Ein kleiner Regimewechsel in Kiew. Reformpolitische Implikationen der Parlamentswahl vom 26. Oktober 2014

Von Andreas Umland (Kiew)

Mit den – unter den gegebenen schwierigen Umständen – relativ erfolgreich verlaufenen Parlamentswahlen vom 26. Oktober 2014 hat die Ukraine die letzte große unmittelbare Forderung des Euromaidans erfüllt. Die Ukraine hat damit auch einen kleinen Regimewechsel seit Ende Februar abgeschlossen. Nach Wiedereinführung der semipräsidentiellen Verfassung im Frühjahr sowie der Amtsübernahme Poroschenkos und der Teilratifizierung des EU-Assoziierungsabkommens im Sommer 2014 hat sich mit dem jüngsten Wahlergebnis sowohl die institutionelle als auch die personelle Konstellation der Kiewer politischen Landschaft grundlegend verändert. Von einer tatsächlich neuen Ukraine zu sprechen, scheint in vielerlei und nunmehr auch in parteipolitischer Hinsicht gerechtfertigt. Vier grundlegende Veränderungen in der Werchowna Rada lassen mich hoffnungsvoll auf zumindest diesen Aspekt der neuen politischen Situation in Kiew blicken: der Sieg proeuropäischer Parteien, das Fiasko der KPU, das schwache Abschneiden sonstiger Randparteien und der Einzug etlicher Zivilgesellschafter ins Parlament.

Erstens haben die ausdrücklich prowestlichen Parteien, d. h. die Volksfront Arsenij Jazenjuks (22,12 %, 82 Sitze), der Präsidentenblock Petro Poroschenkos (21,82 %, 132 Sitze), die Selbsthilfe Andrij Sadowijs (10,97 %, 33 Sitze) und die Vaterlandspartei Julia Timoschenkos (5,68 %, 19 Sitze), erstmals eine klare Mehrheit, also 266 im von 450 auf 423 Abgeordnete geschrumpften Legislativorgan der Ukraine. Dies ist ein Novum im ukrainischen Parlament, das bislang stets zwischen Nationaldemokraten einerseits und mehr oder minder prorussischen Fraktionen andererseits gespalten war sowie einen großen, schwer definierbaren sogenannten »Sumpf« in der politischen Mitte enthielt. Sowohl das Lager der Antiwestler als auch der »Sumpf« sind in der neuen Rada deutlich geschrumpft. Die prowestlichen Nationaldemokraten dominieren derart klar, dass wohl selbst bei einer regulären Wahl in allen Regionen der Ukraine, also auch auf der Krim und im Donezbecken, so kann man spekulieren, die proeuropäischen Kräfte eine zwar etwas geringere, aber immer noch klare Mehrheit errungen hätten.

Vor allem ist – und das ist die zweite Neuerung – erstmals die Kommunistische Partei (KP) und damit die bei weitem stärkste eindeutig antiwestliche und prorussische Kraft der Ukraine nicht im ukrainischen Parlament vertreten (3,88 %, keine Sitze); manche scherzen – seit 96 Jahren zum ersten Mal. Die bisherige KP könnte sogar aufgrund ihrer allzu engen Bindung an Russland sowie ihrer belasteten sowjetischen Vergangenheit auf Dauer aus der politischen Landschaft der Ukraine verschwinden. Womöglich wird die so entstehende politische Nische in Zukunft durch eine sich selbst als sozialistisch oder sozialdemokratisch bezeichnende Partei, derer es in der Ukraine etliche gibt, gefüllt.

Zum dritten haben neben der KP auch andere Randparteien überraschend schlecht abgeschnitten. Vor allem gelang es der sogenannten Radikalen Partei des Politclowns Oleh Ljaschko nicht, die beachtlichen Umfrageergebnisse seiner Populistentruppe im Sommer 2014 in reale Wählerunterstützung umzusetzen. Obwohl die Radikalen mit 7,44 % (22 Sitze) die Fünfprozenthürde übersprangen und nun eine Fraktion stellen, könnte Ljaschkos Partei eine Eintagsfliege in der ukrainischen Politik bleiben. Weder Ljaschko selbst noch seine Fraktionsgenossen sind visionäre Politiker, die ein nachhaltiges politisches Konzept für die Partei erkennen lassen.

Noch bemerkenswerter sind die Entwicklungen am rechten Rand. Wie von einigen Nationalismusforschern, etwa Anton Shekhovtsov (Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Wien), schon vor den Präsidentschaftswahlen vom Mai 2015 prognostiziert, erlitt die wichtigste eindeutig rechtsradikale Partei, die sogenannte Allukrainische Union Freiheit (Swoboda), einen stärkeren Einbruch ihrer Wählerunterstützung als erwartet. Ihr profilierter Anführer und talentierter Euromaidan-Sprecher Oleh Tjahnibok hatte schon bei den Präsidentschaftswahlen im Mai zur Überraschung vieler Beobachter lediglich 1,16 % erhalten. Seine Partei scheiterte im Oktober mit 4,71 % knapp an der Eingangsbarriere zum Parlament. Die Freiheitspartei ist mit diesem Absturz von den 10,44 %, die sie 2012 erhalten hatte, nun geschwächt. Sie erkämpfte aber immerhin sechs Direktmandate in der Werchowna Rada, bleibt in den drei Gebietsparlamenten Galiziens dominant und verschwindet damit nicht völlig aus der politischen Landschaft der Ukraine.

Ein noch kläglicheres Schicksal ereilte den berüchtigten Rechten Sektor, eine neue, schwer definierbare und weitgehend unerforschte Dachorganisation verschiedener mehr oder minder nationalistischer Kleingruppen, die 1,81 % erhielt und nur ein Direktmandat errang. Zu dem Misserfolg des Rechten Sektors kam es trotz der enormen internationalen Aufmerksamkeit, die diese Neugründung im Rahmen der russischen Desinformationskampagne gegen die Ukraine seit Anfang 2014 erhalten hatte, und ungeachtet der wachsenden Popularität von militantem Patriotismus in der von Krieg, Leid und Zerstörung geprägten Ukraine. Zwar gelang der schillernden Führungsfigur des Rechten Sektors, Dmytro Jarosch, der Parlamentseinzug per Direktmandat aus einem Wahlbezirk seiner hauptsächlich russischsprachigen Dnipropetrowsker Oblast (29,76 %), bei den gesamtnationalen Präsidentschaftswahlen fünf Monate zuvor hatte Jarosch allerdings nur 0,70 % erhalten. Seine Autorität dürfte sich daher – trotz der indirekten russischen Werbung für den durch die Kremlmedien dämonisierten Jarosch – auch in Zukunft in Grenzen halten.

Das womöglich bedauerlichste Ergebnis der Wahlen ist die Direktwahl des ebenfalls schillernden Ultranationalisten Andrij Bilezkij im Kiewer Stadtbezirk Obolon (33,75 %). Der bis vor kurzem der ukrainischen Öffentlichkeit völlig unbekannte aus Charkiw stammende Bilezkij schaffte aufgrund seiner monatelangen öffentlichen Profilierung als Frontkämpfer, Vaterlandsverteidiger und Kommandeur des inzwischen auch im Westen weithin bekannten Freiwilligenregiments Asow den Sprung ins Parlament. Der ukrainischen Öffentlichkeit weitgehend verborgen blieb dabei Bilezkijs dubiose Vergangenheit als sogenannter »weißer Führer« der klar faschistischen Zwergorganisation Sozial-Nationale Versammlung – Patriot der Ukraine (SNA-PU). Der unverhohlene biologische Rassismus und der kaum kaschierte Neonazismus der SNA-PU stellt selbst im Kontext des ukrainischen Rechtsradikalismus eine Aberration dar.

Insgesamt kommen die ukrainischen Ultranationalisten jedoch nach einer Zählung des führenden Rechtsextremismusforschers Wjatscheslaw Lichatschow (Euro-Asiatischer Jüdischer Kongress, Jerusalem) im neuen Parlament auf insgesamt nur 13 Mandate, womit sich deren Zahl gegenüber dem letzten Parlament auf knapp ein Drittel reduziert hat. Das Scheitern der Freiheitspartei und des Rechten Sektors an der Fünfprozentbarriere ist umso bemerkenswerter, als nur einige wenige Wähler von der Krim und nur ein Teil der Wählerschaft des Donezbeckens an den Wahlen teilgenommen hat. Damit war die verbleibende Gesamtwählerschaft der Ukraine eigentlich zu Gunsten der ukrainischen Ethnozentristen reduziert, die auf der Krim und im Donbas nur geringe Unterstützung genießen. Nichtsdestoweniger scheiterten zur Überraschung nicht zuletzt ihrer eigenen Führer beide Parteien bei den Verhältniswahlen. Sie hätten mit einer vereinigten Liste zwar wahrscheinlich den Sprung über die Eingangshürde geschafft, man kann jedoch spekulieren, dass bei einer regulären Wahl in allen Regionen der Ukraine auch eine vereinigte Liste der Freiheitspartei und des Rechten Sektors letztlich weniger als fünf Prozent Wählerunterstützung erhalten hätte.

Das wohl positivste Ergebnis und das vierte Novum des jetzigen Parlaments ist der Einzug einer ganzen Reihe profilierter Aktivisten des Euromaidans, die über verschiedene Parteilisten bzw. direkt gewählt zu Abgeordneten wurden. Unter ihnen sind so bekannte investigative Journalisten wie Serhij Leschtschenko und Mustafa Nayem oder auch so hoch angesehene Zivilgesellschafterinnen wie Hanna Hopko, Switlana Salischtschuk und Iwanna Klympush-Zinzadse. Es hatte zwar auch vorher einzelne Parlamentsabgeordnete mit ähnlichem Profil in der Rada gegeben, etwa den Fernsehjournalisten Andrij Schewtschenko. Allerdings erreicht ihre Zahl mit circa 30 derartigen Deputierten nun eine kritische Masse, die darauf hoffen lässt, dass sich nicht nur der Inhalt, sondern auch der Modus der Gesetzgebungstätigkeit im neuen ukrainischen Parlament merklich verbessern wird. Zwar werden auch weiterhin die sogenannten Oligarchen versuchen, hinter den Kulissen zu ihrem persönlichen Vorteil Einfluss auf die Legislative zu nehmen, zumindest die Zivilgesellschafter, so ist zu erwarten, werden sich jedoch dagegen energisch zur Wehr setzen.

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