»Auch der Rasen vor meinem Haus ist Politik«: Die (Ent)Politisierung des urbanen Aktivismus nach dem Februar 2022

Von Julia Solneva

Zusammenfassung
In dieser Analyse wird untersucht, wie urbane Aktivist:innen das Politische in ihrer Tätigkeit seit der Vollinvasion in die Ukraine im Februar 2022 verstehen. Anhand von Beobachtungen und Interviews mit Vertreter:innen urbaner Bewegungen und Initiativen (2022–2024) wird gezeigt, dass sich kollektives Handeln nur selten ausschließlich als Prozess einer Politisierung oder aber Entpolitisierung einordnen lässt. Je nach Situation verleihen die Aktivist:innen ihren Strategien und Positionen teils widersprüchliche Bedeutung. Diese auf den ersten Blick fehlende Konsequenz und Eindeutigkeit des Vorgehens und der Strategien hilft ihnen, im autoritären Russland zu bestehen.

Die Stadt als Raum des politischen Kampfes?

In der Forschung zu sozialen und urbanen Bewegungen wird Protest oft als unabdingbarer Bestandteil des öffentlichen Lebens betrachtet. Versammlungen und Demonstrationen, bei denen die Bürger:innen ihre Forderung gegenüber dem Staat vorbringen, sind eine verbreitete Form politischen Handelns. Davon sprechen beispielsweise die Wissenschaftler Erik Swyngedouw und Mustafa Dikeç, die eine Theorie der sich politisierenden Stadt vorgelegt haben: Die Straßen und Plätze der Stadt sind der Raum für Forderungen nach Gerechtigkeit, wobei all diejenigen, die sich gegen das bestehende System wenden, zu politischen Subjekten werden. Dabei wird jener Aktivismus, bei dem sich Bewohner:innen der Stadt lediglich wegen lokaler Probleme zusammenschließen als nicht hinreichend politisiert kritisiert, weil er nicht zu strukturellen Veränderungen in der Politik des Staates führt.

Bei Gesprächen mit Aktivist:innen in Russland ist mir mehrfach eine ganz andere Auffassung vom Politischen begegnet. Im Oktober 2022 erklärte Julija, die sich an einer urbanen Begrünungsinitiative beteiligt, ihre Position so: »Auch der Rasen vor meinem Haus ist Politik. Ich kann zum Beispiel überhaupt nicht auf Putin einwirken, aber ich kann in meinem Bezirk wirken. Und das ist politisch, nämlich in dem Sinne, dass man versuchen kann, mehr Leute in diese Aktivitäten einzubinden.« Solche Argumente werden oft als Versuch interpretiert, einem apolitischen Aktivismus, der nicht in der Lage ist, das Geschehen in der »großen Politik« zu verändern, Bedeutsamkeit zu verleihen. Und genau das sehen wir: Bei urbanen Konflikten hält die Auseinandersetzung auf lokaler Ebene den Staat nicht davon ab, Krieg gegen ein anderes Land zu führen. Es lohnt sich aber ein genauer Blick darauf, warum die Vorstellung des Politischen sich in einem autoritären Staat, der sich im Kriegszustand befindet, auf die lokale Ebene verschiebt. Damit lassen sich weniger offensichtliche und vielschichtige Entwicklungsschritte erkennen, durch die sich zivilgesellschaftliche Subjekte herausbilden. Folgt man dieser Sichtweise, schafft urbaner Aktivismus die Möglichkeit, dass Menschen sich zusammenschließen und die Erfahrung kollektiven Handelns machen, weil ein direkter Widerstand gegen das Regime durch massenhaften Protest nicht erreichbar ist.

Die im Vergleich zu Massenprotesten starke Verbreitung von lokalem Aktivismus bedeutet nicht, dass es im postsowjetischen Russland keinen Platz für Dissens gab. Die Proteste auf dem Bolotnaja-Platz 2011/12 gegen die gefälschten Duma-Wahlen und die Umweltproteste in Schijes 2018–2020 gegen den Bau einer Mülldeponie belegen das Gegenteil. Gleichzeitig bleiben seit Beginn der Vollinvasion in die Ukraine, nachdem Massenaktionen fast völlig aus dem öffentlichen Raum verschwunden sind, allerdings andere Formen des Widerstands: Einzelmahnwachen, Antikriegssticker und -flugblätter, Plakate werden aufgehängt (häufig anonymisiert), an Denkmälern für die Opfer politischer Repressionen werden Blumen niedergelegt, oder es gibt Situationen, in denen der urbane Raum gegen Eingriffe verteidigt wird (z. B. Proteste gegen Abholzung oder Baumaßnahmen[1]). Das Fragmentarische des Protests und die Konzentration auf Handlungen, die zeitlich und räumlich gestreut sind, ist darauf zurückzuführen, dass öffentlicher Protest für Aktivist:innen die Gefahr birgt, festgenommen, strafrechtlich verfolgt und verurteilt, ins Gefängnis geworfen oder mit Polizeigewalt konfrontiert zu werden. Dieses Risiko hat in den vergangenen drei Jahren stetig zugenommen.[2] Diese Risiken erzeugen eben jene »Unmöglichkeit«, auf das System einzuwirken: Die Unterschiede zu Demokratien hinsichtlich der rechtlichen Rahmenbedingungen und der staatlichen Gegenmaßnahmen können beträchtlichen Einfluss auf die Formen und Praktiken des Widerstands haben. Darüber hinaus sind urbane Aktivist:innen in Russland Druck durch kommunale, regionale und föderale staatliche Behörden ausgesetzt, selbst wenn es nicht um Verkündung einer politischen oder gegen den Krieg gerichteten Haltung geht, sondern um Proteste auf lokaler Ebene gegen Bauherren oder kommerzielle Bauprojekte.

Dadurch unterscheidet sich Politik auf der Straße in russischen Städten stark von der Vorstellung von einer »sich politisierenden Stadt«, in der das Politische erst dann und dadurch zum Vorschein kommt, wenn öffentlich ein radikaler Umbau des Herrschaftssystems gefordert wird. Empirische Daten zur Mobilisierung in russischen Städten, die weiter unten aufgeführt werden, belegen, dass politisierte Praktiken auch jenseits deutlich sichtbarer und eindeutig zum Ausdruck gebrachter Unzufriedenheit entstehen und bestehen können. Darüber hinaus können sie entpolitisierte Aktionen ergänzen, ohne diese dabei auszuschließen. Ungeachtet des seit dem Februar 2022 immer repressiver werdenden politischen Systems und der gestiegenen Risiken hörten die Aktivist:innen urbaner Initiativen nicht auf, für ihre Haltung einzustehen. Sie neigen dazu, widersprüchliche Logiken miteinander zu verbinden, wobei sie je nach Situation zwischen den verschiedenen Logiken hin- und herschalten und sich bewusst der Grenzen und Möglichkeiten für Protest im urbanen Raum bewusst sind.

Methoden der Datenerhebung

Für diese Analyse habe ich teilnehmende Beobachtung und halbstrukturierte Tiefeninterviews mit Beteiligten an urbanen Initiativen in russischen Millionenstädten mit einer großen Dichte urbaner Konflikte (in St. Petersburg, Kasan und Perm) durchgeführt, bei denen Grünflächen vor Bebauung geschützt und historisches Erbe bewahrt werden soll. Die Datenerhebung erfolgte von September bis November 2022, von März bis Juli 2023 und von März bis April 2024, und zwar online und vor Ort. Hervorzuheben ist, dass meine Gesprächspartner:innen nicht den Krieg unterstützen. Die erhobenen Daten geben lediglich einen Eindruck von den Ansichten jener Aktivist:innen, die überwiegend kritisch gegenüber dem Regime in Russland eingestellt sind oder sich neutral äußern. Das spiegelt sich wiederum auch in ihrer Erfahrung als Aktivist:in wider. Somit erfassen meine Schlussfolgerungen nur einen Teil der urbanen Proteste in Russland. Urbane Aktivist:innen mit anderen Einstellungen sind unberücksichtigt.

Urbane Mobilisierung nach dem Februar 2022

Die Beteiligung an kollektivem Handeln, der Einsatz für die eigenen Interessen, die Gelegenheit, andere Aktivist:innen kennenzulernen und das politische Geschehen in der Stadt zu verfolgen, das sind Erfahrungen, die Aktivist:innen bereits vor 2022 gesammelt haben. Dadurch konnten die verschiedenen aktivistischen Infrastrukturen bewahrt und in den letzten drei Jahren nutzbar gemacht werden, wenn auch in geringerem Umfang. Allerdings war der 24. Februar 2022 wirklich ein Wendepunkt für Aktivist:innen urbaner Bewegungen, unabhängig von der Qualität ihres politischen Engagements und ihrer Ansichten. Der Krieg steht zwar nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit lokalen Aktivitäten urbaner Graswurzelinitiativen; er hat aber gleichwohl in vielem die Landschaft des urbanen Aktivismus verändert. Die Abwanderung von Aktivist:innen ins Ausland (sei es aus eigenem Willen oder wegen der Gefahr, verfolgt zu werden), der verstärkte Einsatz repressiver Maßnahmen gegen (unter anderem urbane) Proteste, sowie der Umstand, dass ein Teil der Community sich in Richtung Bürger- und Menschenrechte oder Antikriegsinitiativen umorientierte, hat die urbanen Initiativen stark in ihrer Arbeit beeinträchtigt.

Nach einer Zeit der Stille, die besonders in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn und nach der Ankündigung der Mobilmachung im September 2022 für die Initiativen kennzeichnend war, wandten sich viele Aktivist:innen ab dem Jahr 2023 wieder ihren lokalen Problemen zu. Die aktivistischen Formate mussten vorsichtig angepasst und weitestgehend entpolitisiert werden, denn es war das gestiegene Risiko zu berücksichtigen, und zwar nicht nur in Bezug auf politische Proteste, sondern auch auf jeden offenen Ausdruck von Unzufriedenheit. Dabei stellten die Aktivist:innen fest, dass weiterhin Unzufriedenheit geäußert werden konnte, solange die Haltung zum Krieg und zum Vorgehen der russischen Regierung aus der Rhetorik ausgeklammert werden. Deswegen kamen bald wieder manche Formate aus dem Protestrepertoire vor 2022 zum Einsatz. Dennoch verläuft die (Ent-)Politisierung von Aktivismus nicht nach einem geradlinigen Muster: Die diversen Aktionen schichten sich übereinander und stehen untereinander in einem komplexen Verbindungsgeflecht.

Der urbane politische Raum und die Verbindungen in aktivistischen Gruppen

Auch wenn vor allem politischer Straßenprotest in der oben erwähnten Theorie der sich politisierenden Stadt als »echter« Marker für diese Politisierung gilt, ist im autoritären Kontext in Russland nach 2022 ein anderes Bild zu beobachten. Politik verschwindet nicht von der Straße; es erfolgt vielmehr eine Transformation der Praktiken im urbanen Raum. In russischen Städten kann die Straße als öffentlicher Raum angesichts drohender Repression und angesichts der Rahmenbedingungen, die es nahezu unmöglich machen, eine breit angelegtes politisches Programm zu vermitteln, je nach Situation politisiert oder entpolitisiert werden. Daher handhaben Aktivist:innen ein und denselben Raum auf unterschiedliche Weise, wobei sie Politisches dort hineintragen oder aber außen vor lassen.

Urbane Initiativen, die Menschen zusammenbringen, um ein bestimmtes Objekt zu retten, hängen eng mit einer räumlichen Dimension zusammen, auch wenn diese nicht immer ausschlaggebend ist. So machen Aktivist:innen von Initiativen, die beispielsweise eine Grünfläche vor dem Bau einer mehrspurigen Straße retten wollen, auf das Problem aufmerksam, indem sie Workshops über den Bau von Straßenmöbeln, Exkursionen über Botanik, Kunst-Festivals, oder Petitionen zum Schutz der Fläche veranstalten. Solche Aktionen richten sich zwar gegen städtische Politik, verbleiben aber auf lokaler Ebene und schließen somit weitgehend Kritik am System als Ganzem aus. Neben diesen Formaten erfolgten nach 2022 am gleichen Ort auch informelle Festivals, auf denen politische und Antikriegsformate zusammengeführt wurden: Auftritte lokaler Oppositionspolitiker:innen, Briefe an politische Gefangene und Gestaltung von Antikriegsplakaten. In solchen Momenten ist der Raum politisiert, was neben der lokalen Agenda zum Schutz des Raumes den Aktivitäten mehrdeutige Aussagen erlaubt.

Der Grad der Politisierung eines Raumes wird auch dadurch bestimmt, wie sich die Kommunikation in den Aktivistengruppen gestaltet. In einer anderen Aktivisten-Community wurde nach dem Februar 2022 der Schwerpunkt eher auf interne Formate gelegt, denn auf »externe« öffentliche Veranstaltungen. Mehr Öffentlichkeit sorgte vor allem in Situationen zu Besorgnis um die Sicherheit und zu erhöhtem Risiko für die anderen Aktivist:innen der Initiative, in denen manche Beteiligte für eine stärkere Positionierung gegen den Krieg eintraten. Das führte dazu, dass die Initiative nach 2022 in der Öffentlichkeit apolitisch auftritt. Somit können die organisatorische Struktur und die Ausgestaltung der Beziehungen innerhalb der Initiative Einfluss auf den Grad der Politisierung im urbanen Raum haben.

Politische Erfahrung und Einbindung in lokale Prozesse

Die Politisierung von Aktivist:innen kann nicht nur auf eine Beteiligung an einem politischen Akt zurückgeführt werden, bei dem direkt und öffentlich das politische Regime kritisiert wird. So sind meine Gesprächspartner:innen meist an mehreren aktivistischen Initiativen beteiligt, woraus sie wiederum ganz unterschiedliche Erfahrungen sammeln. So kandidierten Umweltaktivist:innen sowohl vor 2022 wie auch danach bei Wahlen als Unabhängige. Oder sie engagierten sich bei Wahlkämpfen unabhängiger Politiker:innen, arbeiteten in Menschenrechtsorganisationen mit oder waren als unabhängige Journalist:innen tätig. Seit 2022 verbanden sie die Verteidigung urbaner Räume mit politischen und Antikriegsprojekten, die sie als ebenso bedeutsamen Widerstand gegen die herrschende Ordnung auffassen und stellten somit gezielt eine Verbindung zwischen diesen sonst getrennten Formaten des Aktivismus her.

Eine Besonderheit besteht darin, dass unterschiedliche Arten des Engagements als Aktivist:in auf verschiedene Weise zu Tage treten. Sie können je nach Situation sichtbar oder versteckt sein. Politisierung oder Entpolitisierung schließt sich oft nicht gänzlich aus, sondern überlappen sich oft und ergänzen sich gegenseitig. So setzte einer meiner Gesprächspartner, der sich systematisch an Versammlungen zur Unterstützung von Nawalnyj beteiligt hatte, nach 2022 diese Erfahrung von Widerstand auf eine andere Weise ein. Er meint, dass die Aufzucht von Pflanzen in einem urbanen Garten, an der er sich beteiligt, nicht nur zivilgesellschaftliches Engagement und Umweltbildung bedeutet, sondern auch eine Alternative zur »patriotischen« und militarisierten Bildung in den Schulen. Diese ist seit Kriegsbeginn gegen die Ukraine in den Bildungseinrichtungen verstärkt worden.[3] In diesem Fall bietet Umweltbildung den Schüler:innen die Möglichkeit, sich in Räumen zu bewegen, die in gewissem Maße frei von staatlicher Kontrolle sind. Für Aktivist:innen ist das praktischer Widerstand gegen die Indoktrinierung im Bildungswesen, der über den üblichen urbanen Aktivismus hinausgeht.

Also sind Aktivist:innen in manchen Situationen bereit, offen politisch zu agieren. In anderen Situationen entscheiden sich dieselben Akteure eher für äußerlich unpolitische Aktivitäten, die gleichwohl nicht im Widerspruch zu ihren Grundüberzeugungen als Bürger:innen stehen.

Überzeugungen und Politisierung der Ansichten

Die Veränderungen, die der Krieg und dessen Folgen mit sich brachten, haben auch die Wahrnehmung urbaner Politik und deren Interpretation durch Aktivist:innen beeinflusst. Marija berichtet wie folgt von ihren Sorgen anlässlich der Abholzung von Bäumen an ihrem Lieblingsort:

»Das ist wie eine Vergewaltigung. Das heißt, die können uns jederzeit unsere Umwelt mit Gewalt nehmen, einfach so. Und dabei erzählen sie, dass anstelle dieser Umwelt, die wir liebten […] ein Bürgersteig hinkommt oder eine Straßenlaterne. […] irgendjemand da oben kommt und beschließt das. […] Und mir scheint, dass das ein großes Übel ist, dass es politisch ein großes Übel ist, weil dort bei diesen kleinen Vorkommnissen, mit diesen Grünzonen, das ist ganz ähnlich wie das, was mit dem Krieg geschieht, ja. Da hat man auch alles für uns alle entschieden.«

Anhand dieser Äußerung wird deutlich, wie sich eine Haltung gegen den Krieg in emotionaler Unzufriedenheit mit lokalen Baumaßnahmen ausdrückt. Marija stellt hier einen Zusammenhang zwischen der Stadtpolitik her, die ihr gewohntes Umfeld an ihrem Wohnort bedroht, und die sie als Gewaltakt interpretiert, der auch mit der großen Politik zusammenhängt. Ähnliche Begründungen sind in den Überlegungen jener festzustellen, die sich aus der Überzeugung heraus bei urbanen Protesten engagieren, dass lokaler Protest Ausdruck globaler politischer Prozesse ist. Seit 2022 hat der Krieg gegen die Ukraine ihren Ansichten eine zusätzliche Motivation zum Widerstand auf städtischer Ebene gegeben.

Aktivist:innen räumen zwar ein, dass sie nur begrenzten Einfluss auf das Handeln der Politiker:innen haben, doch blenden sie in ihren Überlegungen das Politische nicht aus. So meinten Interviewpartner:innen beispielsweise, dass sie Gespräche über Politik nicht für unangebracht oder unwichtig halten und vielmehr ihre Beteiligung an urbanen Bewegungen als Teil ihrer politischen Erfahrungen betrachten. Eine solche Haltung findet zwar nur selten Ausdruck im öffentlichen Raum. Veränderungen im Denken sind aber Teil eines komplexen und nichtlinearen Prozesses, durch den urbanen Aktivist:innen allmählich bewusst wird, dass sie politische Subjekte sind.

Zusammenarbeit mit dem Polizeistaat

Die Vorstellung von der sich politisierenden Stadt geht davon aus, dass Unzufriedene dem herrschenden Regime, dem »Polizeistaat« [in der englischsprachigen Literatur als »police order« bezeichnet, Anm. d. Red.], ihre Ablehnung kundtun und öffentlich dessen radikalen Umbau fordern. Vor diesem öffentlichen Akt sind Bewohner:innen der Stadt für das Regime unsichtbar und stellen somit auch keine reale Kraft für Veränderungen dar. Gleichwohl ist es wichtig zu berücksichtigen, dass staatliche Akteure einflussreich sind, von denen Entscheidungen auf der Ebene der städtischen Politik und damit weitgehend der Ausgang des Konflikts abhängen. Daher wenden sich russische urbane Aktivist:innen auch an Politiker:innen verschiedener Ebenen, um ihre Forderungen durchzusetzen: Die Strategien können dabei variieren, nämlich von Zusammenarbeit bis hin zu Kritik an deren Vorgehen und öffentlichem Widerstand. Dabei rechtfertigen meine Informant:innen die pragmatische Zusammenarbeit mit der Staatsmacht mit der Umverteilung von staatlichen Ressourcen und Macht, um in der städtischen Politik »gute und richtige« Ziele zu erreichen:

»Wenn wir uns mit dem Anliegen nicht zunächst an die Kommunalverwaltungen wenden, werden diese die Gelder einfach dafür ausgeben, was wir unbedingt vermeiden wollen [gemeint ist militärische Infrastruktur; Anm. d. Verf.].«

Darüber hinaus führt eine kritische und politisierte Haltung gegenüber staatlichen Institutionen nicht immer zu einer Ablehnung von Zusammenarbeit. Aktivist:innen mögen gegenüber dem Regime skeptisch sein, können aber gleichzeitig die Meinung vertreten, dass eine Zusammenarbeit notwendig sei. Vertreter:innen des »Polizeistaates« können je nach Situation unterschiedlich wahrgenommen werden. So gilt zum Beispiel die Teilnahme an einer Veranstaltung mit Parteisymbolen und -flaggen von »Einiges Russland« meist als inakzeptabel. Eine Zusammenarbeit und ein »konstruktiver Dialog« durch Treffen in den Büros städtischer Beamt:innen, die Parteimitglied sind, wird in Kauf genommen, wenn es den Zielen der Initiative dient. Im ersten Fall gilt eine öffentliche Zusammenarbeit mit »Einiges Russland« als unmöglich. Im zweiten Fall wird dem/der Beamt:in die entpolitisierte Rolle eines:r »Expert:in« zugeschrieben, der/die im System eine bestimmte Funktion ausübt, und der Schritt erscheint als notwendige Maßnahme.

Darüber hinaus halten Aktivist:innen den Kontakt zu einem/r Vertreter:in des »Polizeistaates« für einen begründeten politischen Akt: »Wenn sich alle aktiven Leute weigern, mit [Beamt:innen] zusammenzuarbeiten, wird sich bei denen da oben an der Macht nichts ändern. […] Die werden dann nur von den Menschen isoliert sein«. Daher wird die Zusammenarbeit mit Vertreter:innen der Stadtregierung als Möglichkeit interpretiert zu zeigen, dass es eine Art Aufsicht über deren Politik gibt.

Schlussfolgerungen

Graswurzelinitiativen und Gruppen von Aktivist:innen sind keine monolithischen Einheiten, deren Handeln als nur politisiert oder nur entpolitisiert charakterisiert werden kann. Für die Aktivist:innen ist kennzeichnend, dass sie zwischen verschiedenen Strategien hin- und herwechseln, zwischen Akten des Widerstands und »ungefährlichen« pragmatischen Formaten, zwischen Öffentlichkeit und Unsichtbarkeit, zwischen notwendiger Zusammenarbeit mit und Widerstand gegen staatliche Institutionen. Die sich ständig ändernden Bedingungen und die zunehmende Kontrolle durch den Staat zwingen die Teilnehmer:innen urbaner Initiativen dazu, bei ihrem Vorgehen den Grad der Politisierung situativ anzupassen. Oft ergänzen ihre Formate und Praktiken einander nicht nur nicht, sondern widersprechen einander sogar. So sehr das paradox erscheinen mag, aber gerade das hat es den Initiativen ermöglicht, flexibel zu bleiben und nach 2022 weiterhin in Russland bestehen zu können.

Daher sollte urbaner Aktivismus in Russland nicht vereinfacht schematisch als rein politisch oder als komplett unpolitisch betrachtet werden. Wird diesen lokalen Beziehungsgeflechten im urbanen Raum zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, so kann dies zu Forderungen verleiten, sich für eine der beiden Haltungen zu entscheiden, also entweder Widerstand zu leisten, oder aber sich dem Regime in Russland unterzuordnen. Die Bedingungen und auch die Dilemmata, unter und mit denen Aktivist:innen und zivilgesellschaftliche Akteur:innen ihren Unmut ausdrücken und dabei womöglich auf Hindernisse für weiteren Widerstand stoßen, sollten genau untersucht werden. Das ermöglicht Einblicke, wie der Autoritarismus im Alltag der Menschen funktioniert, sich weiterentwickelt und mit der Zeit verändert (siehe Zhelnina in den Lesetipps).

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder


Verweise

[1] https://istories.media/en/stories/2023/03/22/there-arent-protests-in-russia-yet-roskomnadzor-found-them/

[2] https://ovd.info/en/repression-russia-2024-ovd-info-overview#1

[3] Siehe hierzu etwa die Ausgabe 445 der Russland-Analysen zum Thema »Indoktrinierung« (https://laender-analysen.de/russland-analysen/445/) oder die Ausgabe Nr. 463 zum Thema »Wissenschaftsfreiheit« (https://laender-analysen.de/russland-analysen/463/).

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