»Unpolitischer Aktivismus« in Russland nach Kriegsbeginn: Widerspruch zwischen Politisierung und Entpolitisierung

Von Svetlana Erpyleva (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen / Public Sociology Laboratory)

Zusammenfassung
Diese Analyse untersucht die Folgen des russisch-ukrainischen Krieges und der seit Kriegsbeginn ausgeweiteten Repressionen für den sogenannten unpolitischen Aktivismus in Russland. Die bisherige Forschung zur Zivilgesellschaft in Zeiten des Krieges stellt dort sowohl eine Tendenz zur Politisierung wie auch zur Entpolitisierung fest. Ich argumentiere in diesem Beitrag, dass die beiden Tendenzen nicht zwei sich widersprechende Erklärungen der Realität darstellen, sondern einen Widerspruch, der dieser Realität selbst entspringt. Am Beispiel einer Langzeitstudie zu einer konkreten Umweltbewegung zeige ich auf, wie die Aktivist*innen nach Kriegsbeginn gleichzeitig eine Politisierung erfahren (indem ihnen die Verbindung zwischen ihrem Handeln und dem Kampf gegen das Regime bewusst wird) und eine Entpolitisierung (weil sich die Menschen ohnmächtig fühlen und von der Politik zurückziehen).

Einleitung

Unter den Wissenschaftler*innen, die sich mit politischem Protest in Russland befassen, scheinen die Ansichten darüber, wie genau der russisch-ukrainische Krieg und die damit einhergehenden Repressionen sich auf die Zivilgesellschaft ausgewirkt haben, auseinanderzugehen: Haben sie Zivilgesellschaft nun politisiert oder sie im Gegenteil apolitisch werden lassen? Die einen sind der Ansicht, der Staat habe mit seiner strengen Aufmerksamkeit und seiner misstrauischen Haltung gegenüber jedweder Selbstorganisation sogar jene Aktivist*innen politisiert, die vorher apolitisch waren. Während der Staat immer autoritärer wird, trete der politische Charakter äußerlich »unpolitischer« Themen immer stärker in Erscheinung. Andere wiederum behaupten fest, der Krieg und die Repressionen hätten die Menschen dazu gebracht, sich der Politik gegenüber noch ohnmächtiger zu fühlen und ihre Kräfte für die Lösung kleinerer Probleme einzusetzen, ohne eine direkte Konfrontation mit dem Regime – die Zivilgesellschaft habe sich also entpolitisiert.

Diese Erklärungen mögen sich vielleicht widersprechen, doch werde ich in diesem Beitrag darlegen, dass das nicht der Fall ist. Das zentrale Argument dieser Analyse besteht darin, dass die politisierenden und entpolitisierenden Tendenzen vielmehr Ausdruck der widersprüchlichen Realität der russischen Zivilgesellschaft zu Kriegszeiten sind. Im weiteren Verlauf werde ich anhand einer Fallstudie zu einer bestimmten Umweltschutzbewegung darlegen, wie der Krieg diesen zuvor schon bestehenden Widerspruch verstärkte.

Die betreffende Bewegung wurde 2019 begründet und bestand in unterschiedlichen Formen bis zum Beginn des russisch-ukrainischen Krieges. Die meisten ihrer Mitglieder setzten ihren Aktivismus auch nach dem Ende der Bewegung fort. Ich habe im Herbst 2020 und Frühjahr 2021 eine Reihe tiefergehender biographischer Interviews mit wichtigen Persönlichkeiten der Bewegung durchgeführt (n=25). Im Frühjahr 2024 folgten Anschlussinterviews mit den gleichen Aktivist*innen (n=23).

Ich bezeichne als »unpolitischen« Aktivismus hier die Arten kollektiven Handelns, die sich nicht eine Bekämpfung des Regimes zum Ziel gesetzt haben und sich nicht in direkte Konfrontation mit der Zentralregierung begeben. Als Politisierung bezeichne ich einen Prozess, der von Aktivist*innen und externen Akteur*innen (etwa dem Staat) als etwas verstanden wird, was mit Veränderungen beim Regime und der Staatsmacht zusammenhängt oder diese verlangt, wie auch das Bestreben, in dieser Richtung aktiv zu werden. Als Entpolitisierung bezeichne ich dementsprechend einen Prozess, bei dem Aktivist*innen und externen Akteur*innen nicht an einen notwendigen Regimewechsel denken, sich nicht politisch betätigen und sich von der politischen Welt abzuschotten versuchen, bei dem also der Bereich des Politischen von Aktivist*innen als etwas »Schmutziges« stigmatisiert wird.

Bevor ich mein Argument ausführe, will ich kurz die aktuelle Diskussion zur (Ent-)Politisierung der Zivilgesellschaft in Russland in Kriegszeiten skizzieren.

Die Diskussion zur (Ent-)Politisierung der Zivilgesellschaft in Russland

Wir können Tendenzen zur Politisierung oder Entpolitisierung der Zivilgesellschaft aus zwei Blickwinkeln betrachten: Erstens: Womit befassen sich die sogenannten unpolitischen Gruppen von Aktivist*innen wirklich? Und zweitens: Wie nehmen diese Gruppen Zusammenhänge zwischen ihrer Tätigkeit und »der Politik« wahr?

Was die tatsächliche Tätigkeit betrifft, stellen viele Forscher*innen unter Vertreter*innen eines »unpolitischen Aktivismus« eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Bedeutung drängender politischer Fragen fest (etwa Aktivitäten gegen den Krieg, Hilfe für politische Gefangene usw. – siehe: Research Group 12.22, 2023; Franceschelli, 2024; Tysiachniouk, 2024b; in den Lesetipps). Darüber hinaus hat eine Recherche der »Novaya Gazeta Europe« gezeigt, dass es ungeachtet aller demokratiefeindlichen Gesetze in Russland regelmäßig zu sozialen Protestaktionen unterschiedlicher Art kommt (die Verfasser des Artikels haben von 2022 bis März 2025 rund 38.000 solcher Protestaktionen festgestellt). Erfolge dieser lokalen Proteste verhindern, dass das Regime die Gesellschaft gänzlich entpolitisiert (siehe: Talanowa, 2025; in den Lesetipps). Andererseits wissen wir auch, dass viele »unpolitische« Gruppen von Aktivist*innen jetzt davon Abstand nehmen, ihre Unzufriedenheit mit der Regierung und dem Regime öffentlich auszudrücken. Sie zensieren ihre öffentlichen Äußerungen, sprechen politisch sensible Themen nicht an und schränken ihre internationalen Kontakte ein (siehe: Tysiachniouk, 2024a; Franceschelli, 2024; Tulayeva und Semushkina, 2025 sowie Solneva, 2025; in den Lesetipps).

Auch zu der Frage, inwieweit Aktivist*innen ihr Vorgehen als »politisch« wahrnehmen, gibt es ähnlich widersprüchliche Belege. Einerseits kommt es vor, dass sich Aktivist*innen – wie schon vor dem Krieg – auch in Kriegszeiten politisieren, weil sie erfahren, dass die Regierung Probleme, die für die Aktivist*innen von Gewicht sind, nicht löst, sondern deren Lösung behindert (siehe: Tulayeva und Semushkina, 2025; in den Lesetipps). Darüber hinaus nehmen viele Aktivist*innen ihre zuvor »unschuldigen« Aktivitäten (etwa für den Umweltschutz) nun gerade wegen des Krieges und der verstärkten Repressionen als potenziell gefährlich und als etwas wahr, was den Unmut der Regierung erregt; die Aktivitäten gelten nun also als »politisch«. Dazu hat auch der Staat beigetragen, der jedweder Selbstorganisation mit Misstrauen begegnet (siehe: Ingvarsson und Kalinina, 2024, in den Lesetipps). Schließlich stellten die Forscher*innen fest, dass viele zivilgesellschaftliche Aktivist*innen zu Tätigkeitsarten übergingen, die äußerlich »unschuldig« erschienen, für die Aktivist*innen aber eine unmittelbare politische Bedeutung hatten. So galt etwa Hilfe für ukrainische Flüchtlinge nach Kriegsbeginn für viele als versteckte Form des Protestes gegen den Kreml (siehe: Meyer-Olimpieva, 2024; Moroko, 2023, sowie Austausch, 2023; in den Lesetipps).

Andererseits rückten nach Kriegsbeginn und der Intensivierung der Repressionen immer mehr Aktivist*innen – beispielsweise von Umweltinitiativen – von jeder Art Aktivität ab, die als politisch eingestuft werden könnte. Das geschah zum einen, weil die Aktivist*innen die Probleme, die sie am meisten beschäftigten, möglichst effektiv angehen wollten (pragmatische Strategie). Darüber hinaus waren die Aktivist*innen von der Politik enttäuscht und entwickelten das Gefühl, politisch machtlos zu sein (siehe: Tulayeva und Semushkina, 2025; in den Lesetipps). »Ich kann zum Beispiel überhaupt nicht auf Putin einwirken, aber dafür kann ich in meinem Bezirk etwas verändern«, zitiert Julia Solneva eine ihrer Informant*innen (Oktober 2022), eine urbane Aktivistin, die sich mit lokalen Problemen in St. Petersburg befasst (siehe: Solneva, 2025; in den Lesetipps).

Wie können diese widersprüchlichen Tendenzen nebeneinander bestehen? Ein Teil der Antwort hierauf, liegt auf der Hand: Die Zivilgesellschaft ist ein riesiger Raum, in dem es verschiedene Gruppen gibt, deren Ansätze zu Politik und Haltungen zum Regime und zum Staat unterschiedlich sind. Mein Argument lautet jedoch, dass es neben dieser offensichtlichen Antwort eine weitere Erklärung gibt: Der Widerspruch zwischen Politisierung und Entpolitisierung ist eine Realität des zivilgesellschaftlichen Aktivismus in Russland, er bestand bereits vor dem Krieg, hat sich aber mit Kriegsbeginn und den weiter ausgreifenden Repressionen verstärkt. Und er kommt innerhalb ein und derselben Gruppe zum Vorschein, sogar »innerhalb« ein und derselben Person.

Eine Umweltbewegung vor und nach Kriegsbeginn

Ich habe diese These auf der Grundlage einer Langzeitstudie einer konkreten russischen Umweltschutzbewegung entwickelt. Diese Bewegung wurde 2019 gegründet und war landesweit tätig (mit einer Reihe Basisorganisationen in großen russischen Städten) und dabei nicht besonders groß. In ihrer Blütezeit umfasste sie rund 50 aktive Mitglieder. Vor der Coronapandemie konzentrierte sie sich auf Straßenproteste, während der Pandemie dann auf Bildungsarbeit und »Online-Proteste«. Die Pandemie war für die Bewegung ein heftiger Schlag, weil sie dadurch ihrer wichtigsten Komponente beraubt wurde, der Straßenproteste. Die Vollinvasion in die Ukraine und die nachfolgende Intensivierung der Repressionen haben die Bewegung endgültig zerschlagen. Gleichwohl haben die meisten der ehemaligen Mitglieder Aktivismus als solchen nicht aufgegeben, sondern ihre Betätigung auf etwas anderes ausgerichtet.

Aus den biographischen Interviews, die vor dem Krieg mit den Aktivist*innen geführt wurden, geht hervor, dass zwar einige von ihnen dem Regime gegenüber kritisch eingestellt waren, als sie sich der Bewegung anschlossen, die meisten sich jedoch nicht für »politische« Fragen interessierten. Es war allerdings gerade die »unpolitische« Umweltarbeit innerhalb der Bewegung, die viele dazu brachte, die funktionalen Probleme des gesamten politischen Systems in Russland zu erkennen. Ein Ausschnitt aus dem Interview mit Jekaterina – hier und an allen weiteren Stellen wurden die Namen geändert – illustriert diesen Prozess einer »Erweckung«:

»Ich war immer recht apolitisch. Aber der Umweltaktivismus hat mich dahin gebracht, dass ich mich für Politik interessiere. Als ich sah, dass sie Bildungsarbeit verbieten, habe ich da… Also: ›Leute, das ist das, was ich machen will, come on!‹ […] Öko-Aktivismus, da versuchen wir noch mit Leuten aus der Politik zu reden, aber die hören nicht zu, und das ist falsch. Früher habe ich das[sic!] nicht nachgedacht. Früher habe ich diese Live-Sendungen mit dem Präsidenten gesehen, so nach dem Motto: Schon cool, dass er mit gewöhnlichen Leuten redet. Aber dann wurde mir klar, dass das alles nur Show ist. OK, einmal im Jahr eine Live-Sendung, die Probleme jedoch werden nicht gelöst«, (f, 25 Jahre, April 2021).

Ganz ähnlich berichtete Natalja, dass sie, nachdem sie Aktivistin wurde, verstand, dass die Umwelt- und Klimaschutzbewegung in Russland keine politische Vertretung hat. Das zwang sie, sich bei ihren Anstrengungen auf Oppositionspolitik zu konzentrieren, um die Situation zu verändern. Swetlana entwickelte eine kritische Haltung zum politischen Regime in Russland, als sie sah, wie Umweltaktivist*innen ohne jeden Grund von der Polizei festgenommen wurden. Es lassen sich noch viele Beispiele dieser Art nennen, und sie wurden mehr, je repressiver das Regime agierte.

Wenn noch ein bis anderthalb Jahre vor Kriegsbeginn einige meiner Informant*innen meinten, man könne Öko-Aktivismus betreiben, ohne mit Politik zu tun zu haben (siehe: Erpyleva und Luhtakallio, 2024; in den Lesetipps), meinten bei den Interviews nach Kriegsbeginn und angesichts der verstärkten Repressionen mit nur einer Ausnahme sämtliche Gesprächspartner*innen: Ohne politische, systemische Veränderungen sei eine Verbesserung der Umweltsituation im Land nicht zu erreichen. David erklärte, die Agenden, die sich gegen das Regime, gegen den Krieg und auf Umweltschutz richten, würden sich überschneiden.

»Als wir gegen den Krieg demonstrierten, habe ich öffentlich ein Embargo gegen fossile Energieträger aus Russland gefordert. Es gibt wohl recht viele Studien dazu, dass Öl- und Gaseinnahmen die Entwicklung von Diktaturen fördern. Und im ersten Kriegsjahr habe ich das alles irgendwie stark in Verbindung gebracht«, (m, 30 Jahre, Juli 2024).

Gleichzeitig ließen die Anschlussinterviews mit Mitgliedern der Bewegung, die 2024 geführt wurden, in ihren Biografien als Aktivist*in einige Tendenzen zur Entpolitisierung erkennen. Erstens haben viele den Aktivismus zwar nicht völlig aufgegeben, waren jetzt aber dezidiert »unpolitisch« tätig: Einige konzentrierten sich auf das Betreiben von Umweltprojekten auf lokaler Ebene, ohne irgendeine Konfrontation mit dem Staat. Andere versuchten, ihre Erfahrungen aus dem Aktivismus in berufliche Qualifikation umzumünzen, also Bildung oder eine Arbeit im Umweltbereich zu erhalten. Bei diesen Entscheidungen spielte zweifellos auch eine pragmatische Komponente eine Rolle; anders gesagt: die Aktivist*innen hätten nichts dagegen, zu Straßenprotesten zurückzukehren, wenn die möglich wären, in der aktuellen Situation unternahmen sie alles, was sie noch konnten. Zu einem Teil erfolgten diese Entscheidungen allerdings durch den echten Wunsch, sich von der Politik fernzuhalten, wo sich meine Gesprächspartner*innen immer machtloser fühlten.

Margarita zum Beispiel hatte sich bereits im Vorfeld des Krieges weniger an der Bewegung beteiligt; nach Kriegsbeginn stellte sie ihre Tätigkeit in einer zu stark »protestorientierten« lokalen NGO ein, die die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zog. Stattdessen eröffnete sie einen kleinen Second Hand-Laden, über den sie das Umweltbewusstsein vorantreiben will. »Wenn du weiterhin im Land bleiben willst, musst du dich trotzdem irgendwie mit den Bedingungen arrangieren«, erklärt Margarita im Interview (f, 33 Jahre, April 2024). Ljusja hat ihre Aktivität in der Bewegung ebenfalls bereits 2021 zurückgefahren, weil sie meinte, dass das zu viele Risiken berge. Es bedeutete aber keineswegs, dass sie ihr Interesse für Politik verlor. Nach der russischen Vollinvasion in die Ukraine ging sie zum Beispiel auf einige Antikriegsdemonstrationen. Weil sie auf einer der Demonstrationen festgenommen wurde und eine Geldstrafe zahlen musste, nimmt sie jetzt nicht mehr an Straßenprotesten teil:

»Und ich denke, ich habe meine Straßenaktivitäten in dem Moment endgültig beendet, als mir der Gedanke kam, dass, selbst wenn ich meine ganze Region agitieren könnte, gegen etwas auf die Straße zu gehen und die ganze Region zustimmt und ihre Forderungen erhebt, würde das trotzdem nichts ändern. Und wenn doch, dann nur in ganz geringem Umfang. Ich kann also überhaupt nichts ändern«, (f, 25 Jahre, April 2025).

Stattdessen konzentrierte sie ihre Anstrengungen auf Informationsarbeit in sozialen Netzwerken und ihr kleines Unternehmen mit ökologischer Komponente. »Es ist doch klar, dass wir bei den Dimensionen der Klimakrise nichts Großes bewirken können, weil wir in Russland leben«, erzählt sie im Interview. »Aber wir können in Bezug auf unsere Stadt, unsere Region etwas tun, wirklich. Ich kann bei der Arbeit mit meinen Kund*innen ebenso bei ihnen Vorstellungen von einer umweltfreundlichen Lebensweise fördern, einer bewussten«, (f, 25 Jahre, April 2024).

Neben einer solchen Entpolitisierung des eigenen Handelns gestanden viele meiner Interviewpartner*innen 2024 mir gegenüber ein, dass sie durch die schlechten Nachrichten, das ständige Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber den Starken dieser Welt und durch den Wunsch, sich vor der Welt der Politik zu schützen, erschöpft sind. Daher zwangen sie sich praktisch dazu, das politische Geschehen im Land und in der Welt nicht mehr zu verfolgen. »Das alles ging dann so weit, dass ich keinen einzigen News-Kanal mehr abonniert habe«, sagt die bereits erwähnte Ljusja. »Ich muss mich irgendwie vor dieser Flut schützen, weil ich gemerkt habe, dass das sehr stark etwas mit mir macht«, (f, 25 Jahre, April 2024). »Das war sehr schwer für mich. Ich habe im März alles gekündigt, was ich nur konnte«, pflichtet ihr Wioletta bei, deren Interesse für Politik zu der Zeit, als das Interview geführt wurde, noch nicht in ihr Leben zurückgekehrt war (f, 24 Jahre, April 2024). Jede*r zweite meiner Interviewpartner*innen aus dem Jahr 2024 erzählte Ähnliches.

Somit haben der Krieg und die anschließende Intensivierung der Repressionen die Aktivist*innen der untersuchten Bewegung einerseits durch die Erkenntnis politisiert, dass erhebliche, systemische Änderungen in der Umweltsituation ohne einen politischen Wandel nicht möglich sind, was ihre kritische Haltung zum Regime verfestigte. Andererseits haben der Krieg und die Repression viele von ihnen entpolitisiert, indem sie in eine Arbeit für Umweltprojekte gedrängt wurden, bei denen es zu keiner Konfrontation mit dem Regime kommt. Hinzu kommt, dass viele sich gewissermaßen von der Welt der Politik abschotten, weil sie von letzterer enttäuscht sind.

Schlussfolgerungen

Forscher*innen, die sich mit der Zivilgesellschaft in Russland zu Kriegszeiten befassen führen unterschiedliche Belege an: Die einen sagen, der Kriegsbeginn und die anschließende »Autokratisierung« des ohnehin autoritären Regimes sowie die Verstärkung der Repressionen hätten den »unpolitischen« Aktivismus politisiert. Andere behaupten, die übergeordneten Entwicklungen hätten den Aktivismus apolitisch gemacht. Meine Argumentation lautet, dass diese sich widersprechenden Erklärungen in Wirklichkeit die Widersprüchlichkeit der Realität zusammenfassen: Ein und dieselben zivilgesellschaftlichen Gruppen und auch einzelne Personen dort erleben gleichzeitig eine Politisierung wie auch eine Entpolitisierung. Etwas ähnliches hat jüngst Julia Solneva beschrieben. Sie erklärte das anhand einer Studie zu vielen urbanen Initiativen von Aktivist*innen damit, dass sich Politisierung und Entpolitisierung einander oft nicht ausschließen, sondern sich wechselseitig ergänzen. Während sich Solneva jedoch auf die Gemengelage der Strategien konzentriert, die die Praxis der Aktivist*innen politisieren bzw. entpolitisieren, um der jeweiligen Bewegung das Überleben zu ermöglichen, verweise ich auf einen Widerspruch, der einem nicht immer bewusst und für die Aktivist*innen oft hinderlich ist.

Ich habe diese Argumentation anhand einer Langzeit-Fallstudie zu einer Umweltschutzbewegung dargelegt, mit deren Mitgliedern ich sowohl vor wie auch nach der russischen Vollinvasion in die Ukraine und den anschließenden Repressionen biografische Tiefeninterviews führte. Das Geschehen politisierte die Aktivist*innen, in deren Augen politische und Umweltarbeit als untrennbar miteinander verknüpft erschien. Und die Aktivist*innen wurden entpolitisiert, weil sie der Möglichkeit – und mitunter des Wunsches – beraubt wurden, sich mit konfrontativer Politik zu befassen. Vor allem jedoch, weil sie sich politisch machtlos fühlten und sich daher von einer Beteiligung am politischen Leben abschirmen.

Interessant ist, dass der Widerspruch zwischen politisierenden und entpolitisierenden Tendenzen bereits vor Kriegsbeginn in der Bewegung bestand, im Grunde aber ein Widerspruch zwischen individuellen Weltsichten und den kollektiven Regeln der Gruppe war. Die meisten Aktivist*innen waren dem bestehenden politischen Regime gegenüber kritisch eingestellt und meinten, die Umweltprobleme seien direkt mit politischen Fragen verbunden, auch wenn sich die Bewegung öffentlich als apolitisch positioniert hatte (siehe: Erpyleva und Luhtakallio, 2024; in den Lesetipps). Der Krieg führte zum einen zum Zerfall der Bewegung, zum anderen auch zu einer Verstärkung und vor allem zu einer Übertragung dieses Widerspruchs auf die Ebene der individuellen Biografien. Die Aktivist*innen hatten akut das Gefühl, dass es unmöglich sei, Umweltprobleme zu lösen, ohne eine Lösung politischer Probleme zu erreichen. Gleichzeitig taten Ermüdung, politische Machtlosigkeit und der Unwillen, sich in die Welt der Politik zu begeben, ihr Übriges.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Anmerkung: Dieser Beitrag wurde von der Kone-Stiftung gefördert (Projekt-Nr. 202013680).

Lesetipps / Bibliographie

  • Erpyleva, S.; E. Luhtakallio: “The Climate Is Changing and the President Is Not”: “Non-Political” Climate Activism in Russia, in: Europe-Asia Studies, 76.2024, Nr. 6, S. 891–908.
  • Meyer-Olimpieva, I.: Silent Dissent: Exploring Russian Civic Activism as a Form of Opposition to the War in Ukraine, in: Problems of Post-Communism, 29. Juli 2024, S. 1–9.
  • Tulayeva, S. und Semushkina, E.: «Sa les, sa wodu, sa naschu prirodu!»: Szenarii i osobennosti (de)politisazii ekologitscheskoj powestki w rossijskich regionach [russ.], in: Laboratorium: Shurnal sozialnych issledowanij, 17 (1), 2025, S. 116–146, DOI: 10.53483/2078-1938-2025-17-1-116-146.

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