Opposition – aber gegen wen und wogegen? Zu den Motiven der ukrainischen Skepsis gegenüber der russischen Exilopposition

Von Boris Ginzburg (Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin)

Zusammenfassung
Die Ukraine hegt ein tiefes Misstrauen gegenüber der russischen Exilopposition. Zu oft legte die russische Oppositionsbewegung ein gleichgültiges oder opportunistisches Verhalten im Umgang mit der Ukraine an den Tag. Auch nach der zweiten russischen Invasion seit Februar 2022 besteht dieses Verhaltensmuster unverändert weiter. Angesichts der Tatsache, dass beide Akteure mit dem Putin-Regime den gleichen Gegner bekämpfen, erscheint dieses angespannte Verhältnis auf den ersten Blick paradox. Diese Analyse erläutert drei Motive für die ukrainische Antipathie: Erstens die Mehrdeutigkeit der russischen Oppositionellen hinsichtlich der Annexion der Krym und der westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine; zweitens die Ausrichtung des oppositionellen Handelns, das sich klar gegen das russische Regime richtet, ohne gleichzeitig hinreichend proukrainisch zu sein; und drittens die Instrumentalisierung der Ukraine für die eigenen politischen Zwecke der russischen Opposition.

Ein unterkühltes Verhältnis

Nachdem am 16. Februar 2024 der Tod des führenden russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalnyj in einem sibirischen Straflager bekannt wurde, war die Empörung in den meisten westlichen Hauptstädten groß. Die Entscheidungsträger:innen kritisierten Moskau und lobten gleichzeitig den Mut des berühmtesten politischen Gefangenen Russlands. Ganz anders fiel die Reaktion in Kyjiw aus. Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete den Tod Nawalnyjs zwar als weiteren Beweis für die Tyrannei des Putin-Regimes. Gleichzeitig verzichtete Selenskyj auf eine Würdigung von Nawalnyjs Lebenswerk. Diese Reaktion steht beispielhaft für das tiefe Misstrauen der Ukraine gegenüber der nichtsystemischen russischen Opposition. Ähnlich unterkühlt fiel die Reaktion der Selenskyj-Regierung auf den im August 2024 in Ankara vollzogenen Gefangenaustausch zwischen einigen westlichen Staaten wie den USA und Deutschland und Russland und Belarus aus. Verstärkt hat sich dieser Eindruck noch einmal, nachdem einige der freigelassenen russischen Dissidenten:innen kurz nach ihrer Haftentlassung mit fragwürdigen Äußerungen zu Russlands Krieg gegen die Ukraine unangenehm aufgefallen sind. Die zwei Oppositionellen Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa forderten bereits am Tag ihrer Freilassung die Lockerung der westlichen Sanktionen gegen »einfache russische Staatsbürger:innen.«[1] Kara-Mursa fügte am 5. August 2024 in einem BBC-Interview hinzu, dass auch die westlichen Staaten eine Mitschuld an der zweiten russischen Invasion in die Ukraine tragen würden.[2] Nach heftiger Kritik seitens vieler Ukrainer:innen schwächten beide Dissidenten ihre Aussagen später ab und verwiesen darauf, dass sie aufgrund ihrer Zeit im Gefängnis ein wenig vom politischen Weltgeschehen abgeschnitten gewesen seien. Dennoch haben sowohl die russische Exilopposition als auch die Ukraine im Putin-Regime einen gemeinsamen Feind. Die Antipathie der Ukraine gegenüber der russischen Exilopposition ist daher überraschend. Umso mehr lohnt sich eine Analyse der Motive, die der ukrainischen Skepsis gegenüber der russischen Opposition zugrunde liegen.

Ein einziges Statement von Nawalnyj als Ursache der Antipathie?

Fälschlicherweise wird das belastete Verhältnis zwischen der Ukraine und den russischen Oppositionellen in vielen Experten:innendebatten oft nur auf eine einzige Aussage Nawalnyjs vom Oktober 2014 reduziert. Kurz nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krym durch Russland beantwortete Nawalnyj die Frage des russischen Journalisten Alexej Wenediktow, ob die Krym nun endgültig russisch sei, nicht eindeutig. Nawalnyj antwortete mit einer Gegenfrage: »Ist die Krym denn irgendein Butterbrot, das man hin und her reicht?« Verständlicherweise hielt sich in der Ukraine die Begeisterung über diese ausweichende Antwort in Grenzen. Kyjiw erinnerte an Nawalnyjs Flirt mit rechtsnationalen Ideen zu Beginn seines politischen Werdegangs und die imperialistischen Züge des russischen Liberalismus. Diese liberale Haltung höre nämlich immer genau dann auf, wenn es um die Selbstbestimmungsrechte der postsowjetischen Nachbarländer Russlands gehe.

Problematisch an dieser analytischen Verengung ist einiges: Nicht nur wird die Entwicklung der Beziehung zwischen der Ukraine und der russischen Opposition auf dem Stand des Jahres 2014 »eingefroren«. Die russische Opposition wird dabei auch auf einen einzigen Akteur reduziert. Dabei ist sie aus den folgenden Gründen ein viel komplexeres Phänomen: Die russische Opposition ist (a) ein diffuses Netzwerk verschiedenster Akteur:innen, die (b) intern zerstritten sind, die (c) häufig ihre Allianzen neu verhandeln und (d) deren Distanz zum Kreml sich bedeutend unterscheidet. Seit der zweiten russischen Invasion in die Ukraine im Februar 2022 ist hinzugekommen, dass die Opposition (e) jetzt fast nur noch aus dem Exil agieren kann und (f) zwischen einem politischen und einem bewaffneten Oppositionsflügel unterschieden werden muss. Die Verengung der Perspektive auf Nawalnyj auf dem Stand von 2014 (g) schließt ebenso die Möglichkeit der graduellen Evolution der politischen Sichtweisen einzelner russischer Oppositioneller gegenüber der Ukraine von vornherein aus. So hatte das Nawalnyj-Team in seinem »15-Punkte-Manifest« aus dem Februar 2023[3] verkündet, dass die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine in ihren Grenzen von 1991 (also einschließlich der Krym) eines der Kernziele der Bewegung werden würde. Inwieweit dieser Erklärung tatsächlich auch Taten folgten, ist allerdings umstritten.

Die analytische Verengung auf einen Akteur ignoriert ebenso weitere ukrainische Vorbehalte gegenüber der russischen Exilopposition. Diese Vorbehalte beruhen (1) auf der seit 2014 wahrgenommenen politischen Ambiguität der russischen Opposition zum Thema der Krym-Annexion und westlicher Waffenlieferungen an die Ukraine. Mit Beginn des Krieges im Februar 2022 kamen noch zwei weitere Vorwürfe hinzu: (2) Zwar positioniere sich die russische Oppositionsbewegung klar gegen die Politik des Kremls, doch fehle es ihr an einem entschlossenen proukrainischen Engagement. (3) Die russische Exilopposition nutze zudem die ukrainische Agenda für ihre eigenen politischen Zwecke aus. Im Folgenden werden diese Streitpunkte eingehender analysiert.

1. Die Haltung zur Annexion der Krym und Waffenlieferungen

Es war nicht immer so, dass Kyjiw der russischen Opposition skeptisch gegenüberstand. Bei den Massenprotesten gegen die Wahlfälschungen im Zuge der Duma-Wahlen im Jahr 2011/12 boten zahlreiche ukrainische Medien russischen Oppositionsaktivist:innen eine Bühne, um das russischsprachige Publikum zu erreichen. Schon zu dieser Zeit war ihnen der Zugang zu den russischen Staatsmedien größtenteils verwehrt gewesen. Ebenso fanden einige Regimekritiker:innen und Medienschaffende Russlands – wie ehemalige Journalisten:innen des vom Kreml im Jahr 2001 übernommenen privaten Fernsehsenders NTW – vor und nach den Bolotnaja-Protesten 2011/2012 Zuflucht in der Ukraine.

Die völkerrechtswidrige Krym-Annexion 2014 stellte die russische Opposition aber vor ein wahlpolitisches Dilemma, insbesondere in der Frage, wie in zukünftigen Wahlkampagnen in Russland mit der besetzten ukrainischen Halbinsel umgegangen werden sollte. Zum einen war die Krym völkerrechtswidrig besetztes ukrainisches Staatsgebiet, so dass lokale Wahlkampfauftritte gegen westlich-liberale Werte verstoßen und damit das Verhältnis zu den westlichen Demokratien beschädigen würden. Andererseits aber begrüßte eine große Mehrheit der russischen Wählerschaft die Gebietsgewinne. Eine allzu offene Ablehnung der vom Kreml propagierten »Wiedervereinigung mit der Krym« barg für die Opposition somit Wahlkampfrisiken. In diesem Kontext sollte auch die oben erwähnte Aussage von Nawalnyj gesehen werden, in der er die Krym mit einem Butterbrot verglich.

In die gleiche Rubrik gehört die Haltung zu westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine. Schon im März 2015 sprach sich Nawalnyj in einem Beitrag für die »Washington Post« gegen Waffenexporte an die Ukraine aus.[4] Diese würden dem Kreml-Narrativ Vorschub leisten, dass der Westen aggressive, kriegerische Absichten gegenüber Russland verfolge. Bis heute ist dieses Thema in der russischen Opposition hoch umstritten. Letztendlich sollen diese Waffensysteme russische Soldaten (also Verwandte/Freunde des potenziellen Elektorats der russischen Opposition) eliminieren und/oder (militär-)industrielle Unternehmen (Arbeitgeber des eventuellen Elektorats) im russischen Kernland beschädigen. In einem Interview im Januar 2025 für die ukrainische Online-Zeitung »Kyiv Independent«[5] kritisierte der ehemalige russische Schachweltmeister Garri Kasparow, der seit 2013 im amerikanischen Exil lebt, diese zurückhaltende Position anderer russischer Dissidenten:innen. Der bekennende Kritiker des Nawalnyj-Teams stellte mit seiner Kritik das politische Selbstverständnis und die Ziele der russischen Opposition in Frage, die keine überzeugende Antwort darauf habe, gegen was sich ihre Oppositionstätigkeit eigentlich richte. Man habe eine gemeinsame Abneigung gegen die Person »Putin«. Bei dem Thema »Ukraine« jedoch scheiden sich die Geister innerhalb der Oppositionsbewegung, so Kasparow. Dies ist ein Indiz für die Grenzen des russischen Liberalismus gegenüber Russlands sogenanntem »nahen Ausland.«

Statt auf Geopolitik konzentriert(e) sich die demokratische Opposition (insbesondere das Team Nawalnyj) daher lieber auf eine populistisch angehauchte Antikorruptionskampagne gegen Putins Eliten. Doch ganz lässt sich die russische Vollinvasion der Ukraine natürlich nicht umgehen. Die Opposition hebt dabei meistens die ökonomischen Kosten dieser militärischen Interventionen für »einfache« russische Steuerzahler:innen hervor, wobei das Leid der »einfachen« Ukrainer:innen – wenn überhaupt – nur beiläufig erwähnt wird. Der Ukraine bleiben diese Zwischentöne natürlich nicht verborgen. In den ukrainischen Medien werden deswegen russische Oppositionelle in der Regel für ihre Haltung heftig kritisiert.

2. Gegen Putin zu sein sollte nicht mit einer proukrainischen Einstellung verwechselt werden

Eine gegen den Kreml gerichtete Oppositionspolitik ist damit nicht mit einer proukrainischen Haltung gleichzusetzen. So erscheinen die ehemaligen Wahlstrategien der russischen Opposition wie das vom Nawalnyj-Team entwickelte Smart Voting[6] mit Kriegsausbruch in einem völlig neuen Licht. Das Smart Voting kam bei den Wahlen für die Moskauer Stadtduma 2019 und teilweise auch bei den Parlamentswahlen 2021 zum Einsatz. Die Wahl-App schlug den Wähler:innen in ihren Wahlkreisen diejenigen Kandidaten:innen vor, die die größte Chance hatten, gegen Vertreter:innen der Regierungspartei »Einiges Russland« zu gewinnen. Tatsächlich gelang es einigen von Smart Voting empfohlenen Politiker:innen, den Gegenkandidat:innen von »Einiges Russland« einen Strich durch die Rechnung zu machen. Problematisch war dabei, dass die meisten empfohlenen Kandidaten:innen den systemischen bzw. kremltreuen Oppositionsparteien (vor allem der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation) angehörten. Diese unterstützten die Vollinvasion der Ukraine seit dem Februar 2022 nicht nur. In manchen Fällen vertraten sie hinsichtlich der Ukraine sogar noch radikalere Ansichten als der Kreml selbst.

Im März 2023 sah sich die Ukraine in ihrer Skepsis ein weiteres Mal bestätigt. Offenbar war Leonid Wolkow, der damalige Vorsitzende der von Nawalnyj gegründeten Antikorruptionsstiftung, insgeheim als Lobbyist für die russische Bank »Alfa Group« und deren Miteigentümer tätig gewesen. In einem persönlichen Schreiben[7] an Josep Borell bat Wolkow im Herbst 2022 den damaligen EU-Außenbeauftragten darum, die Vermögenswerte des EU-sanktionierten russischen Bankenmagnaten Michail Fridman von der EU-Sanktionsliste zu nehmen. Dieser habe, so das Argument in dem Schreiben, seit Kriegsbeginn beachtliche Summen an die ukrainische Zivilbevölkerung gespendet. Nachdem das Schreiben publik geworden war, trat Wolkow in Folge des Skandals von seinem Posten in der Antikorruptionsstiftung zurück. Bisher bleibt offen, inwieweit das gesamte Nawalnyj-Team in diese Lobbytätigkeit involviert war. Wolkow besteht darauf, dass er in Eigenregie gehandelt habe. Der Imageschaden war enorm und das Misstrauen der Ukraine gegenüber der russischen Opposition nahm weiter zu. Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass es in der Ukraine einen vergleichbaren »Skandal« gegeben hat. Im März 2022 berichtete »The Wall Street Journal«[8], dass Selenskyj den damaligen US-Präsidenten Joe Biden persönlich darum gebeten habe, den kremlnahen russischen Milliardär Roman Abramowitsch nicht weiter zu sanktionieren. Abramowitsch vermittelt seit Beginn der Vollinvasion 2022 informell im Auftrag von Putin zwischen Kyjiw und Moskau.[9]

3. Wie die russische Opposition die ukrainische Agenda instrumentalisiert

Mit dem Ausbruch der zweiten russischen Invasion in die Ukraine im Februar 2022 musste die russische Opposition im Exil feststellen, dass im Westen ein neuer politischer Wind weht. Der »Ukraine-First«-Ansatz vieler westlicher Staaten gestattet es den russischen Dissidenten:innen nicht mehr, in gewohnter Manier das Thema »Ukraine« zu umgehen. Die russische Exilopposition ist vor allem auf die Unterstützung ihrer westlichen Gastgeber angewiesen. Die zwei oben beschriebenen Dilemmata der Krym-Frage und der militärischen Unterstützung bleiben jedoch weiterhin bestehen.

Deshalb verbindet die Exilopposition ihre Lobbyarbeit im Westen stets mit der Ukrainethematik. Projekte der Opposition, wie die Etablierung einer eigenen Sanktionsliste (»Die Liste der 6000«[10]) im April 2022 durch das Nawalnyj-Team sollen den westlichen Entscheidungsträger:innen durch die Verknüpfung mit Russlands Aggression gegen die Ukraine »schmackhafter« gemacht werden – mit der Begründung, die Personen auf der Liste würden alle den Krieg befördern. Betrachtet man jedoch die Sanktionsliste genauer, so wird deutlich, dass zahlreiche, der vom Nawalnyj-Team gelisteten Personen sich öffentlich gegen den Angriffskrieg ihres Landes positioniert haben (und deswegen Ziel von Repressionen durch den russischen Staat geworden sind). Die Liste dient also auch als Mittel, um Konkurrenten:innen innerhalb der russischen Opposition und/oder Kritiker:innen des Nawalnyj-Teams unter Druck zu setzen. Die Ukraine und die russische Exilopposition konkurrieren also offenbar um Einfluss bei westlichen Regierungen. Interessant war auch die Öffentlichkeitsarbeit des Nawalnyj-Teams in den letzten drei Kriegsjahren. Nawalnyjs Mitstreiter:innen verwiesen immer wieder auf die ukrainischen Wurzeln Nawalnyjs väterlicherseits. Er habe zudem im Kindesalter viele Sommerferien bei seinen Verwandten in der Ukraine verbracht. Auch der verheerende Umgang des sowjetischen Regimes mit der Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl im April 1986 sei ein entscheidender Auslöser für Nawalnyjs frühe Politisierung im Kindesalter gewesen.

Die bewaffnete russische Opposition als Einflusshebel Kyjiws

Es ist also nicht verwunderlich, dass die Selenskyj-Regierung eher auf den bewaffneten Flügel der russischen Opposition setzt. Russische Einheiten wie die Legion »Freiheit Russlands« (Legion »Swoboda Rossii«) kämpfen seit Kriegsbeginn als Teile der ukrainischen Streitkräfte gegen das russische Militär. Diese kampferprobten Einheiten sind für Kyjiw politisch »bequemer«. Einerseits stellen sie ihre Opposition gegen das russische Regime mit militärischen Taten und nicht nur mit Worten unter Beweis. Andererseits unterstehen diese Kampfeinheiten der ukrainischen Oberbefehlsgewalt, sodass von ihnen keine Konkurrenz um Einfluss bei westlichen Regierungen wie im Fall der politischen Exilopposition Russlands zu erwarten ist.

Trotzdem bedeutet das nicht, dass die Ukraine der politischen Exilopposition Russlands keine Aufmerksamkeit schenkt, ganz im Gegenteil. Kyjiw organisiert mithilfe seines Militärgeheimdienstes HUR regelmäßige Zusammenkünfte des politischen und bewaffneten Flügels der russischen Oppositionsbewegung auf seinem Territorium. Die letzte Konferenz unter dem Titel »Forum der russischen Opposition« fand in Lwiw im Mai 2024 statt.[11] Zwar fehlten bei dieser Zusammenkunft wieder viele gewichtige Oppositionsakteure, wie zum Beispiel Vertreter:innen des Nawalnyj-Teams. Andere bekannte Oppositionelle wie Michail Chodorkowskij nahmen nur per Videoschalte teil. Ansonsten waren mehr als 40 weitere Dissidenten:innen anwesend, die eher der zweiten Reihe der russischen Opposition angehören. Hierzu kann man unter anderem den ehemaligen Duma-Abgeordneten und angeblichen Hauptsponsor des bewaffneten Oppositionsflügels, Ilja Ponomarjow, und den russischen Juristen Mark Fejgin zählen. Kyjiw geht es vor allem darum, die Repräsentanten:innen des bewaffneten Flügels in dem sehr komplexen Beziehungsgeflecht der heterogenen russischen Opposition besser zu verankern und ihnen somit auch ein politisches Profil zu verleihen. Hierdurch verspricht sich die Ukraine einen direkten Einflusshebel auf die weiteren Entwicklungen innerhalb der russischen Exilopposition. Die Ukraine nutzt solche Konferenzen zugleich als Werbung. Die russischen Legionär:innen erscheinen im Kreis der harmlos wirkenden liberalen russischen Intelligenzija »zivilisierter«, als sie womöglich sind. Der politische Werdegang vieler russischer Legionär:innen nahm in den rechtsradikalen Kreisen Russlands seinen Anfang, denen einst auch Nawalnyj nahestand. Dies führt in der politischen Opposition zu Berührungsängsten und zu Bedenken der Dissidenten:innen gegenüber Kyjiw.

Solche Zusammenkünfte bergen für die Ukraine auch Risiken. Einige ukrainische Akteure betrachten diese »Konferenzen« auf ukrainischem Territorium mit Argwohn. So stellte etwa der Bürgermeister von Lwiw, Andrij Sadowyj, während des letzten Forums der russischen Exilopposition eine öffentliche Anfrage[12] an die ukrainischen Sicherheitsdienste. Er sei nicht informiert gewesen, dass »irgendeine russische Opposition« sich in seiner Stadt treffe. Deshalb habe er beschlossen, die Sicherheitsbehörden einzuschalten. Dieser öffentliche Protest des Bürgermeisters von Lwiw steht sinnbildlich für das große Misstrauen der ukrainischen Bevölkerung gegenüber der russischen Exilopposition.

Fazit und Ausblick

Diese Analyse erläuterte die wichtigsten Motive für Kyjiws Skepsis gegenüber der russischen Exilopposition. Die drei Hauptgründe für diese skeptische Einstellung sind: (1) die Mehrdeutigkeit der russischen Oppositionellen hinsichtlich der Annexion der Krym und der westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine, (2) die Ausrichtung des oppositionellen Handelns, das sich klar gegen das russische Regime richtet, ohne gleichzeitig hinreichend proukrainisch zu sein und (3) die Instrumentalisierung der Ukraine für die eigenen politischen Zwecke der russischen Opposition. Die Aussichten für einen intensivierten Dialog zwischen der russischen Exilopposition und der Ukraine bleiben aufgrund der toxischen Vorgeschichte eher gering. Die Ukraine wird nach einem möglichen Waffenstillstandsabkommen Präsidentschaftswahlen nachholen müssen, die bisher aufgrund des Kriegsrechts nicht stattfinden konnten. Eine wahrgenommene Nähe zur russischen Exilopposition würden die Chancen von Kandidierenden auf einen Wahlsieg verringern. Auch die russische Exilopposition sieht eine zu starke Annäherung an Kyjiw negativ. Die Propagandamaschine des Kremls würde diese Nähe sofort ausschlachten und als Staatsverrat darstellen. Der Einfluss der Exilopposition auf die russische Bevölkerung würde so weiter abnehmen.

Es ist tatsächlich eher im westlichen Interesse, die Etablierung des von Kyjiw geförderten bewaffneten Flügels der russischen Opposition distanziert zu begrüßen. Denn die oben beschriebenen Konferenzen der russischen Opposition (beider Flügel) auf ukrainischem Boden deuten darauf hin, dass Kyjiw die russischen Legionär:innen mithilfe der politischen Opposition politische Legitimation verschaffen möchte. Ziel ist es hierbei primär, diese Militärs auch als politische Gruppierungen bzw. als »Partei« zu etablieren. Ein ähnlicher Mechanismus ist schon eine Weile im Umgang Kyjiws mit der belarusischen Opposition zu beobachten.[13] Aufgrund ihrer nachweislichen militärischen Leistungen im Kampf gegen den Kreml wird eine solche politische Gruppierung sicherlich in der Lage sein, politische Anhänger:innen in oppositionellen Kreisen Russlands zu gewinnen, denen die bisherige, nur verbal betriebene Opposition gegen den Kreml als unzureichend erscheint. Mit der zunehmenden politischen Relevanz dieses neuen Akteurs gerät daher der politische Flügel der russischen Exilopposition zunehmend unter Druck, sich (z. B. nach dem Vorbild der (politischen) belarusischen Exilopposition) im Rahmen gemeinsamer Institutionen zu konsolidieren, endlich mit einer Stimme zu sprechen und ihre vor allem in sozialen Medien geführten Schlammschlachten möglichst einzudämmen.

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Verweise

[1] Tschirin, Wladislaw (2024): Jaschin mensche nedeli na svobode, a ego ushe rugajut sa posiziju po Ukraine. Bumaga. https://paperpaper.io/yashin-menshe-nedeli-na-svobode-a-ego-uzhe/; Kokotjucha, Andrej (2024): Moltschanie rossickich jagnjat. New Voice. https://nv.ua/opinion/press-konferenciya-yashina-i-kara-murzy-kokotyuha-o-rossiyskoy-oppozicii-50440408.html.

[2] Rainsford, Sarah (2024): Vladimir Kara-Murza thought he would die in Russian prison. In: BBC News, 05.08.2024. https://www.bbc.com/news/articles/crg55g4z526o.

[3] Alexej Nawalnyj (2023): 15 Thesen eines russischen Bürgers, der am Wohlergehen seines Landes interessiert ist. https://laender-analysen.de/russland-analysen/450/15-thesen-russischer-buerger-wohlergehen/.

[4] Birnbaum, Michael; Demirjian, Karoun (2015): An interview with Kremlin critic Alexei Navalny. In The Washington Post, 18.03.2015. https://www.washingtonpost.com/news/worldviews/wp/2015/03/18/a-rare-interview-with-kremlin-critic-alexei-navalny/.

[5] Kyiv Independent (2025): Garry Kasparov on modern Russian empire. YouTube-Kanal von Kyiv Independent. https://www.youtube.com/watch?v=dhwukP-TvLM&list=PLgwjlDA8cJVZCLHYRpDgfwlPp97FFiBdY.

[6] Jan Matti Dollbaum, Morvan Lallouet, Ben Noble (2021). Alexei Nawalnyj, »Smart Voting« und die Wahlen zur russischen Staatsduma 2021. https://laender-analysen.de/russland-analysen/407/alexei-nawalnyj-smart-voting-und-die-wahlen-zur-russischen-staatsduma-2021/.

[7] Radio Swoboda (2023): Leonid Wolkow objawil o priostanowke publitschnoj dejatelnosti [»Leonid Volkov kündigte die Einstellung seiner öffentlicher Aktivitäten an«]. Webseite von Radio Swoboda. https://www.svoboda.org/a/leonid-volkov-obyavil-o-priostanovke-publichnoy-deyateljnosti/32310254.html.

[8] Salama, Vivian; Scheck, Justin; Colchester, Max (2022): Ukrainian President Asked Biden Not to Sanction Abramovich, to Facilitate Peace Talks. In: The Wall Street Journal, 23.03.2022. https://www.wsj.com/articles/ukrainian-president-asked-biden-not-to-sanction-abramovich-to-facilitate-peace-talks-11648053860.

[9] Walker, Shaun (2022): Why is Abramovich playing peacemaker after Russia’s invasion of Ukraine? In: The Guardian, 29.03.2022. https://www.theguardian.com/world/2022/mar/30/why-is-abramovich-playing-peacemaker-after-russias-invasion-of-ukraine.

[10] The International Anti-Corruption Foundation (ACF) (2025): Sanctions tracker: The ACF 6000 List. Webseite von »The International Anti-Corruption Foundation (ACF)«. https://sanctions.acf.international/?utm_campaign=fbkinfo.

[11] Anna Pschemyskaja (2024): «My wasche orushie». tschto skasala wo Lwowje rossijskaja opposizija [»›Wir sind eure Waffe.‹ Was die russische Opposition in Lwiw sagte«]. Deutsche Welle (Russian version). https://www.dw.com/ru/my-vase-oruzie-o-cem-govorili-vo-lvove-rossijskie-oppozicionery/a-69173866; Oleinik, Tatjana (2024): Budanow poddershal prowedenije «Foruma rossijskoi opposizii» wo Lwowe. Ukrainskaja prawda [»Budanov unterstützte die Abhaltung des ›Forums der russischen Opposition‹ in Lwiw«]. https://www.pravda.com.ua/rus/news/2024/05/23/7457339/.

[12] Telegram-Channel von Andrij Sadowyj (2024): Telegram-Post vom 23.05.2024. https://t.me/andriysadovyi/2261.

[13] Ginzburg, Boris (2024): Kyjiws strategische Distanz zur belarusischen Opposition. In: Ukraine-Analysen (307), S. 2–6. DOI: 10.31205/UA.307.01. https://laender-analysen.de/ukraine-analysen/307/kyjiws-strategische-distanz-zur-belarusischen-opposition/.

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