wieder größer zu werden. Die Bedrohung geht inzwischen von einer weit größeren Anzahl von verstreuten Akteuren aus, wobei diese kleinen Gruppierungen ihre Effektivität verbessert haben.

In Inguschetien liegt der Schwerpunkt bei der Bekämpfung des bewaffneten Untergrunds auf den Batalchadschinzy. Ab Mitte Oktober 2022 führten die Behörden eine Reihe von Razzien durch, um alle Anführer und viele Mitglieder der Bruderschaft zu verhaften (Chambers 2022). Die Batalchadschinzy wurden aus der Republik vertrieben und gezwungen, in Tschetschenien Zuflucht zu suchen, wobei sie sich als Preis dafür in den Krieg gegen die Ukraine begeben mussten (Kawkas.Realij 2022). Trotz der Neutralisierung der Gruppierung nehmen die inguschetischen Behörden auch jetzt noch Personen ins Visier, die mit der Gruppierung in Verbindung stehen (Fortanga 2024; Fortanga 2024(2)). Kalimatow scheint dabei völlig fixiert auf diese Sufi-Bruderschaft zu sein (so wie der Kreml von den angeblichen ukrainischen Agenten besessen ist), und diese idée fixe hat ihn blind gemacht für die wachsende Bedrohung, die von tatsächlichen religiösen Extremisten ausgeht. Am deutlichsten wurde dies, als Kalimatow und die inguschetischen Sicherheitsbehörden die Verantwortung für einen Anschlag Anfang März in wenig nachvollziehbarer und sogar widersprüchlicher Weise der Bruderschaft zuschrieben (Fortanga 2024(3)).

Seit Anfang 2023 sind die meisten Opfer der Auseinandersetzung mit dem bewaffneten Untergrund in Inguschetien auf Feuergefechte zwischen den Sicherheitsbehörden und einer kleinen Zelle unter der Leitung von Adam Osdojew und Amirchan Guraschew zurückzuführen. Nach einer einjährigen Verfolgungsjagd auf drei Kämpfer wurde später ein halbes Dutzend Mitglieder getötet, wobei Osdojew derzeit vermisst wird, aber vermutlich noch am Leben ist. Die Schießerei vom 2. März hat die Sicherheitsbehörden offensichtlich überrascht: Osdojew wurde fälschlicherweise als getötet gemeldet, und die regionalen und föderalen Behörden gaben unterschiedliche Erklärungen für den Angriff ab (Rosysk Inguschetija 2024). Der Sekretär des russischen Sicherheitsrates Nikolaj Patruschew behauptete vage, der Westen stecke hinter dem Anschlag (Kawkas.Realij 2024). Jurij Tschaika hingegen machte die in der Ukraine und Syrien ansässige Inguschische Befreiungsarmee verantwortlich (Kawkasskij Usel 2024, Fortanga 2024(4)). Regimefreundliche Kanäle, die den Sicherheitsdiensten nahestehen, brachten den Anschlag mit der ukrainischen Partisanenbewegung »Atesch« in Verbindung (Rosysk Inguschetija 2024(2)). Nur Kalimatow stimmte den Ermittlern zu; in Wirklichkeit hatte die Guraschew-Zelle dem Islamischen Staat die Treue geschworen (Fortanga 2024(5)). Es liegt auf der Hand, dass die regionalen nachrichtendienstlichen Kapazitäten begrenzt sind und die Behörden kaum gewillt sind, die eigentlichen Ursachen für dieses Sicherheitsversagen zu beheben.

In Dagestan blieb die Lage wesentlich ruhiger: Seit Beginn des Krieges wurden nur vier islamistische Untergrundkämpfer getötet, allerdings nicht von den Sicherheitsdiensten. Der bemerkenswerteste Vorfall war die Verhaftung einer kleinen Zelle der Provinz Chorasan des Islamischen Staates am 31. März, bei der vier Personen festgenommen wurden, die angeblich die terroristischen Angreifer des Moskauer Einkaufszentrums Crocus City Hall bewaffnet und finanziert hatten (Mash 2024). Obwohl es derzeit keine bewaffneten Aktivitäten im islamistischen Untergrund gibt, bleibt das Radikalisierungspotenzial in der Republik Dagestan bestehen.

Schlussfolgerungen

Die innenpolitischen Auswirkungen des inzwischen mehr als zwei Jahre andauernden Krieges gegen die Ukraine haben die Regionalverwaltung Inguschetiens besonders nervös gemacht. Dies zeigt sich deutlich in ihren Reaktionen auf Vorfälle, die die nationale Sicherheit betreffen, wie der Wagner-Aufstand im Juni 2023 und der Anschlag auf das Moskauer Einkaufszentrum Crocus City Hall im März. Trotz der großen räumlichen Entfernung zu den Schauplätzen dieser Ereignisse waren die Reaktionen der Behörden schärfer als in näher gelegenen Regionen. Die regionalen Behörden sind sich offensichtlich ihrer anfälligen Lage bewusst.

In Dagestan hat sich Melikow als immer weniger effektiv erwiesen. Er hat erheblich an Vertrauen in der Gesellschaft verloren, deren Unzufriedenheit rasant wächst. Sein einziger Vorteil in den letzten zwei Jahren besteht darin, dass er offenbar nicht mehr als Gegengewicht zu Kadyrow gebraucht wird, der sich stärker der föderalen Politik unterworfen und seinen regionalen Expansionismus vorerst gestoppt hat.

Der Nutzen der beiden Gouverneure von Dagestan und Inguschetien für Moskau wirft die Frage auf, wann der Kreml diese endlich austauscht. Es ist gängige Praxis Moskaus, Gouverneure vor Ablauf ihrer Amtszeit (Kalimatow wäre regulär bis September 2024 und Melikow bis September 2026 im Amt) abzusetzen, wenn sie dem Kreml Probleme bereiten (Carnegie 2017). Vor allem Kalimatow erfüllt seit langem schon die Kriterien, die normalerweise einen erzwungenen Rücktritt nach sich ziehen. Andererseits scheint in Inguschetien schon der Punkt erreicht, an dem auch ein frisch ernannter Gouverneur das Vertrauen der Gesellschaft nicht mehr wiedergewinnen kann, zumindest so, wie es dem Kreml genehm wäre. Melikow könnte als altgedienter Silowik für Moskau von größerem Nutzen sein, wenn er zu den Sicherheitsdiensten zurückkehrt, ähnlich wie Kalimatows Vorgänger Jewkurow, der jetzt als stellvertretender Verteidigungsminister an politischem Gewicht gewonnen hat (RBK 2023). Der anhaltende Krieg gegen die Ukraine mag zwar derzeit gefährdete Gouverneure in ihrem Amt schützen. Doch das bleibt ein zweischneidiges Schwert für den Kreml: Dieser sichert sich so ihre Unterstützung für seine Kriegsanstrengungen, verschafft ihnen aber auch mehr Zeit, ihre Entmachtung durch das föderale Zentrum in Moskau zu verhindern. Im Endeffekt führt das aber zu einer Schwächung des autoritären Regimes in Russland.

Anmerkung: Dieser Text wurde vom Autor Anfang Mai abgeschlossen.

Lesetipps / Bibliographie

 

  • 1Adat. 2022. W Kisiljurte mestnaja okkupazionnaja wlast ustraiwajet miting SA mobilisaziju. Telegram. https://t.me/IADAT/14864
  • Fortanga. 2022. W administrazii Sunshenskowo rajona proschla wstretscha s dobrowolzami, reschiwschimi prinjat utschastije w woine s Ukrainoi. Telegram. https://t.me/fortangaorg/13966
  • Fortanga. 2022(2). W Inguschetii silowiki ottschitalis o sadershanii utschastnika terroristitscheskowo soobschtschestwa. Telegram. https://t.me/fortangaorg/13562
  • Fortanga. 2022(4). W Inguschetiju prijechal postpred presidenta w SKFO Juri Tschaika. Pritschinoi wisita mogli stat problemy s mobilisazijei w respublike. Telegram. https://t.me/fortangaorg/13752
  • Fortanga. 2023. «Ischtschut strelotschnikow w situazii s prowalami w mobilisazii i prisywe» — istotschnik «Fortangi» ob obyskach w Nasranowskom wojenkomate. Telegram. https://t.me/fortangaorg/14742
  • Mash. 2024. «Ja wosil im orushije, etim rebjatam, kotoryje napadali na „Krokus Siti Choll“ w gorode Moskwa». Telegram. https://t.me/breakingmash/53073

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