Russlands Kampagne für eine Rückkehr des Patriarchalen: Förderung »traditioneller Werte« mit dem Ziel demographischer und sexueller Souveränität

Von Michele Rivkin-Fish (Universität North Carolina, Chapel Hill)

Zusammenfassung
Während weltweit konservative Kampagnen gegen Feminismus und LGBTQ-Gleichstellung an Fahrt aufnehmen, hat die russische Führungsspitze längst eine feindselige Haltung diesen Bewegungen gegenüber zu einem Grundpfeiler ihrer Staatspolitik und einem Kerninstrument des Autoritarismus gemacht. In dieser Analyse werden zwei historische Gründe erläutert, warum Gender so zentral für die gegenwärtige russische Politik wurde. Erstens waren die frühen Versuche der Sowjetunion einer Gleichstellung der Frauen mit zahlreichen Heucheleien versetzt und erzeugten einen weit verbreiteten Backlash. In der Nachkriegszeit unterstützten viele Russ:innen die konservative Vorstellung, dass Frauen eine Fürsorgerolle übernehmen sollten und Männer die des Ernährers. Allerdings haben solche Ansichten nicht das staatliche Eingreifen in das Privatleben der Menschen oder Repressionen von unangepassten Lebensstilen gutgeheißen. Zudem erzeugten die drastischen Umbrüche der 1990er Jahre, einschließlich der sozioökonomischen Erschütterungen durch Marktreformen, globalisierte Medien und die stark sinkende Fertilität eine intensive Angst um die Zukunft der Nation. Das Putin-Regime und die Russisch-Orthodoxe Kirche sind darum bestrebt, sogenannte traditionelle Familienwerte als ein Gegenmittel gegen westlichen Einfluss einzuführen und eine nationale demographische Souveränität zu konsolidieren. In dem Versuch, die Körper von Frauen zu kontrollieren und sexuelle Minderheiten zu repressieren, verbindet Russlands politische Führung ihre autoritäre Politik mit einer nationalen Wiederbelebung.

Einführung

Die intensiven Versuche des russischen Staates und der Russisch-Orthodoxen Kirche, patriarchale Werte in der Gesetzgebung und im gesellschaftlichen Leben zu verankern, haben die Themen Gender und Sexualität ins Zentrum der öffentlichen Diskussion rücken lassen. Die Eliten betiteln ihre Kampagnen gegen eine Gleichstellung der Genderidentitäten, der Geschlechter und der sexuellen Orientierungen, Feminismus und persönliche Freiheit als Einsatz für »traditionelle« Gender-Beziehungen und »Familienwerte«. Diese Begriffe werden hier in Anführungszeichen gesetzt, weil die historische Forschung klar gezeigt hat, dass Genderbeziehungen und Familienkonstellationen und -praktiken – in Russland wie auch anderswo – immer vielfältig gewesen sind und sich an breitere wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen angepasst haben. Die Genderpolitik, die derzeit rigide verfolgt wird, beinhaltet keine Rückkehr zu einer konkreten gesellschaftlichen Ordnung, sondern stellt einen Versuch dar, Russland ideologisch von divergierenden Gedanken und Lebensweisen zu befreien. Dieses Ziel, das seit dem 24.02.2022 noch intensiver verfolgt wird, wird durch eine staatliche Politik vorangetrieben, die unter anderem Abtreibungen erschwert, die Verbreitung von Informationen über LGBTQ-Erfahrungen kriminalisiert, LGBTQ-Personen stigmatisiert, die Sanktionen für häusliche Gewalt abschwächt und die Anerkennung von Kinderrechten beendet. Der Staat und die Kirche hoffen, in Russland eine patriarchale Ordnung zu errichten, um eine nationale demographische Souveränität zu erlangen. Warum wird das unternommen? Warum sind Genderfragen im Kontext einer russischen nationalen Renaissance von so zentraler Bedeutung, und warum spielt die Politik zu demographischen Fragen eine derart entscheidende Rolle?

Der historische Hintergrund: Gegenbewegung gegen Sozialismus und Verwestlichung

Das Vorgehen gegen Feminismus und die Gleichstellung von LGBTQ-Personen erfolgt zwar weltweit, doch sind die Kampagnen in Russland von historischen und politischen Erfahrungen bestimmt, die in vielem durch die vergangene sozialistische Welt geprägt und der westlichen Welt weniger vertraut sind. Diese Region hat in der Tat seit den 1920er Jahren Rückschritte bei der Genderpolitik erlebt. Die sozialistische Ideologie hatte eine Emanzipation der Frauen vom Kapitalismus postuliert, doch die tatsächliche Umsetzung der »Gleichstellung der Frauen« brachte eine Reihe von Widersprüchen mit sich, die einige dieser Ideale untergruben. Frauen erlangten seit den ersten Jahren der Sowjetunion juristisch sämtliche Rechte und eine wirtschaftliche Gleichstellung, doch die damit einhergehenden Ideale einer »Vergesellschaftlichung« von Hausarbeit und Kinderversorgung, durch die Frauen von den Lasten des Haushalts befreit werden sollten, wurden zu keiner Zeit Wirklichkeit. Ebenso wenig änderte sich das patriarchale Verständnis von Männlichkeit. Als Folge mussten sowjetrussische Frauen in Vollzeit arbeiten, sich durch Freiwilligendienste am Aufbau des Kommunismus beteiligen und sämtliche Pflichten im Haushalt erfüllen. Männer besetzten weiterhin die Führungspositionen und waren oft verärgert, wenn Frauen dennoch Rollen einnahmen, die Macht bedeuteten; der kulturelle Zeitgeist war in Bezug auf Genderfragen weiterhin reichlich patriarchal geprägt. Während die Führung des Landes sich mit den Vorteilen brüsteten, die Frauen unter dem Sozialismus genießen würden, wurden derlei Behauptungen durch die allgegenwärtigen Defizite Lügen gestraft, wie auch durch die schlechten materiellen Bedingungen, die das Leben der Menschen bestimmten. Die Wohnung und die Versorgung der Kinder waren stark unterfinanziert, grundlegende Verbraucherbedürfnisse wurden nur spärlich bedient und Frauen hatten nur wenig Möglichkeiten, Arbeit und Familie miteinander zu vereinbaren. Die Menschen in Russland betrachteten das sozialistische Mantra von der »Emanzipation« der Frau bestenfalls als ein unerfülltes Versprechen, und schlimmstenfalls als zynische Propaganda.

Mitte der 1980er Jahre, als Gorbatschow die Perestroika anstieß, argumentierte er, dass die vollkommene Beteiligung der Frauen am Arbeitsleben die Frauen daran hindere, ihren pflegerischen Pflichten nachzukommen, und dadurch die sowjetische Familie geschwächt und die Jugendkriminalität erhöht würde. In der Tat waren die Scheidungsraten hoch und die Geburtenrate bewegte sich statistisch bei unter zwei Kindern pro Frau. Das waren Entwicklungen, die Demograph:innen dazu veranlassten, vor einer Bevölkerungskrise zu warnen, wenn dieser Trend nicht umgekehrt würde. Gorbatschow gab bekannt, dass die Gesellschaft ein Wiederaufleben der »rein weiblichen Mission« von Haushaltspflege und Sorge benötige. Diese Sorgen wurden von den Menschen oft angesprochen, wobei eine essenzialisierende Sprache verwendet wurde, in der die Alltagsprobleme diskutiert wurden. Dabei wurde behauptet, die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen verhinderten, dass Frauen ihrer »mütterlichen Bestimmung« nachkommen. Und es gab die Meinung, der Sozialismus würde Männer »entmannen«, weil sie nicht die Möglichkeiten bekämen, ihre Familien zu versorgen. Einige beklagten das Versagen der Männer, verantwortungsvoll zu handeln, während andere das Empowerment von Frauen für verlorene Maskulinität verantwortlich machten. Insgesamt bildet die Vorstellung, dass die Gleichstellung von Frauen die natürliche Ordnung verzerrt habe und daher durch eine Politik zu ersetzen sei, die die »traditionellen« Rollen der Frau als Kümmernde und der Männer als verantwortungsvolle Anführer wiederbelebt, den Kern der konservativen Genderideologie in Russland. Meine Forschungen haben ergeben, dass in der Bevölkerung in Russland ein großer Teil der Unterstützung für derlei Vorstellungen auf dem weitverbreiteten Gefühl beruht, dass sowohl gesellschaftliche Institutionen als auch zwischenmenschliche Beziehungen seit langem unter einem Mangel an Aufmerksamkeit gelitten hätten. Die Menschen wünschen mehr staatliche Unterstützung bei der Kindererziehung; sie prangern die häufige Indifferenz von Vätern gegenüber ihren Familien an. Und sie wollen, dass Mütter bessere Möglichkeiten haben, ein Gleichgewicht zwischen bezahlter Arbeit und familiären Verpflichtungen zu finden. Sie unterstützen allerdings nicht die Errichtung einer strikt definierten Ideologie zur Kontrolle über das persönliche Leben der Menschen. Wir müssen hier zwischen konservativen Gendervorstellungen und autoritärer Machtpolitik unterscheiden, die darauf abzielt, Körper und intime Beziehungen zu kontrollieren.

Die anfängliche Unterstützung der russischen Regierung für Einrichtungen zur Familienplanung – die sich dann in eine Ablehnung verwandelte – steht beispielhaft für die Unterschiede zwischen diesen Ansätzen. Jelzins Regierung leistete 1992 moralische und materielle Unterstützung für eine Gesundheitsreform, um an die Stelle von Abtreibungen – in der Sowjetunion die verbreitetste Form der Geburtenkontrolle – Verhütungsmittel zu setzen. Der Staat arbeitete mit einer neugegründeten Nichtregierungsorganisation zusammen, der »Russischen Gesellschaft für Familienplanung«. Das Ziel war, medizinisches Personal im Umgang mit Verhütungsmitteln zu schulen. Es wurden die ersten öffentlichen Kliniken im Land eingerichtet, die sich speziell der Familienplanung widmeten. Die russischen Expert:innen, die an der Spitze dieser Initiativen standen, arbeiteten zwar mit internationalen Familienplanungs- und Reproduktionsrechtsorganisationen zusammen, setzten sich aber klar für den Wert heteronormativer Familien und eine Steigerung der Geburtenrate ein. Sie vertraten nicht eine Vision von reproduktiver Autonomie, die auch eine generelle Ablehnung von Mutterschaft befürworten könnte. Die russischen Fachleute wollten das Verantwortungsgefühl der Menschen für die eigene Gesundheit stärken. Auch sollte dem Bedürfnis der Frauen nach reproduktiver Autonomie nachgekommen werden, in dem Sinne, dass sie nur gewollt und zur gewünschten Zeit schwanger werden können. Während diese Expert:innen konservative Vorstellungen zu Genderrollen vertraten, machte sie ihr Einsatz, die individuellen Reproduktionsinteressen gegenüber staatlich gesteuerten Demographiepolitik zu unterstützen, kulturell gesehen zu Liberalen im russischen Kontext. Daher bestanden sie darauf, dass Abtreibung legal und mit Zugang zu einer angemessenen Durchführung möglich sein müsse, und sie bezeichneten Familienplanung als ein Hilfsmittel zur Schaffung einer Kultur der Fürsorge. Aber für autoritäre pronatalistische Kräfte war die Vorstellung, eine systematische Schwangerschaftsprävention zu fördern, inakzeptabel. Sie stellten das neue Modell zur Familienplanung als heimtückische Waffe dar, die ausländische und heimische Feinde einsetzen, um die russischen Geburtenraten weiter zu reduzieren und die Familienwerte zu untergraben. Bis 1998 wurde die föderale Finanzierung für Familienplanung eingestellt. Die lokalen Kliniken und Sparten der »Russischen Gesellschaft für Familienplanung« betonten ihren Einsatz zur Förderung von Schwangerschaften und Familienwerte. Der intolerante, autoritäre Ansatz einer Kontrolle über den Körper der Frau gewann die Oberhand über die gemäßigt konservative und wissenschaftsorientierte Politik der Verfechter:innen von Familienplanung.

Es ist kaum wahrscheinlich, dass diese autoritäre Wende ihre Ziele erreichen wird. Forschungen zu Familiengestaltung haben ergeben, dass Russ:innen seit langem den Wunsch nach zwei Kindern haben, allerdings wegen wirtschaftlicher Herausforderungen – angefangen von beengten Wohnverhältnissen bis hin zu unsicheren und schlecht bezahlten Arbeitsplätzen – nur mit einem Kind rechnen. Putins Förderpolitik zur Erhöhung der Geburtenzahlen, die 2006 einsetzte und als »Mutterschaftskapital« bekannt wurde, stellt einen Versuch dar, die materiellen Barrieren zu beseitigen, die Menschen davon abhalten, mehr Kinder zu bekommen. In den Jahren, in denen dies eingeführt wurde, hatten sich die sozioökonomischen Bedingungen in Russland bereits beträchtlich stabilisiert; die Geburtenraten stiegen leicht, verblieben aber im Bereich von 1,5 Kindern pro Frau – weit jenseits der 2,1 Kinder, die bei Demograph:innen als Voraussetzung für eine stabile Bevölkerungsentwicklung gelten. Im Unterschied zum ausschließlichen Einsatz finanzieller Anreize zeigen zahlreiche Studien, dass in einem Kontext niedriger Geburtenraten der effektivste Ansatz zur Förderung von Geburtenzahlen in der Stärkung der Gendergleichheit in der Familie und in der gesellschaftlichen Unterstützung für die Versorgungsleistungen in der Familie liegt. Putins Regierungen und die Russisch-Orthodoxe Kirche haben eine gegenteilige Strategie verfolgt und waren bestrebt, die Geburtenraten durch eine Wiederbelebung patriarchaler Familienstrukturen zu erhöhen. Dabei verfolgen sie das Ziel, die Körper der Frauen zu kontrollieren und nicht heteronormative Personen auf zunehmend repressive Weise zu marginalisieren.

Die Rückschritte bei der Gendergleichstellung in Russland sind zudem eine Reaktion auf die negativen Kennzahlen im Bereich der Demographie und des Gesundheitswesens, wie sie sich in den 1990er Jahren entwickelten. Diese beispiellosen Veränderungen schienen das Gefühl der Katastrophe zu verkörpern, die die Menschen in den 1990er Jahren subjektiv erlebten – angefangen bei den gewaltigen Verwerfungen durch die Schocktherapie bis hin zum Wegfall aller sexueller Normen, die sich aus dem Ende der Medienzensur und dem allgegenwärtigen Aufschwung der Pornographie ergab. Die Fallzahlen sexuell übertragener Krankheiten explodierten, wobei die gemeldeten Fälle von Syphilis von 4,2 pro 100.000 Personen im Jahr 1988 auf 263 pro 100.000 im Jahr 1996 hochschnellten. Das war in acht Jahren eine Steigerung um das 62-fache.[1] Außereheliche Schwangerschaften nahmen von 13 Prozent aller Geburten 1988 bis 2001 auf 28,8 Prozent zu. Männer und Frauen heirateten später und bekamen in höherem Alter ihr erstes Kind.[2] Die letztgenannten Entwicklungen spiegeln eine Kombination von Effekten wider – angefangen von außerordentlich prekären wirtschaftlichen Verhältnissen bis hin zu neoliberalen Anforderungen, ohne staatliche Unterstützung finanzielle Unabhängigkeit zu erlangen, und den Wünschen junger Erwachsener, zuerst persönliche Ziele zu erreichen, bevor sie sich für ein Kind entscheiden (oder anstelle einer solchen Entscheidung). Russische Politiker:innen und Medien griffen zu den demographischen und Gesundheitsstatistiken, um zu argumentieren, dass es die Verwestlichung sei, die zu wirtschaftlichem und moralischem Niedergang führe, die Familie zerfallen lasse und die Existenz der Nation bedrohe. Mit der Zeit wurde das Argument, die sozialistische Gesellschaft habe die Familie in die Krise gestürzt, von dem Vorwurf abgelöst, »der Westen« würde nicht traditionelle Vorstellungen über Genderbeziehungen vorantreiben, z. B. Feminismus, Individualismus und später dann die Gleichstellung der Geschlechter. All das, so die Argumentation der Konservativen, ziele darauf ab, die Russ:innen einer Gehirnwäsche zu unterziehen, damit sie keine Kinder bekommen. Diese Vorstellungen, etwa die Initiativen für Familienplanung, Sexualbildung und die Gleichstellung von LGBTQ-Personen, entwickelten sich zum Schreckgespenst autoritär ausgerichteter Aktivist:innen, die die Politik und zivilgesellschaftliche Aktivist:innen dazu aufriefen, die Gesellschaft von derlei Programmen zu säubern, damit ein weiterer demographischer Niedergang Russlands abgewendet werde. Von einer Wiederbelebung der patriarchalen, kinderreichen Familie hänge nichts weniger als das Überleben der Nation ab.

Das Streben nach demographischer Autonomie durch autoritäre Familienpolitik

Feministische Wissenschaftler:innen haben längst aufgezeigt, wie Kampagnen zu Eingriffen in den Reproduktionsprozess – wie etwa zur Steigerung oder Senkung der Geburtenrate – politischen Akteuren nützen können: Durch eine vorgebliche Sorge um die Zukunft der Nation können ehrgeizige Führungspersönlichkeiten von dem Eindruck ablenken, sie würden aus partikularem Interesse nach Macht streben. Russische pronatalistische Aktivist:innen versuchen angesichts der geringen Geburtenrate moralische Panik zu erzeugen. Sie haben ein breites Vokabular entwickelt, mit dem sie als Konzept fassen wollen, was sie als »familienzentrierten« gesellschaftlichen Wandel bezeichnen. Um das »Aussterben« der Nation abzuwenden, fordern sie eine Delegitimierung des gesellschaftlichen Trends, wenige Kinder oder nur ein Kind zu haben. Dabei operieren sie mit selbstgeprägten Neologismen wie »malodetnost« (»wenig Kinder«, gemeint sind meist bezogen auf Familien ein oder zwei Kinder [Anm. d. Red.]) oder »odnodetnost« (»Einkindfamilie«). Sie vertreten ein Wertesystem, in dem Familien viele Kinder anstreben, also »Kinderreichtum« (»mnogodetnost«). Darüber hinaus verwenden sie den Begriff »kinderzentrierte Weltsicht« (»detozentrism«, dt. in etwa: »Kinderzentrismus«), um sich für eine pronatalistische Demographiepolitik stark zu machen, die das Verhalten von Familien »optimiert«, indem Geburten gefördert werden. Bezeichnenderweise steht diese Bedeutung im Gegensatz zu den Vorstellungen der »kinderzentrierten« Ideologie der spätkapitalistischen Kultur, in der die Erwachsenen danach streben, den individuellen Bedürfnissen des Kindes gerecht zu werden. In Wirklichkeit haben die Verfechter einer patriarchalen Renaissance – durch die Väter zu unumstrittenen Familienoberhäuptern werden sollen – häusliche Gewalt zum Teil entkriminalisiert. Gleichzeitig wenden sie sich gegen ein Jugendstrafrecht, das sie als zu »kinderzentriert« (im westlichen Sinne) betrachten. Die Konzentration auf ein Verbot von Informationen über LGBTQ-Erfahrungen und über die Bewegung für eine Gleichstellung von LGBTQ-Personen stellt einen Versuch dar, die Gesellschaft von Personen und Vorstellungen zu säubern, die von der strikt patriarchalen Ideologie abweichen, die die Konservativen heute in der russischen Gesellschaft verankern wollen.

Seit Beginn der russischen Vollinvasion in die Ukraine hat sich neben dem aggressiven Nationalismus und der Unterdrückung unabhängiger Meinungen auch die autoritäre Kampagne für Eingriffe in Gender- und Familienfragen im Sinne des Staates verstärkt. Schwangerschaftsabbrüche bleiben legal, treffen aber auf lokaler Ebene zunehmend auf Hürden. Es gibt eine Vielzahl von weitreichenden Einflussmöglichkeiten, durch die Frauen, die einen Abbruch vornehmen lassen wollen, dazu gedrängt werden sollen, das Kind auszutragen. 2024 untersagte die politische Führung Werbung für ein Leben ohne eigene Kinder (»child free«), wobei eine Weltsicht attackiert wird, die in Russland nicht sonderlich viele Anhänger:innen hat, gleichwohl aber als äußerst bedrohlich wahrgenommen wird. Angesichts der schwammigen rechtlichen Definition, was als »Child-Free-Propaganda« gilt, wird dieses Vorgehen sehr viel eher die Meinungsfreiheit beschneiden, denn etwas an der demographischen Lage ändern. Es ist aber ein klares Anzeichen, wie sehr die Politik in Russland auf autoritäre Weise von einer streng normativen Genderideologie gekapert wurde, die eine heteronormative, kinderreiche Familie fordert.

Diese Sprachpolitik und verwandtes politisches Vorgehen sind ein Instrument, mit dem Politiker:innen ihren Einsatz für die Nation demonstrieren wollen. Es werden ständig finanzielle Anreize und ein System belohnender Vergünstigungen für Menschen vorgeschlagen, die sich auf politisch gewünschte Weise für Kinder entscheiden. So hat die Regierung der Region Perm beispielsweise Bonuszahlungen für Frauen eingeführt, die mit einem Teilnehmer an der »militärischen Spezialoperation« ein Kind bekommen. Andere Regionen wollen öffentliche Mittel zum Aufbau einer Samenbank von russischen Soldaten einsetzen. Zu einer Förderung von Nationalismus durch ein Wiederbeleben von Maskulinität gehört die Verbreitung von Bildern, die den Staat, die Gesellschaft und einzelne Männer als stark, mächtig und entschlossen darstellen. Diese Art patriarchaler Renaissance bietet eine Quelle für Stolz im Gegensatz zur vermeintlichen Krise der Maskulinität, von der die sowjetische Gesellschaft geprägt worden sei. Hierzu gehört auch die Erniedrigung und die politische Niederlage, die Russland vermeintlich in den 1990er Jahren gegenüber dem Westen erfahren habe. Die autoritären Kräfte stellen ihre Phantasien von einem wiedererrichteten russischen Patriarchat dem moralisch verkommenen, individualistischen und entmännlichten Westen gegenüber. Sie wollen dadurch Russlands nationale demographische und sexuelle Souveränität sicherstellen. Die Hoffnung und der Versuch, die Körper junger Russ:innen als nationale Ressource zur heterosexuellen Reproduktion zu instrumentalisieren, ist schon einmal unternommen worden und gescheitert, nämlich unter Stalin. Der Schaden, der aus dieser Epoche resultierte, führt uns zu dem Gedanken, dass der Schritt von konservativer hin zu autoritärer Genderpolitik zahlreiche düstere Folgen für die Gesundheit, das Familienleben und die politische Subjektivität hat.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

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Verweise

[1] L. Tichonova, Borisenko K, Ward H, Meheus A, Gromyko A, Renton A. “Epidemics of syphilis in the Russian federation: trends, origins, and priorities for control,” The Lancet 350 (1997): 210–213.

[2] Interfax 2002: « Bolee tschetwerti noworoshdjonnych rossijan pojawljajutsja na swet wne braka » (dt. »Mehr als ein Viertel der neugeborenen Russ:innen kommen außerhalb der Ehe zur Welt«), 4. Dezember 2002. Reprint bei: Demoscope Weekly, no. 93-94, 16. Dezember2002; Ekaterina Sschtscherbakowa 2022, « Demografitscheskie itogi I polugodija 2022 goda w Rossii, Tschast 1 » (dt. »Die demografischen Ergebnisse des ersten Halbjahres 2022 in Russland, Teil 1« Demoscope Weekly, no. 957 – 958, https://www.demoscope.ru/weekly/2022/0957/barom05.php. (Im Verlauf des letzten Jahrzehnts stieg die Geburtenrate bis auf durchschnittlich 1,77 Kinder pro Frau im Jahr 2015 an und fiel bis 1,50 im Jahr 2020–21.)

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