Mit dem Beginn der Proteste auf dem Kiewer Maidan vor einem Jahr schien die These, die ukrainische Zivilgesellschaft sei schwach, endgültig widerlegt. Und tatsächlich kann der Euromaidan als ein Meisterstück politischer Selbstorganisation gelten: initiiert über die sozialen Medien, am Laufen gehalten von AktivistInnen, die in verschiedensten NGOs Organisations-, Kampagnen- und Logistikerfahrung gesammelt haben, und getragen von Menschen aus allen Bevölkerungsschichten, Berufen und Landesteilen der Ukraine.
Dass dies alles so funktionierte, ist auch der kontinuierlichen und intensiven Weiterentwicklung der Zivilgesellschaft seit der Orangenen Revolution zu verdanken. Damals war die Zivilgesellschaft überfordert vom eigenen Erfolg und zu schwach, um den demokratischen Moment in einen demokratischen Prozess umzuwandeln. Doch aus der Enttäuschung wurde Entwicklung, welche auch von externen Demokratieförderern unterstützt wurde. Die Förderung indes war eher diffus und widersprüchlich als kohärent und zielgerichtet. Externe Förderer verfolgten in den letzten Jahren in der Ukraine vor allem zwei Strategien: einmal die der Professionalisierung der Zivilgesellschaft und zum anderen politische Kulturförderung. Im Bereich der Professionalisierung wurden bevorzugt Projekte unterstützt, die vor allem Kampagnenmanagement, Vernetzung und interne Strukturen der Organisationen verbesserten – einige Geber erhoben erfolgreich absolvierte Buchhaltungskurse zur Voraussetzung für die Förderung. Ein weitaus kleinerer Teil der Förderer verfolgte eine Strategie, die sich auf die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur, auf thematische »Nischen« oder lokale Initiativen konzentrierte. In der Folge dieser Förderstrategien blieb die ukrainische Zivilgesellschaft zunächst ein selbstreferenzieller Zirkel gut gebildeter und engagierter Leute, die aber weite Teile der Gesellschaft mit ihren Aktivitäten nicht erreichten.
Erst auf dem Maidan kamen beide Strategien zusammen: Engagierte StudentInnen, Initiativen und Kampagnenprofis bildeten das Rückgrat der Proteste jener Hunderttausenden, die gegen das autoritäre System Janukowitsch protestierten. In diesen Monaten zeigte die ukrainische Zivilgesellschaft ihre Stärke. Für eine zivilgesellschaftliche Erfolgsgeschichte ist es aber noch zu früh, denn die Protestmobilisierung ist nur der Anfang der Demokratisierung durch die Zivilgesellschaft. In der postrevolutionären Phase der Institutionalisierung und Konsolidierung der Demokratie kommen der Zivilgesellschaft drei zentrale Aufgaben zu: Sie unterstützt das Wachsen einer demokratischen politischen Kultur, überwacht das transparente Handeln der Institutionen und gilt als »Schule der Demokratie«, die auch neue, demokratisch orientierte Kräfte und künftige politische Entscheidungsträger hervorbringt.
Letztgenannter Punkt wurde bereits realisiert: In den Parlamentswahlen im Oktober 2014 kandidierten erstmals etwa dreißig AktivistInnen sowie investigative JournalistInnen für die Werchowna Rada. Neunzehn von ihnen haben es über die Listen Poroschenko, Nationale Front, Selbsthilfe und Vaterlandspartei geschafft, ein Mandat zu erringen. Es sind Menschen wie die Journalisten Mustafa Najem oder Serhij Leschtschenko, die in den vergangenen Jahren mutig und investigativ über die Korruption der Janukowitsch-Autokratie berichtet und den Euromaidan initiiert haben. Es sind auch AktivistInnen wie Switlana Salischtschuk, eine erfahrene NGO-Kampagnenmanagerin; wie Hanna Hopko, Leiterin der derzeit wohl wichtigsten politischen NGO, welche Vorschläge für die zentralen Reformvorhaben erarbeitet und dem Parlament unterbreitet; oder wie Jehor Sobolew, der sich unermüdlich für eine Lustration und Aufarbeitung der autoritären Vergangenheit einsetzt. Mit ihnen verbindet sich die Hoffnung, dass sie eine neue Kultur der Transparenz und der Aufrichtigkeit ins Parlament bringen. Ihre bisherigen Biographien jedenfalls deuten darauf hin, dass sie überzeugte Demokraten sind, und untereinander gut vernetzt obendrein.
Doch wichtig ist jetzt vor allem die Entwicklung einer stabilen und ausdifferenzierten Parteienlandschaft. Schon im Transformationsmusterland Polen hat die Konsolidierung des Parteiensystems mehr als ein Jahrzehnt in Anspruch genommen. Eine solche Lernphase kann sich die Ukraine heute nicht leisten, zumal der Krieg mit Russland die Reformbereitschaft genug lähmt. Die Konzentration auf den Krieg verhindert auch die inhaltliche Parteientwicklung – die wichtigste Voraussetzung für die Formulierung von Politik und die Bildung von Koalitionen. Heute sind alle relevanten Parteien der Ukraine vor allem eines: patriotisch. So fehlt dem Land nicht nur ein ernsthafter politischer Wettbewerb, sondern, indem Parteien inhaltsleer bleiben, auch eine Entwicklung der Parteien vom bloßen Karrierevehikel zu Orten politischer Willensbildung.
Inwiefern die »Neuen« im Parlament zur Entwicklung einer pluralistischen Parteienlandschaft beitragen können, bleibt fraglich. Erste Konflikte wie der Austritt Sobolews aus der von ihm selbst gegründeten Partei Wolja und eine mögliche Spaltung der jungen Partei lassen nichts Gutes erahnen. Dass der Spill-Over von der Zivilgesellschaft auf die Politik selten reibungslos verläuft, ist zwar bekannt, dennoch können sich die AktivistInnen nicht zu viele Reibungsverluste leisten. Es bleibt zu hoffen, dass die Hoffnungsträger ihre Professionalität im politischen Alltag und für den Aufbau echter Parteien nutzen.
Die zweite wichtige Aufgabe der Zivilgesellschaft ist, Regierungshandeln und Parlament weiter kritisch zu begleiten. Nach dem Wechsel einiger ihrer erfahrensten VertreterInnen in die Politik muss sich die Zivilgesellschaft nun auch personell weiterentwickeln und sich gegenüber Parlament und Regierung neu positionieren. Dazu gehören nicht nur die intensive Lobbyarbeit und das Drängen auf Reformen, sondern auch die kritische Beobachtung ihrer »eigenen« ParlamentarierInnen.
Die schwierigste, weil langfristige Aufgabe ist jedoch die Förderung einer demokratischen politischen Kultur. Gerade jetzt, angesichts des Krieges im Osten der Ukraine, entwickelten die Ukrainerinnen und Ukrainer ein Miteinander, ein gemeinsames altruistisches Handeln, das vor zwei Jahren noch undenkbar war. Es wird gesammelt und gespendet für die Armee, die Menschen melden sich freiwillig für Hilfseinsätze zur Versorgung der Verletzten und in vielen Regionen und Kommunen entsteht anscheindend eine Zivilgesellschaft von unten. Aber ist dies auch eine »zivile Gesellschaft«? So beeindruckend das momentane Engagement vieler ist: Eine Zivilgesellschaft, die um die Themen Krieg und Nothilfe entsteht, läuft Gefahr, sich kurzfristig zu radikalisieren und mittelfristig wieder zusammenzubrechen. Für die Demokratisierung ist beides problematisch. Ein Dialog zwischen der »alten« politischen Zivilgesellschaft und dem neuen Engagement wäre notwendig, um den aktuellen Gemeinsinn aufzunehmen und in eine Zivilgesellschaft für Friedenszeiten zu transformieren.
Die externen Förderer könnten diesen Dialog unterstützen. Die Professionalisierung der Organisationen, vor allem auf der nationalen Ebene, ist weit vorangeschritten. Jetzt gilt es, neue Strategien zu erarbeiten und zum Beispiel die neuen lokalen Initiativen mit Know-how und Ressourcen zu begleiten, damit die Erfahrung, etwas verändern zu können, durch das Engagement vor Ort aufrechterhalten wird.