Veränderungen bei den Forschungsthemen russischer Wissenschaftler:innen nach Beginn der russischen Vollinvasion in die Ukraine: Empirische Erkenntnisse aus bibliometrischen Datenbanken

Von Yegor Albitskii (Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, Berlin)

Zusammenfassung
Dieser Beitrag analysiert, wie sich die Forschungsthemen russischer Sozialwissenschaftler:innen seit dem Beginn der russischen Vollinvasion in die Ukraine verändert haben. Dabei wird untersucht, wie der Krieg – und die davon begleiteten Einschränkungen der akademischen Freiheit – den wissenschaftlichen Diskurs verändert hat. Basierend auf einer Analyse von Titeln wissenschaftlicher Artikel in Zeitschriften, die in der Wissenschaftsdatenbank Scopus geführt werden, sowie mit einem Vergleich von englisch- und russischsprachigen Publikationen, versucht dieser Beitrag, die Änderungen bei den Forschungsthemen aufzuzeigen. Es werden sowohl kriegsbezogene Themen untersucht wie auch Bereiche, die breiteren Einschränkungen unterworfen sind, z. B. Gender- und LGBTQ+-Studien. Dieser Beitrag soll verdeutlichen, welche Folgen außerwissenschaftlicher Druck auf die akademische Freiheit und die Integrität sozialwissenschaftlicher Forschung in Russland haben kann.

Auswirkungen des Kriegs auf die russische Forschung

Frühere Forschungsarbeiten haben bereits aufgezeigt, wie der Krieg zu einem Rückgang bei der internationalen Zusammenarbeit von russischen Wissenschaftler:innen[1] und einer dramatisch gestiegenen Emigration der produktivsten Gesellschaftswissenschaftler:innenen geführt hat.[2] Darüber hinaus sind es insbesondere die zunehmenden Risiken für die akademische Freiheit, die durch veränderte Forschungsthemen bei den veröffentlichten Ergebnissen sichtbar werden, die größten Anlass zur Sorge geben.

Politikwissenschaftliche Studien haben eine beträchtliche kriegsbedingte rhetorische Konvergenz innerhalb der russischen politischen Klasse herausgearbeitet. Narrative im öffentlichen Raum werden vor allem von staatlichen Interessen bestimmt, und Abweichungen werden immer weniger toleriert.[3] Auch die wissenschaftlichen Institutionen in Russland bedienen zunehmend die Agenda des Staates. Diese hat sich von einer Optimierung der staatlichen Regierungsführung und der Schaffung von Voraussetzungen für Russlands Präsenz im globalen Wissenschaftsmarkt im Vorfeld der Vollinvasion in die Ukraine wegbewegt, hin zu einer Sicherung der Regimestabilität.[4] Diese Studie versucht, diese Verschiebungen empirisch zu erfassen, um mögliche Veränderungen im Bereich der Wissenschaft, bei deren Freiheit wie auch bei der Integrität der Sozial– und Geisteswissenschaften in Russland sichtbar zu machen.[5]

Daten, Forschungsdesign und Methoden

Zur Analyse, wie sich die Forschungsthemen verändert haben, wurde eine Datenbank mit wissenschaftlichen Artikeln erstellt, die bei Scopus[6] indiziert werden. Dabei wählte ich Publikationen in Zeitschriften aus, die bei Scopus unter den Themenbereichen Sozial– und Wirtschaftswissenschaften sowie Kunst und Geisteswissenschaften eingeordnet sind, und bei denen mindestens eine:r der Verfasser:innen in Verbindung mit einer russischen Forschungseinrichtung stand. Scopus wurde gewählt, weil dort die meisten Zeitschriften in englischer und russischer Sprache geführt werden, und zwar mit wenigstens minimalen Qualitätsanforderungen. Daher kann Scopus als umfassendste Quelle für russische Sozial– und Geisteswissenschaften betrachtet werden.

Der Datensatz umfasst Titel, Schlagwörter und Metadaten von Artikeln mit Peer-Review-Verfahren aus dem Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis 31. Dezember 2023. In diesem Zeitraum gab es beträchtliche exogene Schocks (wie etwa die Coronapandemie oder die Vollinvasion in die Ukraine), deren Auswirkung auf den Inhalt von wissenschaftlichen Zeitschriften somit untersucht werden kann. Insgesamt umfasst die Datenbank 103.434 Fachartikel (57.027 auf Russisch und 46.407 auf Englisch), die bei Scopus geführt werden. Allein die Titel umfassen 1,86 Milliarden Token [Token sind die kleinsten Einheiten, in die Wörter für die Verarbeitung natürlicher Sprache unterteilt werden, Anm. d. Red.].

Die Studie wendete Methoden der linguistischen Verarbeitung natürlicher Sprache an (Natural Language Processing, NLP) und konzentrierte sich vor allem auf die Messung von Begriffshäufigkeiten. Dabei wird die Popularität von Begriffen in den wissenschaftlichen Publikationen anhand der Häufigkeit gemessen, in der sie in den Titeln der Artikel auftreten. Dahinter steht die Logik, dass die Titel typischerweise konzentriert den Inhalt eines Artikels wiedergeben, so dass gezielt bestimmte Themen oder Themenbereiche herausgefiltert werden können. Die Häufigkeit eines Begriffs verweist deswegen auf dessen Bedeutung.[7]

Mit der relativen Häufigkeit bestimmter Schlüsselwörter wie »Krieg«, »Kriegsführung« oder »Militär« wird das Thema »Krieg« gemessen. Vor der Analyse wurde eine Tokenisierung und Lemmatisierung vorgenommen und Wörterbücher erstellt, damit Begriffe und Wörter wie »China«, »chinesisch«, und »Chinas« zu einem einzelnen Token gebündelt werden. Auch wurden Stoppwörter wie »in« oder »des/der« entfernt, wonach nur bedeutungstragende Wörter übrigblieben.

Vorab wurden die folgenden Themen identifiziert, die näher untersucht werden sollten:

(1) Die erste Themengruppe konzentriert sich auf Länder und Regionen. Als erstes wurde das Forschungsinteresse für die Ukraine, wie auch für die Krym und den Donbas untersucht. Zur Kontrolle messe ich auf gleiche Weise das Interesse an Belarus, um im Vergleich zu anderen Regionen und Ländern, die in der russischen Außenpolitik eine besondere Stellung einnehmen, den Trend bei der Verwendung des Begriffs zu analysieren. Darüber hinaus analysiere ich die Häufigkeit der Begriffe »USA«, »China«, »Europa«, »Indien« und »Asien«.[8]

(2) Das zweite Thema bezieht sich direkt auf den Krieg. Dieses Thema umfasst Begriffe wie »Krieg«, »Militär« und »Kriegsführung«. Der Begriff »Konflikt« wurde hier als Kontrolle herangezogen.

(3) Andere Begriffsgruppen beziehen sich auf die Beschreibung politischer Prozesse, wobei die Wörter »Demokratie«, »Autoritarismus« und »Wahlen« verwendet werden. In Bezug auf Wahlen betrachten wir den Begriff »Abstimmung« gesondert, der im Russischen eine leicht abweichende Bedeutung hat und eher ein »Wahlprozedere« beschreibt als typisch demokratische Wahlen.

(4) Das vierte Thema umfasst zwei Gruppen von Begriffen: eine in Bezug auf Genderfragen, vor allem im Kontext von Genderidentität und -repräsentation, mit Frauenforschung als zentrales Forschungsfeld; die zweite Gruppe bezieht sich auf LGBTQ+-verwandte Themen. Als Kontrolle der Verwendung des Begriffs »Gender«, den der russische Staat ablehnt (wie Genderstudien im Allgemeinen) wurde in den Titeln der Artikel gesondert nach »Frauen« gesucht als Hinweis auf ein generelles Interesse an Frauenforschung.

Als Kontrollthema habe ich zusätzlich »Corona« hinzugenommen, das sich seit Beginn der Pandemie zu einem signifikanten Thema der Sozialwissenschaften entwickelt hat.

Der Analysegegenstand sind die Wörter/Begriffe/Konzepte in den Titeln der Artikel sowie die jeweiligen Themen. Dadurch können thematische Veränderungen anhand einer großen Datenmenge analysiert werden. Dieser Ansatz macht es möglich, die kollektive Reaktion der Wissenschaftler:innen auf bestimmte Entwicklungen besser zu verstehen, weil ein umfassenderer Blick auf Verschiebungen im Forschungsdiskurs möglich wird. Im nächsten Schritt zähle ich die Häufigkeit jedes Begriffs und erstelle eine Rangliste aller Wörter. Der abschließende Datensatz besteht aus 4.636 Begriffen. Für jeden Begriff ergibt sich ein Rang, der die Popularität relativ zu den anderen Begriffen ausdrückt, eben aufgrund der Anzahl ihrer Erwähnungen. Der häufigste Begriff, nämlich »Russland/russisch«, trat 2.650 Mal im Jahr 2021 auf und 2.611 Mal im Jahr 2023. Die übrigen 24 häufigsten Begriffe sind in der Wortwolke in Grafik 1 zu sehen.

Die Studie konzentrierte sich auch darauf, wie sich das Interesse an den verschiedenen Themen zwischen russisch– und englischsprachigen Publikationen unterscheidet. Die Annahme war, dass diese Unterschiede in ihrer Intensität variieren können. Ich ging davon aus, dass die Veränderungen bei den Forschungsinteressen bei politisch stärker kontroversen Themen in russischsprachigen Zeitschriften deutlicher ausfallen, da die überwiegende Mehrheit dieser Zeitschriften in Russland registriert sind, wodurch sie anfällig für oder Objekt von Zensur sein können. Das zeigen Daten aus einem anderen autoritären Regime, das das Potenzial hat, in die Wissenschaft einzugreifen, nämlich China.[9] Internationale Zeitschriften sind unabhängig vom russischen Staat, was sie gegenüber einem möglichen Einfluss durch regimekonforme Diskurse widerstandsfähiger macht. Daher ist es unwahrscheinlicher, dass hier thematische Verschiebungen erfolgen oder regimefreundliche Rhetorik einsickert. Gleichzeitig formulierte ich die Hypothese, dass die Ignorierung oder Unterrepräsentierung von wichtigen Themen eher die Folge von direkter Zensur oder Selbstzensur sein kann als von gegenseitiger Kontrolle innerhalb der Forscher-Community.

Ergebnisse

(1) Länder und Regionen

Grafik 2 verdeutlicht, dass das Interesse an der Ukraine sowohl in englischsprachigen wie auch in russischsprachigen Publikationen 2015 relativ bescheiden und geringer blieb als das Interesse an Europa und einigen anderen Ländern und Regionen. Das Interesse an der Ukraine erreichte 2015 in russischsprachigen Publikationen einen Höhepunkt, wobei es 2016 in englischsprachigen Publikationen sehr viel prominenter vertreten war. Das fiel in die ersten Jahre der russischen Aggression und legt nahe, dass in der Frühphase des hybriden militärischen Konflikts besonderes Augenmerk auf dieses Thema gelegt wurde. Das verspätet gestiegene Interesse in englischsprachigen Zeitschriften lässt sich durch die Dauer der Publikationszyklen erklären. Nach einem Anstieg nach der Vollinvasion (der in russischsprachigen Publikationen viel schwächer ausfiel) überstieg das allgemeine Interesse an der Ukraine in beiden Sprachen nie das Niveau der Jahre 2015/16.

In russischsprachigen Publikationen ist das Interesse an der Krym seit 2019 mindestens doppelt so groß wie das Interesse an der Ukraine. Gleichzeitig hat das Interesse an der Krym in englischsprachigen Artikeln nie das Interesse für die Ukraine übertroffen. Der Donbas blieb in beiden Sprachen ein Randthema. Diese Ergebnisse zeigen, dass russische Wissenschaftler:innen sich nicht auf Russlands Aggression gegen das Territorium der Ukraine konzentrieren, sondern auf die »Integrierung« der Krym in die Russische Föderation. Das Interesse russischer Wissenschaftler:innen an der Krym nahm 2023 in Publikationen auf beiden Sprachen ab. Das zeigt, dass Wissenschaftler:innen zunehmend bestimmte Themen meiden, da die Zensur immer strenger wurde.

Belarus – ein Land, das Russland historisch recht nahesteht – nimmt eine bescheidene Stellung ein, verglichen mit anderen für russische Wissenschaftler:innen interessanten Ländern. Das Land tauchte 2013 erstmals in den Daten auf und erfuhr ein zunehmendes Interesse, insbesondere nach 2020. Das bedeutet, dass die Proteste nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen in Belarus in einem gewissen Maße die Aufmerksamkeit der Wissenschaft auf dieses Land lenkten.

Unter den ausgewählten Regionen steht Europa an oberster Stelle, was das wissenschaftliche Interesse russischer Wissenschaftler:innen anbelangt. Das Interesse an China ist seit 2013 stetig gestiegen und kommt in den letzten Jahren an das Interesse an Europa heran. Es ist nicht auszuschließen, dass China schließlich bis Ende 2024 mit Europa gleichziehen oder in russischsprachigen Publikationen Europa gar überholen wird. Die USA (Amerika) wiesen hier im Beobachtungszeitraum eine ansteigende Tendenz auf, stießen aber auf Englisch seit 2013 auf weniger Interesse als China, wie auch seit 2017 in russischsprachigen Artikeln. Indien erscheint in den Publikationen erstmals 2015 und hat seitdem an Bedeutung gewonnen, mit einem starken Anstieg 2022 und 2023. Zusammen mit dem starken Interesse an China reflektiert dies, dass die »Wende gen Osten« in Russlands Außenpolitik sich auch in den wissenschaftlichen Publikationen widerspiegelt.

(2) Krieg

Grafik 4 zeigt die Veränderungen bei der Häufigkeit, mit der kriegsbezogene Begriffe in englisch– und russischsprachigen Publikationen auftauchen, etwa in Worten, die sich direkt auf den Krieg beziehen (wenn das Thema die Begriffe »Krieg«, »Kriegführung« oder »Militär« enthält). Die Popularität dieses Themas stieg von 2011 bis 2023 in beiden Sprachen drastisch an. Vor allem ist das Thema »Krieg« im gesamten Beobachtungszeitraum in russischsprachigen Publikationen viel populärer gewesen. Das kann darauf zurückgeführt werden, dass das Forschungsinteresse an Krieg, insbesondere am Zweiten Weltkrieg (dem »Großen Vaterländischen Krieg«) allgemein groß ist. Gleichzeitig ist zu beachten, dass in Russland Geschichte einen bedeutsamen Platz in den Sozial– und Geisteswissenschaften einnimmt.

In englischsprachigen Publikationen sind beim Thema Krieg drei Höchststände zu beobachten: 2014, 2019 und 2022. Der Höchststand von 2019 kann durch das Zusammentreffen diverser runder Jahrestage erklärt werden: ein Jahrhundert seit dem Ende des Ersten Weltkriegs, 80 Jahre seit Beginn des Zweiten Weltkriegs und 30 Jahre seit dem Ende des Kalten Krieges. Die Höchststände 2014 und 2022 können durch das militärische Vorgehen Russlands in der Ukraine erklärt werden. Das relativ geringe Interesse an der Ukraine, der Krym und dem Donbas (s. Grafik 2) und die relativ langen Publikationszyklen machen dies jedoch unwahrscheinlich.

In russischsprachigen Publikationen sind 2014 und 2019 zwei Höchststände zu beobachten sowie anschließend ein anhaltend hoher Anteil, der 2023 weiter ansteigt. Der Spitzenwert von 2014 und der Anstieg 2023 lassen sich nicht so leicht unmittelbar der Besetzung der Krym und den Kämpfen im Donbas zuschreiben, da das wissenschaftliche Interesse an der Ukraine ähnlich wie bei englischsprachigen Publikationen eher gering bleibt (Grafik 2). Es ist vielmehr plausibler, dies durch eine breitere Verschiebung des Interesses hin zu kriegsbezogenen Themen zu erklären, die in der russischen Forschung erfolgte. Das wurde weitgehend auch durch die russische Regierung beeinflusst, die im Land der wichtigste Geldgeber für Forschung ist; Russland betrachtet seine militärischen Fähigkeiten zunehmend als wichtiges Kapital. Diese Sichtweise war insbesondere im Kontext der Besetzung der Krym und der beginnenden Kämpfe in der Ukraine von Bedeutung. Daher konzentrieren sich russische Wissenschaftler:innen seit 2014 zunehmend auf Themen, die mit Strategien und militärischer Macht zu tun haben. Analysen, Kritik oder Rechtfertigung bestimmter militärischer Aktionen in der Ukraine spielen weniger eine Rolle. Die erwähnten Jahrestage zu vergangenen Kriegen sorgten ebenfalls für den Höchststand von 2019.

(3) Politik

Die Grafiken 5 und 6 illustrieren die Veränderungen der letzten Jahre beim wissenschaftlichen Interesse an verschiedenen politischen Themen. Insgesamt bleibt das Interesse an »Demokratie«, »Autoritarismus«, »Wahlen« und »Abstimmung« im Beobachtungszeitraum mäßig. Dabei waren hier »Wahlen« das häufigste Thema. Mehrere Studien haben gezeigt, dass Forschung zum gegenwärtigen Regime in Russland und dessen Merkmalen bereits vor 2022 zunehmend problematisch geworden war. Einige Begriffe wie etwa »Autoritarismus« (bezogen auf das politische System in Russland) sind in russischen Fachpublikationen praktisch aus dem Vokabular verbannt worden. Das ist insbesondere in russischsprachigen Publikationen feststellbar, aus denen der Begriff »Autoritarismus« 2023 vollständig verschwunden ist. Bezeichnenderweise schreiben russische Wissenschaftler:innen auf beiden Sprachen mehr über Demokratie als über Autoritarismus.

Auch die Analyse zu den Begriffen »Wahlen« und »Abstimmung« zeigt eine interessante Entwicklung auf. Es gab zwar einige Rückgänge und Anstiege, doch ist das Interesse an »Wahlen« im Großen und Ganzen während des Untersuchungszeitraums auf dem gleichen Niveau geblieben. Das Interesse an »Abstimmung«, einem Begriff, der oft synonym für undemokratische Wahlen verwendet wird, unterscheidet sich hingegen in englisch– und russischsprachigen Artikeln beträchtlich. Während »Abstimmung« in russischsprachigen Publikationen nie besonders populär war, gibt es auf Englisch 2012 und 2023 ein merklich gestiegenes Interesse an diesem Thema. Das könnte zwar ein Datenartefakt sein, doch dürfte es auf eine verschärfte Zensur hinweisen, die in russischsprachigen Zeitschriften stärker ausgeprägt ist.

(4) Frauenforschung und LGBTQ+-Studien

Zwei andere Forschungsbereiche sehen sich seit Jahren erheblichen Beschränkungen gegenüber: Frauenforschung und Queer Studies. Grafik 7 verdeutlicht die Veränderungen bei der Häufigkeit von Begriffen aus diesen Forschungsbereichen.

Die Veränderung der Häufigkeit über die Zeit bei den Themen »Gender« und »Frauen« ist besonders markant. Zum einen kommen diese Themen häufiger in russischsprachigen als in englischsprachigen Artikeln vor. Zweitens ist »Frauen« in russischsprachigen Artikeln zwar durchgehend häufiger anzutreffen als »Gender«, doch gibt es seit 2020 einen merklichen Rückgang des Interesses an »Gender«. Dieser Rückgang wurde wohl durch die Haltung der Regierung beeinflusst, die durch die Verfassungsänderungen manifest wurde, mit denen »traditionelle Werte« gefördert werden sollen. Dieser Rückgang könnte auf eine Grenzverschiebung hindeuten, welche Art von Forschung in Russland noch erlaubt ist und wie sich deswegen die Forschung strategisch umorientiert hin zu weniger umstrittenen Aspekten des Gender-Diskurses.

In den Jahren, in denen der Krieg gegen die Ukraine geführt wird, ist beim Thema Genderfragen eine Fortsetzung des starken Rückgangs zu beobachten. In englischsprachigen Publikationen, wo »Gender«-Fragen zunehmend präsent waren und die Zahl der »Frauen«-Erwähnungen übertrafen (mit einer Ausnahme 2019), kehrte sich die Situation 2023 um.

Das Thema LGBTQ+ bleibt für russische Wissenschaftler:innen ein Randthema. Es ist zwar in englischsprachigen Publikationen durchweg präsent, kam aber in russischsprachigen Artikeln erst 2022 auf. Dieser Umstand verweist auf einen vorsichtigen Umgang mit LGBTQ+-Themen, wohl als Reaktion auf die gegen LGBTQ+-Personen gerichtete Gesetzgebung in Russland. Diese hatte wohl das öffentliche wie das wissenschaftliche Interesse an diesen Themen angeregt. Das gestiegene Interesse in englischsprachigen Zeitschriften kann dem Umstand zugeschrieben werden, dass Wissenschaftler:innen, die zu LGBTQ+-Themen forschen und des Englischen mächtig sind, es vorziehen ihre Ergebnisse außerhalb von Russland zu veröffentlichen, wo es eine größere Akzeptanz und mehr institutionelle Unterstützung für Forschungen zu LGBTQ+-Themen gibt – wie auch Möglichkeiten, mit dieser Forschung eine wissenschaftliche Anstellung zu bekommen.

Zusammenfassung

Insgesamt scheint die Welt der russischen Wissenschaft mit ihrem beträchtlichen Umfang an englisch– und russischsprachigen Publikationen nicht zu einer propagandistischen Echokammer geworden zu sein. Andererseits ist offensichtlich, dass Forschungsthemen mit den vom Staat bestimmten Themen auf Linie gebracht (siehe den abnehmenden Gebrauch von »Gender« und den Aufstieg von »Frauenstudien«) und die Erforschung sensibler Themen wie die russische Vollinvasion in die Ukraine vermieden werden. Diese Umorientierung ist nicht ganz überraschend, wenn man die beschränkte institutionelle Autonomie und den Druck bedenkt, der auf die Wissenschaft in Russland ausgeübt wird. Das dürfte zu einer nuancierten Anpassung in der Wissenschaft führen, indem Themen behandelt werden, die allgemein gestattet sind oder zumindest nicht direkt der Politik des Staates entgegenstehen. Zusammengenommen verweisen diese Ergebnisse auf eine Reihe von Veränderungen in der Forschungslandschaft der Sozial– und Geisteswissenschaften, die durch politische Ereignisse und die Politik des Staates bewirkt wurden, insbesondere in letzter Zeit. Das komplexe Wechselspiel zwischen Themenwahl und politischen Entwicklungen ist weiterhin prägend und spiegelt sowohl die Grenzen der Forschung wie auch die strategische Anpassung an eine schwierige politische Umgebung wider.

8_ra463.jpg

9_ra463.jpg

10_ra463.jpg

11_ra463.jpg12_ra463.jpg13_ra463.jpg14_ra463.jpg


Verweise

[1] Zhang, L., Cao, Z., Sivertsen, G., and Kochetkov, D., “The influence of geopolitics on research activity and international collaboration in science: the case of Russia,” Scientometrics (2024): 1–15.

[2] Albitskii, Y., “The impact of war on the migration of social scientists from Russia,” Manuscript in Vorbereitung (2024).

[3] Dollbaum, J. M., and Kim, S., “Going jingo: a classification of the wartime positions of Russia’s ‘systemic opposition’ parties,” Post-Soviet Affairs, 40/3 (2024): 222–241.

[4] Zavadskaya, M., and Gerber, T., “Rise and fall: social science in Russia before and after the war,” Post-Soviet Affairs, 39/1-2 (2023): 108–120.

[5] Die empirische Forschung hat sich eingehend mit der Zensur, insbesondere der Zensur im Bereich der Wissenschaft, befasst, vor allem mit Blick auf China. Reny (2016) (https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/ssqu.12345) hat den Einfluss des chinesischen Autoritarismus auf die Politikwissenschaft untersucht, wobei die Strategien der Wissenschaftler:innen herausgestellt werden, die Beschränkungen zu umgehen. Corduneanu-Huci und Hamilton (2018) (https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/10584609.2022.2074587) untersuchten rund 9.000 Fälle von Zensur in 196 Ländern. Dabei stellte sich heraus, dass politisch einflussreiche Medien am stärksten betroffen sind. Wong and Kwong (2019) (https://doi.org/10.1017/S1049096518002093) dokumentieren Forderungen chinesischer Behörden gegenüber »The China Quarterly«, die den Einfluss Chinas auf Zensur weltweit deutlich machen. Clark et al. (2023) (https://www.pnas.org/doi/abs/10.1073/pnas.2301642120) erforschten die Selbstzensur unter Wissenschaftler:innen, die vorrangig in altruistischen Motiven begründet lag, und lieferten dadurch eine weitere Komponente des komplexen Phänomens Zensur. Im Vergleich hierzu fällt die Forschung zur Zensur in Russland spärlich aus.

[6] Scopus ist eine spezielle Datenbank für Abstracts und Zitierungen, die 2004 von dem Wissenschaftsverlag »Elsevier« geschaffen wurde.

[7] Eine vergleichbare Methode wurde in dieser Studie angewandt: Dollbaum, J. M., and Kim, S., “Going jingo: a classification of the wartime positions of Russia’s ‘systemic opposition’ parties,” Post-Soviet Affairs, 40/3 (2024): 222–241.

[8] Bei allen Begriffen berücksichtigte ich auch Varianten wie etwa »USA« und »Amerika« in Bezug auf die Vereinigten Staaten.

[9] Wong, M. Y., and Kwong, Y. H., “Academic censorship in China: The case of the China Quarterly,” PS: Political Science & Politics, 52/2 (2019): 287–292.

Zum Weiterlesen

Analyse

Der Stand der Wissenschaftsfreiheit in Russland 2022–2024

Von Dmitry Dubrovskiy
Diese Analyse liefert detaillierte Einblicke in die Entwicklung, die die russische Wissenschaft und die Hochschullandschaft Russlands, gemessen an den fünf Dimensionen akademischer Freiheit, wie sie durch den »Academic Freedom Index« festgelegt werden, in den Jahren 2022 bis 2024 durchlaufen hat.
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS