Sozialausgaben und Staatshaushalt in der Ukraine. Die Herausforderungen der fiskalischen Konsolidierung

Von Gunter Deuber (Wien)

Sozialausgaben über 20 % des BIP

In der Ukraine sind die Sozialausgaben eine Schlüsselgröße für die Staatsfinanzen – wie in fast jedem vormals sozialistischem und/oder mitteleuropäischem Land. Die Sozialausgaben beliefen sich in den letzten Jahren regelmäßig auf 40–50 % der gesamten Staatausgaben in der Ukraine. Da auch die Staatsausgaben insgesamt in Relation zur Wirtschaftskraft auf sehr hohem Niveau liegen – etwa bei 45 % des BIP – belaufen sich die Sozialausgaben in der Ukraine im langjährigen Schnitt auf etwas mehr als 20 % des BIP, wobei in den letzten Jahren der Trend ansteigend war.

Dieser Trend ist auf zwei Faktoren zurückzuführen: einerseits auf eine populistische Wirtschaftspolitik in den Jahren 2011 bis 2013 – mit deutlichen Steigerungen der nominalen Sozialausgaben über dem nominalen BIP-Wachstum – und andererseits auf die anschließende einschneidende Krise des Jahres 2014 mit einem erheblichen BIP-Rückgang.

Gesamtwirtschaftlich betrachtet bedeuten Sozialausgaben von über 20 % des BIP einen eher hohen Wert für ein Land mit dem wirtschaftlichen Entwicklungsstand der Ukraine. Dabei ist zu beachten, dass der Zusammenhang zwischen Wohlstandsniveau und Anteil der Sozialausgabe am BIP bzw. der sog. Sozialleistungsquote klar belegt ist. So ist in Deutschland die Sozialleistungsquote bei steigendem Wohlstand von circa 18–19 % des BIP in den 1960er und 1970er Jahren bis auf 25–27 % in den 2010er Jahren gestiegen. Ausgehend von dieser Logik wäre zu erwarten, dass die Sozialausgaben in der Ukraine etwa bei 12–17 % des BIP liegen sollten. In Russland, das vergleichbare und teils nicht reformierte Erblasten im Sozialsystem hat wie die Ukraine, liegt die Sozialleistungsquote nur bei 12–15 % des BIP. In anderen aufstrebenden Ländern – ohne sozialistische Vorgeschichte – liegen die Sozialausgaben in Relation zum BIP oftmals sogar im einstelligen Prozentbereich.

Tendenziell gilt zudem, dass vor allem Staaten wie die Ukraine mit hohen (Re-)Finanzierungskosten auf eine eher niedrige Sozialleistungsquote abzielen sollten. Denn mit hohen Sozialleistungsquoten gehen auch implizite langfristige finanzielle Verpflichtungen einher und traditionell haben Länder mit höheren Zinszahlungen (und daher höheren Zinsänderungsrisiken) höhere implizite Risiken in ihren Sozialleistungssystemen.

Außerdem ist zu beachten, dass in der Ukraine weitere offizielle staatliche Ausgabeposten, wie etwa allgemeine Subventionen an den Unternehmenssektor und vor allem auch die Defizite des Energieversorgers Naftohaz, mittelbare oder unmittelbare sozialpolitische Effekte haben (zusätzliche sozialpolitische Effekte noch indirekterer Natur über weitere Staatsunternehmen werden hier nicht berücksichtigt). Wenn man diese beiden Größen zu den offiziell ausgewiesenen Sozialausgaben dazurechnet, dann liegen die Sozialausgaben in der Ukraine effektiv bei fast 30 % der Wirtschaftsleistung – was in etwa der relativen Bedeutung der Sozialausgaben in kontinental- oder nordeuropäischen Ländern mit besonders hohen Sozialleistungsquoten (wie etwa Belgien, Dänemark, Finnland oder Frankreich) entspricht.

Volkswirtschaftliche Folgen immens

Das hohe Niveau der Sozialausgaben in der Ukraine ist insofern ein gesamtwirtschaftliches Problem, da Staatsausgaben selbstredend einer Finanzierung bedürfen. Letztere kann durch Staatseinnahmen oder die Aufnahmen von Schulden erfolgen. Angesichts der hohen allgemeinen Staatsausgaben liegen auch die Staatseinnahmen in der Ukraine bei deutlich über 40 % des BIP. Damit absorbiert der Staat viel an potenziell vorhandenen Mitteln zur Ersparnisbildung. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass es in der Ukraine ein chronisches Problem der Ersparnisbildung gibt und der Staat sowie das Land insgesamt fortwährend auf externe Finanzierung angewiesen sind.

Zumal im Sinne der langfristigen makroökonomischen Stabilität zu betonen ist, dass auf die Ukraine – wie auf viele andere west- und mittelosteuropäische Länder – durch die rapide Alterung der Gesellschaft zukünftig noch erhebliche zusätzliche finanzielle Lasten im Sozialbereich zukommen, aber das Land die Staatseinnahmen angesichts bereits hoher Ausgaben- und Einnahmenniveaus kaum noch hochfahren kann und Schuldenfinanzierung auf absehbare Zeit teuer bzw. kaum möglich sein wird.

In Bezug auf die Struktur der Sozialausgaben in der Ukraine ist zudem zu beachten, dass diese in besonderer Weise von den Rentenzahlungen beeinflusst werden. Die Ukraine hatte schon zu Ende der Sowjetunion jährliche Rentenverpflichtungen von 18 % des BIP. Die Rentenzahlungen betragen im Schnitt der letzten Jahre etwa 15–17 % des BIP bzw. 55–70 % der Sozialausgaben. In vergleichbaren Ländern liegt dagegen der Anteil der Rentenzahlungen eher bei 30 % bis maximal 50 % der Sozialausgaben.

Eine nachhaltige Rückführung der Staats- und Sozialausgaben in der Ukraine muss daher vor allem am beträchtlichen Posten der Rentenzahlungen, und hier v. a. der Sonderrenten für einzelne bzw. spezielle Berufsgruppen, ansetzten. Letzteres ist keine neue Erkenntnis und fast alle ukrainischen Regierungen haben in den letzten Jahren angekündigt die Staats- und Sozialausgaben (und damit implizit auch die Steuerlast) mittelfristig zurückzufahren. Allerdings gab es bis dato nicht den politischen Willen bzw. nicht die politische Legitimität, um diese Ausgaben und v. a. das Rentensystem nachhaltig zu reformieren.

Bisherige Reformen bei den Renten und Sozialausgaben haben eindeutig keine nachhaltige Rückführung der Rentenzahlungen und Sozialleistungen in Relation zur Wirtschaftskraft erreicht. Bisherige Sparmaßnahmen – mit einem vorübergehenden Absinken der Staatsschuldenquote und einem leichten Rückgang der Sozialleistungsquote – wurden v. a. in Zeiten eines extrem hohen und nicht nachhaltigen Wachstums der Wirtschaft erreicht. Wobei selbst in solchen Phasen, wie etwa in den Jahren von 2003–2007, gesamtwirtschaftlich gesehen die Fiskalpolitik allgemein und v. a. auch die Entwicklung der Sozialausgaben noch zu prozyklisch waren. So sind die nominalen Sozialausgaben in den Jahren 2003–2007 fast doppelt so stark gestiegen wie das nominale BIP.

Moderate Kürzung bewirkt soziale Härten

Die derzeitigen Sanierungsplanungen des IWF für die Ukraine sehen gesamtwirtschaftlich betrachtet nur moderate Kürzungen im Sozialbereich vor. Gemäß den Planungen im laufenden IWF-Abkommen sollen die Sozialausgaben bis Ende 2016 auf etwa 21 % des BIP gesenkt werden – von etwa 24 % des BIP in der Spitze in 2013/2014. Die beabsichtigte eher moderate Rückführung der Sozialausgaben macht kurzfristig Sinn. Denn normalerweise steigen die Sozialausgaben in wirtschaftlichen Schwächephasen an. Zudem sollen die geplanten Kürzungen vor allem im Bereich der Renten erfolgen, die allgemeinen Sozialausgaben sollen hingegen konstant bleiben. Eine Schwankung der Sozialleistungsquote um etwa 2 Prozentpunkte bedeutet so nicht unbedingt tiefe strukturelle Sanierung.

Die auf dem Papier moderate Kürzung der Sozialausgaben in einer abstrakten Größe gerechnet – wie der Relation zum BIP – verleitet allerdings dazu, die damit verbundenen Probleme zu unterschätzen. Denn nach einer Stagnation bzw. einer leichten nominalen Kürzung der Sozialausgaben in 2014 – bei einer Inflationsrate von etwa 25 %, was eine erhebliche reale Kürzungen impliziert – sollen die Sozialausgaben voraussichtlich noch zwei weitere Jahre deutlich hinter der hohen Inflation zurückbleiben und damit real gesehen weiter fallen. Zudem ist zu beachten, dass die Sozialausgaben eingerechnet das Naftohaz-Defizit von knapp 29–30 % des BIP bis 2016 auf 24–25 % des BIP absinken sollen, was ebenfalls erhebliche sozialpolitische Implikationen haben wird. Dies gerade auch für die Bezieher von Renten.

Die geplanten moderaten Kürzungen der Sozialleistungen in den Jahren 2015 und 2016 bedeuten trotz ihrer schweren Folgen aber gleichzeitig auch einen weiterhin hohen langfristigen Kostendruck im Sozialbereich. Eine nachhaltige Konsolidierung lässt sich nur im Rahmen einer effektiven mittelfristigen Budget- und Finanzplanung realisieren, die mittelfristige Konjunktureffekte auch entgegen kurzfristiger politischer Versuchungen, hinreichend berücksichtig.

In der Vergangenheit hat die Fiskalpolitik in der Ukraine oftmals viel zu prozyklisch agiert, fiskalische Ziele wurden kurzfristig, mehrmals jährlich revidiert und gerade die Sozialausgaben sind hier oftmals deutlich stärker angestiegen als es durch Inflations- und Produktivitätsentwicklungen gerechtfertigt gewesen wäre. Letzteres hat angesichts der gesamtwirtschaftlichen Bedeutung der Sozialausgaben in der Ukraine eindeutig zur aktuellen prekären makrofinanziellen Situation beigetragen.

Politische Implikationen

Eine langfristig angelegte Rückführung der Sozialleistungsquote in der Ukraine erscheint angesichts ihres aktuell relativ hohen Niveaus erforderlich. Dabei darf nicht vergessen werden, dass eine sehr hohe Sozialleistungsquote gerade auch in einem institutionellen Umfeld wie der Ukraine eine immense politische Verantwortung mit sich bringt. Mit finanziellen Mitteln bzw. Umschichtungen im Wert von ca. 20–30 % des BIP besteht, trotz gegebenenfalls hehrer politischer Absichten, erheblicher Spielraum für Vetternwirtschaft und Missbrauch. Und da die durchgreifenden institutionellen Reformen in der Ukraine zur Verbesserung der Governance im öffentlichen Sektor sicher ein sehr langatmiger Prozess sein werden, impliziert eine Reduktion der staatlichen Umverteilung daher Missbrauchspotenzial.

Eine deutliche Rückführung der Sozialausgaben bzw. Sozialleistungsquote ist politisch gesehen allerdings immer ein schwieriges Unterfangen und Reformblockaden in Staaten mit hohen Sozialleistungsquoten spiegeln immer auch politische Blockaden bzw. den Einfluss wichtiger Vetogruppen (wie etwa der Rentner) wieder.

Allerdings besteht in den kommenden Jahren in der Ukraine die Chance zur Reformierung ohne zu große Legitimitätsdefizite. Denn in gewisser Weise bildet die hohe Sozialleistungsquote eben die Verfehlungen der bisher eher missglückten wirtschaftlichen und politischen Transformation ab.

Dabei ist es aber wichtig auf Ausgewogenheit bei der Rückführung der Sozialleistungen zu achten. Insbesondere da es derzeit einige sehr radikale bzw. marktliberale Kräfte in der neuen Regierung gibt, die teils einen stark ausgeprägten angelsächsischen Hintergrund haben und durchaus die Staatsausgaben kurzfristig auf 35 % des BIP reduzieren wollen. Solch eine »Schocktherapie« würde massivste Kürzungen im Bereich der Sozialausgaben und der Beschäftigung im öffentlichen Sektor implizieren.

Mit solch einer Strategie würden die anstehenden durchgreifenden politischen, wirtschaftlichen und institutionellen Reformen in der Ukraine, auch angesichts der tiefen sozioökonomischen und politischen Spaltung innerhalb der Gesellschaft, allerdings in den kommenden Jahren eher heftigen Gegenwind in Form einer Systemnostalgie bekommen.

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