Das Schwarze Quadrat des modernen Europas

Von Pavlo Klimkin (Berlin)

Seit Dezember 2013 schaut die Welt mit gespannter Aufmerksamkeit auf die Ukraine. Für viele in der Welt, vor allem in Europa, wird immer deutlicher, dass die Ereignisse in Kiew weit über die Grenzen des innenpolitischen Faktors hinausgegangen sind. Meiner Auffassung nach tragen die Demonstrationen in der Ukraine zur Stärkung des Ansehens der europäischen Idee tatkräftig bei. Über ihre tausendjährige Geschichte hinweg fühlten sich die Ukrainer immer mit Europa verbunden, sahen sich als untrennbaren Teil der großen europäischen Familie. Sie bereicherten die europäischen Errungenschaften mit genialen Leistungen und Erfindungen in Flugindustrie, Medizin, Kunst und anderen Bereichen unseres Lebens.

In meiner Analyse möchte ich auf zwei Erfindungen der Ukrainer zurückgreifen, um die aktuellen Prozesse in der Ukraine zu erörtern.

Im Dezember 1913, fast genau vor 100 Jahren, erschien »Das Schwarze Quadrat« von Kasimir Malewitsch, der bekanntlich nicht nur in Kiew geboren wurde, sondern dort auch seine Herausbildung als Künstler erlebte.

Anfang des 21. Jahrhunderts ist der ukrainische Begriff »Maidan« in den internationalen Sprachgebrauch eingegangen, wobei mit ihm nicht die ursprüngliche Bedeutung »der Platz« gemeint ist; er wird vielmehr mit einem bedeutungsvollen Phänomen assoziiert.

»Das Schwarze Quadrat« gilt als Revolutionspunkt in der Kunst, an dem ein grundlegender Paradigmenwandel erfolgte: Die Energie des Schwarzen Quadrats befand sich nicht mehr in seiner Form, sondern versteckte sich in seiner Tiefe und dem Kontrast.

100 Jahre später erschien in der Ukraine der »Maidan«, welcher zu einem ähnlichen politischen Paradigmenwandel führte: Der Maidan ist ein Begriff für die lebendige Energie der Menschen, der Zivilgesellschaft, welcher in kein zuvor bekanntes politisches Modell passt, denn der Maidan zieht die Politik nach sich, nicht umgekehrt. In diesem Zusammenhang ist es symbolisch, dass gerade das Schwarze Quadrat zu einem Trauersymbol auf Millionen Facebook-Seiten wurde, als auf dem Maidan die Menschen getötet worden waren.

Die Menschen auf dem Maidan haben demonstriert, dass sie die europäischen Werte am Rande ihrer physischen Möglichkeiten und sogar außerhalb dieses Rahmens unterstützen und verteidigen können. Heute stimmen die ukrainischen Politiker ihre Konzeptionen, Strategien und Handlungen nicht nur miteinander, sondern in erster Linie auch mit den Menschen auf dem Maidan ab. Diese direkte – obwohl auch in vielen Aspekten nicht ideale – Art der Demokratie ist eine einmalige große Chance für die Ukraine, aber auch für Europa und sein Wertesystem, zu welchem alle europäischen Staaten einschließlich Russland gehören sollten. Um diese Chance zu nutzen, müssen wir zusammen neue Grundlagen für Zusammenarbeit und Integration schaffen.

Heute ist es allen endgültig klar geworden, dass die Politik der Östlichen Partnerschaft (wenigstens in der Form, wie wir sie jetzt kennen) keine optimale Grundlage für die Zusammenarbeit der Ukraine und der EU ist. Diese Zusammenarbeit muss inhaltlich und institutionell verstärkt werden. Aus meiner Sicht sind folgende Ansätze von besonderer Bedeutung:

eine europäische Perspektive der Ukraine, damit wir ein konkretes Ziel bei unserer Annäherung an Europa verfolgen könnenUnterstützung der Systemreformen in der UkraineVisumsfreiheitUnterstützung der Zivilgesellschaft

Wir müssen uns von der primitiven Denkweise des »Entweder-oder« in der Außenpolitik trennen, was aber nicht bedeutet, dass wir sie durch ein »Weder-noch«-Modell ersetzen sollten. Die Außenbeziehungen bringen immer mehr Mehrwert mit sich, und unterschiedliche Bereiche der Außenbeziehungen müssen einander in diesem Mehrwert ergänzen und sich nicht voneinander abtrennen. Wenn unsere Politiker dies nicht schaffen, wird die Zivilgesellschaft wieder eine eigene Lösung anbieten. Aber dann müssten wir die Effizienz des bestehenden Modells in Frage stellen, welches einen Neustart zur Abschaffung der Demokratiedefizite braucht.

P.S. Wenn wir über den Maidan und seinen Einfluss auf die Entwicklung der Zivilgesellschaft und des politischen Bewusstseins reden, ist es mir sehr wichtig zu erwähnen, dass nach dem Beginn der Protestaktionen in Kiew noch im vorigen Jahr die ARD eine Umfrage durchführte, wonach 75 % der Deutschen sich zugunsten einer europäischen Perspektive für die Ukraine geäußert haben. Das zeugt davon, dass der Maidan nicht nur die Ukraine geändert hat, sondern auch das Verhalten der Welt zur Ukraine.

Zum Weiterlesen

Analyse

Zur außenpolitischen Orientierung des neuen ukrainischen Präsidenten und der Partei der Regionen

Von Wilfried Jilge
Unmittelbar nach seiner Wahl zum Präsidenten reiste Viktor Janukowitsch zur EU-Kommission nach Brüssel, wo er seinen ersten Antrittsbesuch im Ausland absolvierte. Der früher häufig als prorussisch eingestufte Janukowitsch, für den 2004 die Präsidentenwahlen gefälscht wurden, gab sich in der Pressekonferenz mit José Manuel Barroso ausgesprochen proeuropäisch: Für die Ukraine werde, so Janukowitsch, die europäische Integration ebenso wie die Realisierung systematischer sozioökonomischer Reformen Priorität haben. Experten haben bereits im Wahlkampf darauf hingewiesen, dass der neue Präsident einen auf die Integration der Ukraine in die Strukturen der EU zielenden Kurs – wenn auch vorsichtiger als sein Vorgänger – fortsetzen könnte. Hatte die westliche Berichterstattung Janukowitsch früher meist als moskauhörigen Kandidaten eingestuft (was in dieser Eindeutigkeit schon 2004 nicht ganz richtig war), werden er und seine Rivalin Julia Timoschenko heute immer häufiger als gleichermaßen »prorussisch« wie »proeuropäisch« eingeschätzt. Dies ist keineswegs ausgeschlossen: Bei der Bewältigung der die Ukraine heftig treffenden Finanzkrise ist die Ukraine nicht nur auf Hilfe aus Moskau, sondern auch aus der EU dringend angewiesen. (…)
Zum Artikel
Analyse

Rückkehr zum Multivektoralismus? – Eine Bilanz der Außenpolitik Janukowytschs

Von Inna Melnykovska
Die Debatten über die Außenpolitik des Präsidenten Janukowytsch sind stark mit den Debatten über die Innenpolitik verknüpft und normativ geprägt. Beobachter erwarten eine Korrelation zwischen der Annäherung an Russland und einem Anwachsen der autoritären Tendenzen in der ukrainischen Innenpolitik; für Erfolge in der Kooperation mit der EU wird hingegen Demokratie vorausgesetzt. Die Bilanz der einjährigen Amtszeit Janukowytschs zeigt, dass es in den beiden wichtigsten Bereichen der Außenpolitik – Zusammenarbeit mit der EU und mit Russland – Kooperationserfolge, aber auch Konflikte zu verzeichnen gibt. Auf den ersten Blick ähnelt die Außenpolitik Janukowytschs der multivektoralen Außenpolitik des ehemaligen Präsidenten Leonid Kutschma. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass sie im Gegensatz zur Politik Kutschmas nicht primär darauf ausgerichtet ist, die Einflüsse der beiden genannten externen Akteure gegeneinander auszuspielen. (…)
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS