»Simja« – »Die Familie« des Präsidenten: Ein neuer »oligarchischer Clan«
Präsident Janukowytsch nahm die Wahl eines neuen Parlaments am 28. Oktober 2012, in welcher seine Partei der Regionen zwar siegte, aber weit unter der erwarteten absoluten Mehrheit blieb, zum Anlass, noch mehr Personen seines persönlichen Vertrauens in entscheidende Stellungen zu bringen, womit er schon vor der Parlamentswahl begonnen hatte. Dabei ging es ihm nicht nur um persönliche Loyalität, wie einige Experten behaupten, sondern auch um professionelle Kompetenz – und um den Gewinn an Legitimation durch eine erhöhte Effektivität seiner Reformpolitik. Von den jungen Freunden seines Sohnes Olexandr (Jahrgang 1973) verspricht sich Präsident Janukowytsch eine andere Herangehensweise als die, welche dem reformresistenten staatlichen Apparat eigen ist. In einer Antwort auf eine entsprechende Anfrage der englischsprachigen Kyiv Post ließ er durch seinen Pressedienst bestreiten, dass er Personen nicht aufgrund ihrer Qualifikation in die höchsten Stellungen der Regierung gehievt habe, sondern aufgrund ihrer Nähe zu seiner »Familie«. »Saschas Freunde« verstehen sich selbst als »Jungreformer« (»mlado-reformatory«).
Der Apparatschik Mykola Asarow – alter und neuer Premierminister
Die Wiederernennung des (nach seinem Rücktritt weiterhin amtierenden) Premierministers Mykola Asarow durch Präsident Janukowytsch am 9. Dezember 2012 beendete die Spekulationen über eine für möglich gehaltene völlige Übernahme der Regierung durch die »Jungreformer« um den Sohn des Präsidenten. Damit wurde klar, dass sich Präsident Janukowytsch bei den Regierungsgeschäften vorläufig noch auf den gestandenen Apparatschik verlässt (Asarow hat seit 2010 das Amt des Premierministers inne) und eine Neubesetzung dieses Amtes mit einem »jungen Reformer« für zu riskant hält. Dem bewährten Premierminister Asarow wurde allerdings ein Freund des Sohnes des Präsidenten als Erster Stellvertretender Premierminister zur Seite gestellt: Serhij Arbusow (Jahrgang 1976), der bis dato Vorsitzender der Nationalbank der Ukraine (NBU) war. Arbusow ist laut präsidialem Dekret zuständig für das breite Spektrum Finanzen, Steuern und Zölle, wirtschaftliche Entwicklung, Außenhandel, Agrarpolitik und Sozialpolitik. Offensichtlich soll sich Arbusow einarbeiten, um zu gegebener Zeit das Amt des Premierministers zu übernehmen. Julija Mostowa, die Chefradakteurin der renommierten Wochenzeitung Zerkalo nedeli / Dserkalo tyschnja sieht in Serhij Arbusow das »Hirn« der Gruppe der »Jungreformer«.
Die Position »der Familie« wurde zwar in der am 24. Dezember 2012 gebildeten neuen Regierung (dem »Ministerkabinett«) gestärkt, doch müssen sich deren Angehörige die Macht noch mit den Leuten des reichsten Oligarchen der Ukraine, Rinat Achmetow, teilen. Allerdings scheint Achmetow, der frühere Förderer der politischen Karriere von Wiktor Janukowytsch und Financier seiner Partei der Regionen, nicht als Konkurrent, sondern als Geschäftspartner »der Familie« (vor allem) bei der Privatisierung staatlicher Betriebe mit im Boot zu sein.
»Reform-Sabotage«
Gleich nach seiner Wiederernennung bezog der neue alte Premierminister Asarow von Präsident Janukowytsch Prügel: Auf der Sitzung des Komitees für wirtschaftliche Reformen am 17. Januar 2013 wurde der Bericht des Premierministers über die Implementation des Nationalen Aktionsplans für das Jahr 2012 analysiert. Der Reformplan sei nur zu 15 % bis 70 % erfüllt worden, quantifizierte Iryna Akimowa, die Erste Stellvertretende Chefin der Präsidialadministration, den Erfüllungsgrad der Pläne für die verschiedenen Wirtschaftsbranchen – z. B. im Öl- und Gas-Sektor nur zu 25 %. Akimowa sah in dem »Mangel an Disziplin« die hauptsächliche Ursache für den langsamen Fortschritt der Reformen; er sei durch eine »schlechte Gesetzgebung« des Parlaments und durch eine »ineffiziente Mittelverwendung« der Regierung gehemmt worden.
In der Rede, mit der er die Sitzung des Komitees eröffnete, sagte Präsident Janukowytsch verärgert, er verstünde, dass Pläne nur zu 90 % oder auch nur zu 80 % erfüllt würden; wie aber sei eine Planerfüllung von nur 25 % möglich, fragte er rhetorisch – und gab selbst darauf eine (»sowjetische«) Antwort: »Das ist Sabotage!«. Präsident Janukowytsch machte das alte Ministerkabinett, den Mittelbau der Ministerien und die Behörden vor Ort dafür verantwortlich; er bezichtigte die staatliche Verwaltung der Blockade seiner Reformpolitik und schalt die dafür verantwortlichen Beamten: Sie hielten fest an ihrem »alten Leben«, das von »Korruption und Bürokratie« geprägt sei. Ohne den Terminus »Jungreformer« zu benutzen sagte Janukowytsch, er setze seine Hoffnung auf die neuen Minister.
Das Programm der neuen Regierung »zur Aktivierung der wirtschaftlichen Entwicklung 2013–2014« sei allerdings in Wahrheit ein »Staatliches Programm zur Entwicklung »der Familie« nach der Maxime: »den Freunden – alles, den Feinden – Steuern!«, schrieb Dmytro Denkow in der Internet-Zeitung Ekonomitschna pravda: Von den geplanten fiskalischen Maßnahmen seien die Tätigkeitsbereiche derjenigen Firmen ausgenommen, die mit »Der Familie« verbunden seien.
Die neue Regierung – dubiose Ernennungen
Die Hälfte der Minister der am 24. Dezember 2012 gebildeten neuen Regierung Asarow war bereits in seinem vorhergehenden Kabinett im Amt. Einige von ihnen behielten bei der Umbildung ihre bisherigen Ministerien, andere wechselten das Ressort, zwei wurden zu Stellvertretenden Premierministern befördert, ein Prestigeposten ohne großen Einfluss. In ihren Ämtern bestätigt wurden der Jungreformer Jurij Kolobow als Finanzminister und die »Angehörigen der Famile« Witalij Zachartschenko als Innenminister (»Polizeiminister«) und Mykola Prisjaschnjuk als Minister für Landwirtschaft und Ernährung.
Eduard Stawytskyj, bis dato Umweltminister, löste Jurij Bojko als Energieminister ab; dieser avancierte zum Stellvertretenden Premierminister. Bojko ist vermutlich »der Familie« geschäftlich verbunden, u. a. über die in Nikosia auf Zypern registrierte Strohfirma Fynel Ltd., deren Eigentümer laut des Organized Crime and Corruption Reporting Project internationale Finanzschwindler sind, die in dem Korruptionsskandal um die so genannten »Bojko-Türme« eine Rolle spielten – zwei Bohrinseln, für deren Kauf zu einem überhöhten Preis im Jahre 2011 der damalige Energieminister Bojko zuständig war. Stawytskyj war laut Medien-Berichten in Janukowytschs zweiter Amtszeit als Premierminister im Jahre 2007 der zentrale Akteur bei der dubiosen Privatisierung von »Meschyhirja«, einem 140 ha großen Areal, das sich – über eine Kette von Offshore-Gesellschaften – im Besitz des Präsidenten Janukowytsch befindet. Auf Kosten des Staates ließ er dort das vormals staatliche Gästehaus in eine luxuriöse Residenz (»Klein-Versailles«) umbauen. Der investigative Journalist und Stellvertretende Chefredakteur der Internet-Zeitung Ukrainskaja Pravda / Ukrajinska pravda Serhij Leschtschenko deckte die Verbindungen zwischen der »im Interesse von anonymen Kunden« gegründeten Euro East Beteiligungsgesellschaft GmbH (Österreich) und der Firma Management Assets Corporation (MAKO) von Oleksandr Janukowytsch auf.
Neuer Verteidigungsminister wurde der gebürtige Russe Pawlo Lebedjew. Von ihm wird die Lösung anderer Aufgaben als die Stärkung der Verteidigungsbereitschaft der Ukraine erwartet, schreibt der Oberst der Reserve, Wolodymyr Larzew, nämlich der Ausverkauf der Liegenschaften der ukrainischen Streitkräfte. Lebedjew sei wegen seiner guten Kontakte zur russischen Schwarzmeerflotte auch berufen, die Interessen »Der Familie« auf der Krim wahrzunehmen, wo im Jahre 2013 in und um Sewastopol umfangreiche Veräußerungen von Immobilien anstehen, die nach der Teilung der sowjetischen Schwarzmeerflotte im Jahre 1993 von der russischen Flotte gepachtet wurden. »Die Familie« wolle »diese Objekte nicht in beliebige Hände fallen lassen«, vermutet Larzew.
Lebedjew ist Ehrenvorsitzender der Holding InterCarGrupp (Transportmaschinen), deren Präsident in den Jahren 2005 und 2006 Leonid Juryschew war. Dieser war ein Vertrauensmann des ersten »Gebieters« des Donbass, Achat Bragin alias »Alik Grek«, der 1995 im Stadion des Fussballvereins »Schachtjor« (Donezk) einem Bomben-Anschlag zum Opfer fiel. Die Zeit der blutigen Auseinandersetzungen um das industrielle Erbe der Sowjetunion wird durch das Ermittlungsverfahren der Generalstaatsanwaltschaft gegen Julija Tymoschenko wegen eines Mordkomplotts, dem der »biznesmen-politik« (Liberale Partei) Jevhen Schtscherban zum Opfer fiel, wieder in die öffentliche Erinnerung gerufen.
Zum neuen Chef des Inlandsgeheimdienstes, des »Sicherheitsdienstes der Ukraine« (SBU) ernannte Präsident Janukowytsch Oleksandr Jakymenko. Jakymenko kommt aus dem privaten Sicherheitsgewerbe; zuletzt arbeitete er für die Meschregional’nyj promyschlennyj sojus, eine 99-prozentige Tochter von Lemtrans, der größten ukrainischen Eisenbahnfrachtgesellschaft – die gemeinsam von Wiktor Janukowytsch (40 %) und Rinat Achmetow (60 %) kontrolliert wird. Der Anteil des Präsidenten versteckt sich hinter der Firma SPS-Grup, die zu 99 % der Gesellschaft UkrKievResurs gehört. Einer der Aktionäre dieser Firma – und Direktor der SPS-Grup – ist Wiktor Risanow, der als Objekt-Schützer die präsidiale Residenz des Präsidenten, »Meschyhirja«, bewacht. Die SPS-Grup ist nicht nur im Schienenfrachtgeschäft engagiert; sie ist Mitgründerin des Donbaskij rosrachunkowo-finanzowyj zentr, das mehrere Kohlebergbaugesellschaften vereint. Es ist der Kern des Kohlegeschäfts des Präsidentensohnes Oleksandr.
Der investigative Journalist Serhij Schtscherbina (Ukrainska pravda) entzerrte das Geflecht, in welchem »die Familie«, namentlich der Präsidentensohn Oleksandr Janukowytsch, ihr Vermögen verbirgt. Die aufgezeigten Beziehungen würden illegale Machenschaften nicht beweisen, schreibt er; sie bewiesen nur, dass »die Familie«, die »gazoviki« (Erdgashändler) und Spitzenbeamte »die Dienste von Leuten in Anspruch nehmen, die reichen Leuten in der ganzen ehemaligen UdSSR dabei helfen, Vermögen zu verstecken, Steuern zu hinterziehen und dubiose Operationen zu realisieren.« Auf einer Pressekonferenz wurde Präsident Janukowytsch gefragt, ob nicht die Freunde seines Sohnes Oleksandr in der Regierung diesem dabei geholfen hätten, so schnell so reich zu werden. Janukowytsch erklärte, er wisse nicht im Detail, wie sein Sohn Milliardär (in Landeswährung) wurde. »Ich weiß nur, dass er es gewöhnt ist, viel zu arbeiten…«.
Oligarchische Balance zerstört
Mit der personellen Besetzung des neuen Ministerkabinetts und anderer zentraler staatlicher Organe hat Präsident Janukowytsch die bisherige oligarchische Balance im Staatsapparat zugunsten »der Familie« aufgegeben. Übrig geblieben sind im Ministerkabinett – neben Janukowytschs persönlichen Loyalisten – eine Gruppe von (laut LIGABiznesinform) fünf Interessenvertretern des oligarchischen »Geschäftspartners« Achmetow und als Vize-Premierminister Jurij Bojko, der zur »Gas-Lobby« des Oligarchen Dmytro Firtasch gehört, zu welcher auch der Chef der Administration des Präsidenten, Serhij Lowotschkin und der bisherige Erste Stellvertretende Premierminister, Walerij Choroschkowskyj gezählt werden.
Alle Positionen im Ministerkabinett, die dem Aufstieg des »Janukowytsch-Clans« förderlich sind, befinden sich in der Hand »der Familie« – neben dem Amt des Ersten Stellvertretenden Premierministers (Serhij Arbusow) – das Innenministerium (Vitalij Zachartschenko); das Finanzministerium (Jurij Kolobow); das Ministerium für Steuern und Zölle (Oleksandr Klymenko); das Ministerium für Energie und die Kohleindustrie (Eduard Stawytskyj); das Ministerium für Ökologie und natürliche Ressourcen (Oleh Proskuhjakow) – und das Agrarministerium (Nikolaj Prisjaschnjuk). Von diesen sieben Ministern gelten vier als »Jungreformer« (Jahrgänge 1972 bis 1980), und zwar Arbusow, Kolobow, Klymenko und Stawytskyj. Im September 2012 präsentierten sie sich in Washington als die kommende Führungsriege – offiziell, um mit dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank zu verhandeln.
»Jungreformer« gegen »Oligarchen«
Der Machtdrang der »Jungreformer« ist eine zweischneidige Angelegenheit, konstatiert Julija Mostova. Einerseits scheinen einige Vorstöße der »jungen, professionellen Spezialisten« im Interesse des Staates gegen die partikularen Interessen der Oligarchen gerichtet zu sein. Andererseits bedeutet die Besetzung der Chefposten der Nationalbank, des Finanzministeriums und des Ministeriums für Steuern und Zölle (des Ministeriums für staatliche Einnahmen) mit »Leuten aus der Familie« (»ljudy simji«) die »Privatisierung des staatlichen Hauhalts«. Sie ermöglicht den unauffälligen Transfer von staatlichen Haushaltsmitteln in schwarze Kassen – und den Ausverkauf von staatlichen und kommunalen Unternehmen über Scheinausschreibungen an das Unternehmensnetz »der Familie« – oder die »zollfreie« Einfuhr z. B. von großen Mengen an Erdöl und Erdölprodukten, schreibt Mostova.
Der oberste Steuereintreiber, Minister Oleksandr Klymenko, scheute sich nicht, im »Interesse des Staates« gegen die Interessen der Oligarchen vorzugehen. Die Steuerfahndung rückte Zeitungsberichten zufolge bereits in Unternehmen der Oligarchen Kolomojskij, Pintschuk, Firtasch und sogar bei Achmetow an. Am 16. Januar 2013 unternahmen die »Jungreformer« mit der Einbringung eines Gesetzentwurfs über Transferpreisbildung in das Ministerkabinett ihren ersten ernsthaften Angriff auf die Oligarchen, konkret auf deren »Steueroptimierungspraxis«. Mit dem Ziel, Steuern zu »sparen«, exportieren die großen Finanz- und Industriegruppen (FPG) der Oligarchen ihre Produkte zu Preisen unter den Produktionskosten an Offshore-Tochtergesellschaften, die diese zu Weltmarktpreisen absetzen. Im Inland werden so Verluste ausgewiesen und Steuern gespart, während die Gewinne bei den Offshore-Tochtergesellschaften anfallen. Es ist ein Indiz für die starke Stellung »der Familie« in der Regierung, dass das Vorgehen gegen diese Praxis von der Regierung gebilligt wurde. . Nach dem neuen Gesetz soll in Zukunft der »durchschnittliche Marktpreis« der Gewinnbesteuerung zugrunde gelegt werden. Auf die Frage, wer die Höhe des Marktpreises bestimme, ließ Klymenko keinen Zweifel daran, dass es letzlich sein Ministerium sei, das dafür zuständig sein werde. Dieses Gesetz, das bereits seit der Verabschiedung des neuen Steuerkodexes im Jahre 2011 diskutiert – und boykottiert – wird, trifft nicht nur »Oligarchen«. Im Parlament stieß dieser Gesetzentwurf der Regierung in der Fraktion der (Regierungs-)Partei der Regionen, in deren Reihen viele Unternehmer sitzen, auf heftigen Widerstand.
Alle Macht »Der Familie«!
Je mehr die demokratische Legitimation seiner autoritären Herrschaft schwindet – und seine Wiederwahl im Jahre 2015 gefährdet erscheint, desto mehr verlässt sich Janukowytsch auf die Organe der Sicherheit des Staates, d. h. konkret, der Sicherheit seines Regimes. Das Regime hatte sich vor den Parlamentswahlen im Oktober 2012 gegen gewalttätigen Protest gewappnet. Die Kontrolle über die »Sylovyky«, die »Sicherheitskräfte«, die bewaffneten Organe staatlicher Gewalt, ist – nicht nur de facto, sondern nach der Wiederinkraftsetzung der Verfassung von 1996 auch verfassungsrechtlich – in der Hand des Präsidenten Janukowytsch konzentriert. Die führenden Positionen aller Sicherheitsbehörden wurden mit Personen aus dessen innerem Kreis besetzt. Während der Orangen Revolution, durch die ihm sein gefälschter Wahlsieg entrissen wurde, hatte der »offizielle« Präsidentschaftskandidat Janukowytsch von Präsident Kutschma deren blutige Niederschlagung gefordert; bei einem »nächsten Mal« würde der Präsident Janukowytsch vielleicht von dem letzten Mittel Gebrauch machen und die Ukraine auf den »belarussischen Weg« bringen.
Das Innenministerium, der Inlandsgeheimdienst und die (wegen ihrer Willkür gefürchtete) Steuerbehörde, die heute Teil des Ministeriums für Steuern und Zölle ist, haben ihre bewaffneten »Sonderdienste«: die Bereitschaftspolizei »Berkut«, die SBU-Sondereinheit »Alfa« und die Steuerpolizei. »Es vollzieht sich eine Bewegung in Richtung Polizeistaat«, sagte der ehemalige Chef des Inlandsgeheimdienstes (2006–2010), Walentyn Nalywajtschenko, »eine parlamentarische Kontrolle existiert nicht.« Die Partei der Regionen brachte 2012 einen Gesetzentwurf ins Parlament ein, der die Eingliederung der Truppen des Ministeriums des Innern in das Militär unter alleiniger Kontrolle des Präsidenten vorsah. Neben der angeblichen Aufgabe als zusätzlicher Strafverfolgungseinheit zur »Verteidigung der bürgerlichen Freiheiten« sollte diese Einheit in Wahrheit die »Regierung gegen den Versuch eines Staatsstreichs schützen«.
Mit seiner »Kaderpolitik« hat Präsident Janukowytsch »der Familie« die Kontrolle über die »staatliche« Sicherheit, d. h., die Sicherheit seines Regimes, und über die staatlichen Finanzen verschafft. Mit »Saschas Freund« Oleksandr Klymenko an der Spitze des Steuerministeriums kontrolliert die Familie den größten Teil des Flusses der staatlichen Einnahmen. »Die Familie« rückt nunmehr in »nicht-traditionelle« Bereicherungsfelder vor, so in den potenziell lukrativen Sektor nicht-konventioneller Energieträger. In die Zuständigkeit des Ministers für Umwelt und natürliche Ressourcen, Oleh Proskurjakow, fallen die Erkundung und eventuelle Ausbeutung nicht-konventioneller Erdgasvorkommen (Schiefer- und Schelf-Gas) in der Ukraine. Mit der Ernennung von Walerij Dudinow am 16. Januar 2013 zum neuen Chef des Staatlichen Dienstes für Geologie und Bodenschätze, der für die Erschließung ukrainischer Schiefergasvorkommen und Erdgas führender Kohleflöze zuständig ist, verstärkt »die Familie« ihren Einfluss auf den Öl- und Gas-Sektor. Es ist damit zu rechnen, dass die Erschließung dieser Ressourcen aus den zähen Prozeduren der Bürokratie befreit und zügig voran getrieben wird – sicher nicht zum Schaden »der Familie«, wobei die nominell »unabhängige« kleine ukrainische Firma SPK Geoservis wohl eine Gewinn transferierende Rolle spielen wird.
Die anstehende Privatisierung von landwirtschaftlichen Nutzflächen bietet in Zukunft ausgedehnte Möglichkeiten für die Expansion der Geschäfte »der Familie«. Nicht von Ungefähr wurde auch das Agrarministerium an einen Angehörigen »der Familie«, Nikolaj Prisjaschnjuk, vergeben. Nach Ablauf seiner wahrscheinlichen zweiten Amtszeit im Jahre 2020 wird Wiktor Janukowytsch vielleicht nicht mehr Präsident der Ukraine sein, wohl aber einer der reichsten Oligarchen des Landes.
Das Dilemma der Oligarchen
Seit der zweiten Amtszeit des Präsidenten Kutschma besteht in der Ukraine ein variables Geflecht zwischen den abwechselnd an die Macht gelangenden Politikern und der stabilen Gruppe der »Oligarchen«, deren geschäftliche Interessen die Politik der von ihnen unterstützten Parteien maßgeblich beeinflussen. Die Konkurrenz zwischen den Oligarchen sorgte bislang für eine limitierte Pluralität in der Politik und in den von ihnen beherrschten Medien, die Wojciech Kononczuk vom Warschauer Center for Eastern Studies als »oligarchische Demokratie« bezeichnet.
Seit der Machtübernahme des Präsidenten Janukowytsch sehen sich die »Oligarchen« mit einem Dilemma konfrontiert: So konnten sie einerseits einen Sieg der Opposition in den Parlamentswahlen vom 28. Oktober 2012 nicht wünschen; noch weniger können sie eine Rückkehr Julija Tymoschenkos an die Macht, d. h., ihre Wahl zur Präsidentin im Jahre 2015, wünschen, da ihnen – anders als nach der Orangen Revolution – dann wirklich eine partielle Enteignung drohen würde. Andererseits gefährdet Janukowytschs Verbleib an der Macht ihre Interessen, sowohl in der Ukraine wie auch global – im Westen wie im Osten. Im Inland greift »die Familie« nach ihrem Vermögen. Im westlichen Ausland müssen sie fürchten, auf die »schwarze Liste« zu geraten, die bereits für Funktionäre des Regimes Janukowytsch im amerikanischen Kongress kursiert. Und falls Präsident Janukowytsch sein Heil – wie seinerzeit der total diskreditierte Präsident Kutschma – in Putins »Eurasischer Union« suchen sollte, müssten die ukrainischen Oligarchen mit der Übernahme ihrer Unternehmen durch die russischen Oligarchen rechnen.
Die Oligarchen, die seinen Wahlkampf finanziell und medial unterstützt hatten, wurden von Janukowytsch nach seiner Wahl zum Präsidenten zunächst fürstlich belohnt: Ihr Vermögen ist in den ersten zwei Jahren seiner Präsidentschaft – ungeachtet der wirtschaftlichen Krise – enorm gewachsen. Mit seinem Gespür für Balance versorgte Präsident Janukowytsch alle »oligarchischen Clans« ausgewogen mit Pfründen. Doch nun drängt Präsident Janukowytsch selbst in ihren Kreis. Während Präsident Kutschma in neo-feudaler Manier den Oligarchen gegen politische Loyalität – und Finanzierung seiner Wahlkämpfe – die Lizenz zur Privatisierung staatlicher Unternehmen unter Wert erteilte, fordert Präsident Janukowytsch von ihnen für die privilegierte Privatisierung einen Anteil für »die Familie«: Die Oligarchen müssen nun teilen.
Aufstand der Oligarchen?
Der Ukraine-Experte Taras Kuzio konstatierte vor der Parlamentswahl im Oktober 2012 »eine rasche Absetzbewegung« der Oligarchen vom Regime des Präsidenten Janukowytsch. Das »Big Business«, aber auch mittelständische Unternehmer würden sich in Gesprächen mit Diplomaten »heimlich« von Präsident Janukowytsch distanzieren
Gefahr drohe dem Regime Janukowytsch nicht von Protestbewegungen, nicht von einem Aufstand der Bevölkerung, meint Anders Aslund; fürchten müsse er die Oligarchen. In der Ukraine sind nicht die politische Opposition und die bürgerschaftliche Gesellschaft das Gegengewicht zur Staatsmacht; die einzige Kraft, die dazu über die erforderlichen Ressourcen verfügt, sind die Oligarchen. Gegen sie – mehr als gegen »das Volk« – richtet sich die Unterordnung der bewaffneten Organe und der Finanzinstitutionen des Staates unter die alleinige Kontrolle des Präsidenten.
Was dem Präsidenten Janukowytsch zum sicheren Sieg in den kommenden Präsidentschaftswahlen im Jahre 2015 fehlt, ist die Kontrolle über die großen Fernsehgesellschaften. Alle oligarchischen Eigentümer der Fernsehkanäle mit den höchsten Einschaltquoten sollen bereits »Vorschläge« erhalten haben, zu verkaufen, schreibt Julija Mostova. Die internationalen Beobachter der Parlamentswahl vom 28. Oktober 2012 konstatierten eine »unausgewogene« Wahlberichterstattung in den Medien. Mehrere unabhängige Monitoring-Institute, die – finanziert von der International Renaissance Foundation (George Soros) – die Wahlkampf-Berichterstattung der neun großen nationalen Fernsehgesellschaften unter die Lupe nahmen, machten dagegen eine überraschende Feststellung, über die Katja Gortschinskaja in der englischsprachigen Kyiv Post berichtete: Mehrere Medien-Magnaten räumten von Anfang September bis Mitte Oktober 2012 der Opposition zunehmend mehr Raum ein. Die Oligarchen hätten plötzlich die Gefahr erkannt, die die Konzentration der politischen Macht in der Hand einer Partei für sie birgt, zitiert Gortschinskaya die Direktorin des International Media Institute, Wiktoria Sjumar. Das erste »Opfer« der Übernahme-Offensive wurde der Medienmagnat Walerij Choroschkowskyj, der bis zum 14. Dezember 2012 Erster Stellvertretender Premierminister war. Wegen »Abkehr von der pro-präsidentialen Berichterstattung« musste er Anfang Februar 2013 seinen Anteil an der Inter Media Group Ltd., zu welcher der populäre Fernsehkanal INTER gehört, an die Gruppe des Oligarchen Dmitro Firtasch (GDF Media Ltd.) – und an den Chef der Administration des Präsidenten Serhij Lowotschkyn – verkaufen, erklärte Sjumar, die Mitglied des nunmehr aufgelösten (zivil-) »gesellschaftlichen Beirats« des Kanals INTER war.
Aslund schloss nicht aus, dass Präsident Janukowytsch »gegen die Oligarchen einen Krieg« beginnt, wie der russische Präsident Putin im Jahre 2003 gegen Michail Chodorkowskij. Es sei klar, dass Janukowytsch alle Macht und allen Reichtum in der Hand seiner »Familie« konzentrieren wolle. Mit allen Finanzbehörden des Staates unter seiner Kontrolle hat Präsident Janukowytsch tatsächlich die Mittel in der Hand, um die Oligarchen zu erpressen. Mit allen staatlichen Gewaltorganen in seiner Hand kann er seinen Ansprüchen an die Oligarchen Nachdruck verleihen. Das Interesse der Oligarchen, zu verhindern, dass Janukowytsch und seine »Familie« in der Ukraine ein absolutes Machtmonopol errichten, macht sie zu potenziellen Verbündeten der Opposition. Die heute verfemten Oligarchen könnten im Jahr der nächsten Präsidentschaftswahl, also im Jahre 2015, noch zu Bundesgenossen der Opposition gegen Präsident Janukowytsch werden.
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