»Insel der Freiheit« oder Insel der »Freiheit«? Aktuelle Entwicklungen an der Kiewer Mohyla-Akademie

Von Oleksandra Bienert (Berlin)

Akademie als »Insel der Freiheit«

Seit der Neugründung 1991 galt und gilt die Kiewer Mohyla-Akademie als ein wichtiges Zentrum des kritischen akademischen Diskurses. Insbesondere die historische Fakultät und die dortige Geschichtsvermittlung haben den Ruf der Fortschrittlichkeit. Dort gibt es kritische Stimmen, wie die berühmte Professorin Natalja Jakowenko, die als eine der ersten in der Ukraine den Gedanken der Multikulturalität für ein Geschichtslehrbuch entwickelte, oder solche – auch im Westen bekannte – Historiker wie Wladislaw Hrynewytsch, die innovative methodologische Ansätze verfolgen. Darüber hinaus existiert an der Fakultät seit 2003 ein interdisziplinäres Programm zum Judaica-Studium, 2012 eröffnete man darauf basierend ein gleichnamiges Magisterprogramm.

Schließlich wurde im November 2012 das erste in der Ukraine zertifizierte Programm für Roma-Studien eröffnet und für den 11. Dezember ist ein Vortrag des bekannten linken Denkers Roberto Unger aus Brasilien zum Thema »Die Ukraine, Europa und die Linken« angekündigt. Seit dem Machtantritt von Wiktor Janukowytsch gilt die regierungskritische Akademie außerdem verstärkt als »Insel der Freiheit« (siehe dazu mehr in dem Beitrag von Andreas Umland in Ukraine-Analysen Nr. 98).

Zeitgleich zur Verfestigung des Images einer kritischen Bildungseinrichtung und einer »Insel des kritischen Denkens in der ukrainischen Bildungslandschaft« geschahen in den letzten Jahren und geschehen in letzter Zeit immer häufiger Ereignisse an der Akademie, die eine gewisse »rechte« Tendenz aufweisen.

Akademie als Bühne für rechtsradikale Angriffe

Seit 2010 häufen sich Angriffe auf die Mitglieder der Mohyla-Abteilung der studentischen Gewerkschaft »Prjama dija« (Direkte Aktion) und linker Initiativen, die an der Akademie ansässig sind. So haben Unbekannte im Oktober 2010 versucht eine Versammlung von »Prjama dija« zu stören. Am 20. November 2010 haben zehn maskierte Rechtsradikale die Filmvorführung von »Boys don’t cry« (die Geschichte eines Transsex­uellen) mit anschließender Diskussion über Hate Crime im Zentrum für visuelle Kultur angegriffen, welche zusammen mit der für die Rechte der LGBT engagierten Kiewer NGO »Insight« veranstaltet wurde. Der Präsident der Akademie Serhij Kwit veranlasste keine Aufklärung des Falls. Am 10. Dezember 2010 fand der nächste Angriff statt, diesmal außerhalb der Akademie: Neonazis störten eine u. a. vom Zentrum für visuelle Kultur organisierte Demo gegen Menschenrechtsverletzungen.

Im Jahr darauf wurden Aktivisten, die am Internationalen Tag gegen Homophobie (17. Mai 2011) in der Ukraine eine friedliche Aktion unter dem Titel »Tag des Schweigens« veranstalteten, von Unbekannten angegriffen. Die Veranstaltungen am 17. Mai wurden auch 2012 zum Ziel von Angriffen: An diesem Tag verhinderten Mitglieder der rechtspopulistischen Partei Swoboda (Freiheit) die Vorführung des Films »Milk« (Biographie von Harvey Milk, einem US-amerikanischen Bürgerrechtler der Schwulen- und Lesbenbewegung) in der Amerikanischen Bibliothek der Akademie. Nur zwei Tage später, am 19. Mai 2012, wurde eine vom Zentrum für visuelle Kultur organisierte Fotoausstellung von Jewhenija Belorusez über den Alltag homosexueller Familien in der Ukraine von zwei Rechtsradikalen zerstört. Allein im Herbst 2012 fanden zwei weitere Übergriffe auf die studentische Gewerkschaft »Prjama Dija« statt. Am 26. September 2012 wurde eine von ihr initiierte studentische Versammlung zur Besprechung der schlechten Beheizung der Akademie von Mitgliedern der Partei Swoboda angegriffen. Das Swoboda-Mitglied Oleksij Kurinnyj, der als Dozent an der Akademie arbeitet, berichtete laut »Prjama dija« mit großer Freude über die »Taten der adäquaten Mohylaner, […] die bei dieser Aktion die Antimohyla-Degeneraten gestoppt haben«. Ein weiterer Angriff fand am 2. Oktober 2012 auf Gewerkschaftsmitglieder statt, die von einer Aktion zur Unterstützung der Studenten in Winnyzja zurückkamen. Keiner dieser Übergriffe wurde von der Akademieleitung öffentlich verurteilt. Die Polizei, die in einigen Fällen schnell reagierte, befragte zwar die Beteiligten, eröffnete aber keine Verfahren wegen sogenannter »Hass-Verbrechen«. Die Übergriffe wurden als »Hooliganismus« eingestuft.

Diesjährige Eröffnungsvorlesung in der Akademie

Die hier kurz beschriebenen Übergriffe, deren Auflistung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, wurden zwar von der Presse wahrgenommen, aber von der Mehrheit der ukrainischen Gesellschaft bis zur – im Artikel von Serhij Hirik in dieser Ausgabe ausführlich beschriebenen und auch international besprochenen – Schließung des Zentrums für visuelle Kultur an der Akademie nicht als bedrohlich eingestuft. Vielmehr wurde die Öffentlichkeit durch einen Skandal um Prof. Serhij Bilokin aufmerksam.

Bilokin ist Historiker und führender wissenschaftlicher Mitarbeiter der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften. Er wurde von der Leitung der Mohyla-Akademie ausgewählt, das neue Studienjahr am 1. September 2012 mit einem Vortrag zu eröffnen. Gleichzeitig wurde ihm der Ehrendoktortitel verliehen. In den Jahren zuvor waren prominente Historiker und Sozialwissenschaftler wie Prof. Jaroslaw Hryzak, der polnische Historiker und Dissident Adam Michnik, der französische Philosoph Paul Ricœur und andere zu diesem Anlass in die Akademie eingeladen worden. Die Einladung von Bilokin sorgte in breiten Kreisen für Empörung und Widerstand, weil er in seinem Werk »Zwanzig Jahre der jüdischen Staatlichkeit 1918–1938 in der Ukraine« antisemitische Äußerungen macht und vom »Jüdisch-Bolschewistischen Staat« spricht.

Bilokins Vorlesung selbst enthielt zwar keine antisemitischen Punkte, aber allein die Einladung eines solch dubiosen Historikers war für die Öffentlichkeit ein Hinweis darauf, dass die Akademieleitung seine Ansichten zumindest toleriert. Die Vorlesung wurde von mehreren Protestbriefen verschiedener NGOs und Protesten der »Prjama dija« mit Plakaten wie »Antisemitismus ist barbarisch« im Saal der Vorlesung begleitet. Der Versuch von »Prjama dija« nach dem Vortrag einen Kommentar bei Bilokin über seine antisemitischen Äußerungen zu bekommen wurde vom stellvertretenden Akademieleiter unterbrochen und blieb erfolglos.

Diese beiden Ereignisse – der Vortrag von Bilokin und die Schließung des Zentrums für visuelle Kultur – wurden von vielen als Schlüsselereignisse wahrgenommen.

Positionierung der Akademieleitung

An der Akademie sind scheinbar einige Gruppen ansässig, deren rechtsradikale oder nationalistische Aktionen toleriert werden – anders kann man das Schweigen seitens der Leitung zu den genannten Vorfällen nicht erklären. So existiert beispielsweise an der Akademie offiziell eine nationalistische studentische Organisation mit dem Namen »Ukrainischer Student«, die sich während der Angriffe der letzten Zeit auf das Zentrum für visuelle Kultur stärker und aktiver positionierte. Auf der Internetseite der Organisation finden sich Hinweise auf Veranstaltungen wie »Ukrainische Opfer von Babij Jar« oder ein heroisches Gedicht mit dem Titel »Nachtigall« – dies war der Name eines aus ukrainischen Nationalisten bestehenden Bataillons der Wehrmacht. Beraten wird die Organisation von Oleksij Kurinnyj. In der Satzung des »Ukrainischen Studenten« kann man lesen, dass die »Förderung nationaler ukrainischer Ideen« zu ihren Zielen gehört. Die Zeitung dieser Organisation trägt den Namen »Feuer der Idee« und macht für sich Werbung mit einem Zitat des Anführers der »Organisation Ukrainischer Nationalisten« Stepan Bandera. Indem die Akademieleitung dem »Ukrainischen Studenten« Räumlichkeiten zur Verfügung stellt, macht sie deutlich, wer u. a. an der Akademie willkommen ist.

Darüber hinaus kündigte der Ehrenpräsident der Mohyla-Akademie, Wjatscheslaw Brjuchowezkij, vor den Parlamentswahlen Ende Oktober 2012 an, die rechtspopulistische Partei Swoboda bei den Wahlen zu unterstützen. Der seit 2007 amtierende Präsident der Akademie, Serhij Kwit, war früher eines der aktiven Mitglieder der nationalistischen Organisation »Tryzub« (Dreizack) und ist für seine Vorliebe für rechte Ideologien bekannt.

Gesamtkontext nach den Parlamentswahlen

Diese Ereignisse sind keine Ausnahme in der Ukraine, die sich auf dem Weg der Selbstfindung und der Suche nach nationaler Identität befindet. Dies konnte man besonders gut bei den vor kurzem abgehaltenen Parlamentswahlen beobachten. Die rechtspopulistische Partei Swoboda erlangte dieses Mal über 2.100.000 Wählerstimmen und zog erstmalig mit 37 Sitzen ins ukrainische Parlament ein. Andreas Umland hat in den Ukraine-Analysen Nr. 109 die Wählerschaft dieser Partei bereits kurz skizziert. Die Ukraine befindet sich im Prozess der Findung ihrer nationalen Identität und einige Ukrainer fühlen sich derzeit offensichtlich von einer teilweise anti-ukrainischen Regierungspolitik bedroht. Die offizielle »Pro-Ukraine«-Selbstdarstellung ist vermutlich für viele der Swoboda-Wähler das Entscheidende, wichtiger als Freiheit der Meinungsäußerung und andere Freiheiten der Person. Einen Grund hierfür nennt Wjatscheslaw Lichatschew, wenn er von fehlender Sensibilisierung der ukrainischen Gesellschaft für »manche politische Mindeststandards« spricht. Die große Stimmenzahl und schließlich der Einzug Swobodas ins ukrainische Parlament haben auch eine gewisse legitimierende Funktion für rechte Tendenzen in der ukrainischen Gesellschaft. Seither können xenophobe Aktionen von Swoboda, wie bspw. der »Marsch gegen illegale Migration« vom 16.11.2012 in Charkiw, auf dem nationalsozialistische Parolen gerufen wurden, nicht mehr als etwas »Außenstehendes« betrachtet werden. Swoboda ist spätestens jetzt ein fester Bestandteil der ukrainischen Gesellschaft. Dies führt uns zurück zur Mohyla-Akademie: Das Verhalten der pro-ukrainischen Akademie bei der Schließung des Zentrums für visuelle Kultur und bei Angriffen auf kritische linke Initiativen auf ihrem Gelände reiht sich in den gesamtukrainischen Kontext einer verstärkten »Nationalisierung« von einigen Teilen der ukrainischen Gesellschaft, die dabei Einschränkungen der Freiheiten einer Person zulassen, ein.

Fazit

Die Kiewer Mohyla-Akademie ist noch längst keine Insel der »Freiheit« (»Swoboda«), aber es gibt dort freiheitsgefährdende Tendenzen, wenngleich die studentische Gewerkschaft »Prjama dija« dort arbeiten kann und auch im Studium Wert auf Qualität und differenzierte Zugänge gelegt wird. Es bleibt aber fraglich, wie die »Insel der Freiheit« eine solche Insel bleiben kann, ohne die Freiheit der Meinung auf ihrem Gelände zu schützen. Mit ihrer Unterstützung für Swoboda bestärkte die ukrainische Gesellschaft die Akademie in ihrem Handeln.

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