Der Jahresbericht von Amnesty International 2014/15. Länderbericht Ukraine

Die Gewalt nach den Protesten in der Hauptstadt Kiew und später in der Ostukraine eskalierte zu einem bewaffneten Konflikt unter russischer Beteiligung. Nach wie vor kam es zu Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei, darunter Folter und andere Misshandlungen, sowie zur exzessiven Anwendung von Gewalt bei Demonstrationen. Die dafür Verantwortlichen blieben größtenteils straflos, und Untersuchungen dieser Vorfälle führten zu keinem Ergebnis. Es gab Entführungen von Einzelpersonen, insbesondere durch pro-russische paramilitärische Kräfte auf der russisch besetzten Halbinsel Krim. Aber auch in den umkämpften Gebieten der Ostukraine kam es zu Entführungen durch beide Konfliktparteien. Beide Seiten waren für Verletzungen des Kriegsrechts verantwortlich. Auf der Krim wurden die russischen Beschränkungen der Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeführt. Pro-ukrainische Aktivisten und Krimtataren gerieten ins Visier paramilitärischer Kräfte und wurden von den De-facto-Behörden verfolgt.

Hintergrund

Nachdem sich die ukrainische Regierung Ende 2013 gegen ein Assoziierungsabkommen mit der EU entschieden hatte, kam es in Kiew zu pro-europäischen Demonstrationen (»Euromaidan«), die am 22. Februar 2014 schließlich zum Sturz von Präsident Wiktor Janukowytsch führten. Die gewaltsame Auflösung einer zunächst friedlichen Demonstration in der Nacht vom 29. auf den 30. November 2013 durch die Polizei führte zu einer zunehmenden Radikalisierung der Demonstrierenden. Protestierende errichteten Zelte auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz Maidan und besetzten mehrere Gebäude. Obwohl die meisten Protestierenden friedlich blieben, eskalierte die Gewalt auf beiden Seiten. Mindestens 85 Demonstrierende und 18 Polizeibeamte starben infolge der Gewalt auf dem Maidan, Hunderte Menschen wurden verletzt.

Nachdem Wiktor Janukowytsch die Ukraine heimlich verlassen hatte und eine Übergangsregierung gebildet worden war, brachen in der vorwiegend russischsprachigen Donbass-Region in der Ostukraine zunehmend gewaltsame Proteste aus. Auf der Krim besetzten bewaffnete paramilitärische Kräfte, die sich als »Selbstverteidigungskräfte« bezeichneten, in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar 2014 Verwaltungsgebäude und blockierten gemeinsam mit Angehörigen der regulären russischen Armee Einrichtungen des ukrainischen Militärs auf der gesamten Halbinsel. Am 27. Februar wählte das Parlament der Krim unter Anwesenheit bewaffneter Männer eine neue Führung. Am 16. März wurde ein »Referendum« zum Status der Krim abgehalten. Die Teilnehmer stimmten mit überwältigender Mehrheit für eine Eingliederung in die Russische Föderation, während Gegner die Abstimmung boykottierten. Am 18. März unterzeichnete die De-facto-Führung der Krim in Moskau ein »Abkommen«, das zur Annexion der Halbinsel durch Russland führte.

Bewaffnete Gegner der neuen Regierung in Kiew besetzten bis April 2014 in den ostukrainischen Städten Donezk und Lugansk sowie in einigen kleineren Orten Verwaltungsgebäude, darunter auch Polizei- und Geheimdienstzentralen, und brachten so weite Teile des Donbass faktisch unter ihre Kontrolle. Am 15. April 2014 kündigte die ukrainische Regierung eine »Antiterroroperation« gegen die Separatisten an. Die Situation eskalierte innerhalb kurzer Zeit zu einem bewaffneten Konflikt zwischen Regierungstruppen und bewaffneten Separatistengruppen, die von Russland unterstützt wurden. Die Regierungskräfte erzielten stetige Fortschritte, bis Russland Ende August sein verdecktes Engagement in der Ukraine verstärkte. Bei Verhandlungen in Belarus einigten sich die Konfliktparteien im September auf einen Waffenstillstand. Die Kämpfe gingen jedoch weiter, wenn auch in geringerem Maße. Ende 2014 hatte der Konflikt mehr als 4000 Menschen das Leben gekostet. Nachdem die De-facto-Führung in Donezk und Lugansk am 2. November 2014 »Wahlen« abhielt, zog die Regierung in Kiew ihr Angebot zurück, der Region mehr Autonomie zu gewähren.

Aus den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 25. Mai 2014 und den Parlamentswahlen am 26. Oktober gingen pro-europäische Politiker und Parteien als stärkste Kraft hervor. Am 16. September ratifizierten das Europaparlament und das ukrainische Parlament ein Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU. Ende 2014 stand die Zustimmung einiger EU-Mitgliedstaaten jedoch noch aus.

Straflosigkeit

Polizeikräfte, die für exzessiven Gewalteinsatz sowie für Folter und andere Misshandlungen verantwortlich waren, genossen Straffreiheit. Dieses grundsätzliche Problem wurde im Zusammenhang mit den Demonstrationen auf dem Maidan von November 2013 bis Februar 2014 besonders deutlich. Am 30. November 2013 ging die Bereitschaftspolizei erstmals gewaltsam gegen vollkommen friedliche Demonstrierende vor, als diese sich weigerten, ihre Kundgebung aufzulösen. Dabei wurden Dutzende Menschen verletzt und 35 friedliche Demonstrierende wegen »Rowdytums« kurzzeitig inhaftiert. Nach harscher Kritik am Vorgehen der Polizei wurde ein leitender Polizeibeamter in Kiew entlassen. Berichten zufolge leiteten die Behörden gegen ihn und vier weitere Polizisten Strafverfahren ein, die jedoch zu keinem Ergebnis führten. In den folgenden Wochen und Monaten ging die Polizei wiederholt mit unangemessener Gewalt gegen die Maidan-Proteste vor, nahm Personen willkürlich fest und versuchte, Strafverfahren gegen Demonstrierende einzuleiten. Ende Februar wurde mit scharfer Munition geschossen, u. a. von Scharfschützen, es blieb jedoch unklar, wer sie eingesetzt hatte und unter wessen Befehl sie standen. Im November 2014 gab der Leiter des ukrainischen Sicherheitsdienstes (SBU) bekannt, dass 16 ehemalige Angehörige der Bereitschaftspolizei und fünf leitende SBU-Beamte im Zusammenhang mit der Tötung von Protestierenden in Kiew festgenommen worden seien.

Nach dem Sturz von Wiktor Janukowytsch versprach die neue Regierung öffentlich, man werde diejenigen strafrechtlich verfolgen, die für Tötungen und Misshandlungen von Protestierenden auf dem Maidan verantwortlich seien. Doch abgesehen von Anklagen gegen die ehemalige politische Führungsriege wurden so gut wie keine konkreten Schritte unternommen.

Nur zwei Angehörige der Sicherheitskräfte mussten sich vor Gericht für Folter und andere Misshandlungen im Zusammenhang mit den Maidan-Protesten verantworten. Es handelte sich dabei um Rekruten niedrigen Ranges aus einer dem Innenministerium unterstellten Einheit. Sie wurden am 28. Mai 2014 wegen »Überschreitung von Befugnissen oder Vollmachten« (Artikel 365 des Strafgesetzbuchs) zu Bewährungsstrafen von drei bzw. zwei Jahren verurteilt. Gegenstand des Verfahrens war die Misshandlung des Demonstranten Mykhaylo Havryliuk am 22. Januar 2014. Auf einem Video ist zu sehen, dass er bei Minusgraden gezwungen wurde, nackt vor Dutzenden von Sicherheitskräften des Innenministeriums und Angehörigen der Bereitschaftspolizei zu stehen. Viele von ihnen waren aktiv an seiner Demütigung beteiligt, indem sie ihn nötigten, für Fotos zu posieren, bevor er in einen Polizeitransporter gestoßen wurde.

In 20 Fällen exzessiver Polizeigewalt im Zusammenhang mit den Maidan-Protesten, denen Amnesty International nachging, äußerten die Opfer ihre Enttäuschung darüber, dass man ihre Vorwürfe nur schleppend oder überhaupt nicht untersuchte. Außerdem unternahmen die Behörden nicht genug, um die Schuldigen zu identifizieren, und die Staatsanwaltschaft setzte sich nicht mit den Opfern in Verbindung.

Der Europarat rief im April 2014 ein Internationales Beratergremium für die Ukraine ins Leben, um die Untersuchungen zu den Ereignissen auf dem Maidan zu kontrollieren. Ende 2014 lag noch kein abschließender Bericht des Gremiums vor.

Entführungen, Verschwindenlassen und Tötungen

Während der Proteste in Kiew von Ende 2013 bis Anfang 2014 »verschwanden« mehrere Dutzend Maidan-Aktivisten. Das Schicksal von mehr als 20 Personen war Ende 2014 immer noch nicht bekannt. Doch gab es Hinweise darauf, dass einige von ihnen entführt und misshandelt worden waren. Im Dezember 2014 gab das Büro des Generalstaatsanwalts bekannt, elf Männer, die der Entführung von Aktivisten verdächtigt wurden, seien festgenommen und einige weitere zur Fahndung ausgeschrieben worden. Keiner von ihnen gehörte den Sicherheitskräften an, auch wenn sie mutmaßlich auf Befehl leitender Polizeibeamter gehandelt hatten.

Am 21. Januar 2014 verschwanden Yury Verbytsky und Igor Lutsenko aus einem Krankenhaus. Igor Lutsenko berichtete später, die Entführer hätten ihm die Augen verbunden, ihn geschlagen und ihn bei eisiger Kälte in einem Wald ausgesetzt. Yury Verbytsky wurde tot im Wald aufgefunden. Seine Rippen waren gebrochen und an seinem Kopf fanden sich Reste von Klebeband.

Auf der russisch besetzten Krim und in den von Separatisten kontrollierten Gebieten der Ostukraine waren Entführungen und Misshandlungen von Gefangenen an der Tagesordnung und betrafen Hunderte von Menschen. Besonders gefährdet waren Vertreter lokaler Behörden, pro-ukrainische politische Aktivisten, Journalisten und internationale Beobachter. Am 23. April 2014 räumte der selbst ernannte »Volksbürgermeister« von Slawjansk, Wjatscheslaw Ponomarjow, bei einer Pressekonferenz ein, die Separatisten hätten mehrere Personen als »Verhandlungsmasse« in ihrer Gewalt. Später tauschten die Separatisten und die ukrainischen Behörden einige Hundert Gefangene aus. Andere Personen wurden wegen privater Lösegeldforderungen festgehalten. Der 19-jährige Pro-Kiew-Aktivist Sascha wurde am 12. Juni 2014 in Lugansk von einer bewaffneten Gruppe entführt. Er wurde 24 Stunden lang geschlagen und mit Elektroschocks gefoltert, bevor er freigelassen wurde. Berichten zufolge soll sein Vater ein Lösegeld in Höhe von 60.000 US-Dollar gezahlt haben.

Auch Angehörigen Kiew nahestehender Kräfte, vor allem sogenannter Freiwilligenbataillone, die Seite an Seite mit regulären ukrainischen Truppen im Donbass kämpften, wurden wiederholt Entführungen vorgeworfen. Zwischen Juni und August 2014 wurden in der Region Lugansk mehrere Menschenrechtsverstöße durch das Bataillon Aidar dokumentiert. Dazu zählten Entführungen einheimischer Männer, denen Kollaboration mit den Separatisten vorgeworfen wurde und die in provisorischen Hafteinrichtungen festgehalten wurden, bevor man sie freiließ oder den Sicherheitskräften übergab. In fast allen Fällen wurden die Gefangenen geschlagen. Die Angehörigen des Bataillons beschlagnahmten den Besitz der Gefangenen, darunter Autos und Wertgegenstände, und verlangten Lösegeld für die Freilassung.

Der Parlamentsabgeordnete Oleh Ljaschko veröffentlichte mehrere Videos im Internet, die ihn als Anführer einer Gruppe bewaffneter Männer mit Sturmhauben zeigen. Zu sehen ist, wie Personen, denen Kollaboration mit den Separatisten vorgeworfen wurde, festgenommen, verhört und misshandelt werden. Seine Aktionen zogen keine strafrechtlichen Konsequenzen nach sich. Bei den Wahlen im Oktober 2014 wurde Oleh Ljaschko erneut ins Parlament gewählt, seine Partei trat der Regierungskoalition bei.

Es gab Hinweise darauf, dass beide Konfliktparteien summarische Tötungen verübten. Mehrere Befehlshaber der Separatisten prahlten mit der Tötung von Gefangenen wegen angeblicher Verbrechen, und die De-facto-Führung der Separatisten führte die »Todesstrafe« in ihr »Strafgesetzbuch« ein.

Gewaltsame Zusammenstöße

Vor dem Hintergrund wachsender Spannungen im ganzen Land kam es in mehreren Städten zu Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern der Regierung, die auf Wiktor Janukowytsch folgte. Die Polizei versäumte es häufig, einzugreifen und gewaltsame Ausschreitungen zu verhindern.

Am 2. Mai 2014 wurden in Odessa 48 Gegner der Maidan-Proteste getötet und mehr als 200 verletzt. Sie befanden sich in einem brennenden Gebäude, das von Anhängern der Maidan-Proteste im Zuge gewaltsamer Auseinandersetzungen belagert wurde. Die Polizei ergriff keine wirksamen Maßnahmen, um die Gewalt zu verhindern oder einzudämmen. Es wurden mehrere strafrechtliche Verfahren bezüglich des Vorfalls eingeleitet. Im November 2014 begann der Prozess in einem Fall, der mit den Ereignissen in Zusammenhang stand. Angeklagt waren 21 pro-russische Aktivisten, denen Massenkrawalle sowie unerlaubter Einsatz von Schusswaffen und Sprengstoff vorgeworfen wurden. Die offiziellen Untersuchungen waren von Geheimhaltung geprägt, was Befürchtungen aufkommen ließ, sie könnten uneffektiv und parteiisch sein.

Bewaffneter Konflikt

Bis Ende 2014 waren im Zuge des Konflikts in der Ostukraine mehr als 4000 Menschen getötet worden. Zahlreiche Zivilpersonen starben durch wahllosen Beschuss von Wohngebieten, insbesondere durch den Einsatz von ungelenkten Raketen und Mörsergranaten.

Beide Seiten verstießen gegen das Kriegsrecht, weil sie keine angemessenen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ergriffen; beide installierten Truppen, Waffenlager und andere militärische Ziele in Wohngebieten. Bei zahlreichen Gelegenheiten nutzten Separatisten bewohnte Gebiete und Wohnhäuser für Gefechtsstände, und Kiew nahestehende Kräfte erwiderten das Feuer und zielten auf diese Stellungen. Es gab keine Anhaltspunkte dafür, dass die Konfliktparteien mutmaßliche Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und mögliche Kriegsverbrechen, die ihre eigene Seite verübte, gründlich untersuchten.

Am 17. Juli 2014 meldeten die Separatisten die Zerstörung eines ukrainischen Militärflugzeugs. Als sich herausstellte, dass ein ziviles Passagierflugzeug der Malaysia Airlines abgeschossen worden war und dabei fast 300 Personen ums Leben gekommen waren, wurde die Meldung zurückgezogen, und beide Seiten machten sich gegenseitig für den Abschuss verantwortlich. Eine internationale Untersuchung des Vorfalls war Ende 2014 noch nicht abgeschlossen.

Vertriebene

Rund 20000 Menschen, die wegen der russischen Besetzung der Krim geflohen waren, erhielten staatliche Hilfen zur Umsiedlung in andere Regionen. Durch den Konflikt in der Ostukraine wurden Schätzungen zufolge fast eine Million Menschen vertrieben. Etwa die Hälfte von ihnen blieb im Land, die übrigen gingen überwiegend nach Russland. Die Binnenvertriebenen in der Ukraine erhielten zumeist eine begrenzte staatliche Unterstützung und waren ansonsten auf eigene Mittel, familiäre Netzwerke und die Hilfe von Freiwilligenorganisationen angewiesen. Im Oktober 2014 wurde ein Gesetz zu Binnenvertriebenen verabschiedet, das ihre Lage jedoch bis zum Jahresende noch nicht merklich verbessert hatte.

Krim

Nach der Annexion der Krim im März 2014 fanden dort russische Gesetze Anwendung, die das Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit unterdrückten. Zivilgesellschaftliche Organisationen mussten ihre Arbeit einstellen, weil sie die rechtlichen Anforderungen Russlands nicht erfüllten. Die einheimische Bevölkerung wurde zu russischen Staatsbürgern erklärt. Wer die ukrainische Staatsbürgerschaft behalten wollte, musste die Behörden darüber informieren.

Die selbsternannten paramilitärischen »Selbstverteidigungskräfte« begingen zahlreiche schwerwiegende Menschenrechtsverstöße wie Verschwindenlassen, ohne dafür strafrechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen. Der De-facto-Ministerpräsident der Krim, Sergei Aksjonow, erklärte, die paramilitärischen Kräfte hätten zwar keinen offiziellen Status und keine entsprechenden Befugnisse, seine Regierung sei jedoch auf sie angewiesen und würde deshalb über ihre Verstöße »gelegentlich hinwegsehen«.

Es gab zahlreiche Berichte über Entführungen pro-ukrainischer Aktivisten auf der Krim.

Am 9. März 2014 wurden die Maidan-Aktivistinnen Oleksandra Ryazantseva und Kateryna Butko entführt, nachdem sie an einem Kontrollpunkt angehalten worden waren, der Berichten zufolge mit Bereitschaftspolizisten und »Selbstverteidigungskräften« besetzt war, die Schusswaffen und Messer trugen. Sie wurden am 12. März freigelassen.

Am 9. Mai 2014 wurde der bekannte pro-ukrainische Aktivist und Filmregisseur Oleg Sentsov auf der Krim von russischen Sicherheitskräften heimlich festgenommen und gemeinsam mit weiteren Personen rechtswidrig nach Moskau gebracht. Die strafrechtlichen Maßnahmen gegen ihn, die auf haltlosen Terrorismusvorwürfen basierten, fanden im Geheimen statt. Die von ihm vorgebrachten Foltervorwürfe wurden von den Behörden zurückgewiesen.

Die Krimtataren wurden von den De-facto-Behörden besonders ins Visier genommen, wenn sie öffentlich pro-ukrainische Ansichten äußerten. Die ursprünglich auf der Krim beheimatete ethnische Gruppe war 1944 in entlegene Gebiete der Sowjetunion deportiert worden und durfte erst Ende der 1980er Jahre zurückkehren. Von März 2014 an gab es mehrfach Berichte, dass Krimtataren entführt oder verprügelt worden seien. Die Fälle wurden von den De-facto-Behörden jedoch nicht untersucht.

Am 3. März 2014 wurde der Krimtatar Reshat Ametov von drei Männern der »Selbstverteidigungskräfte« abgeführt, als er allein vor dem Gebäude des Ministerrats der Krim in der Regionalhauptstadt Simferopol protestiert hatte. Fast zwei Wochen später wurde seine Leiche gefunden, die Folterspuren aufwies. Seine Entführer wurden nicht ausfindig gemacht.

Die De-facto-Behörden starteten eine Kampagne zur Abschaffung der von der Volksversammlung der Tataren (Kurultai) gewählten Vertretung, des Medschlis, der von den ukrainischen Behörden als repräsentatives Organ der Tataren anerkannt wird.

Mustafa Dzhemiliev, ein langjähriger Menschenrechtsverteidiger und Gründer des Medschlis, wurde mit einem Einreiseverbot für die Krim belegt. Ihm wurde wiederholt die Einreise verweigert, u. a. am 3. Mai 2014, als er über einen Kontrollpunkt bei Armjansk einzureisen versuchte. Hunderte von Krimtataren kamen, um ihn zu sehen. Die De-facto-Behörden erklärten, es handele sich um eine rechtswidrige Versammlung, Dutzende Teilnehmer wurden mit einer Geldbuße belegt. Anschließend wurden die Häuser mehrerer Sprecher der Krimtataren durchsucht. Mindestens vier Krimtataren wurden festgenommen, wegen »Extremismus« angeklagt und zu Ermittlungszwecken nach Russland gebracht.

Am 5. Juli 2014 wurde auch Refat Chubarov, der Nachfolger von Mustafa Dzhemiliev als Vorsitzender des Medschlis, die Rückkehr auf die Krim für fünf Jahre verboten. Der neu ernannte De-facto-Staatsanwalt der Krim reiste zum Grenzübergang und wies ihn darauf hin, dass die Aktivitäten des Medschlis nach dem russischen Gesetz gegen Extremismus nicht erlaubt seien. Am 19. September 2014 konfiszierten die russischen Behörden das Büro des Medschlis mit der Begründung, sein Gründer Mustafa Dzhemiliev sei ein ausländischer Staatsbürger, dem die Einreise nach Russland untersagt worden sei.

Am 16. Mai 2014, nur zwei Tage vor den geplanten Veranstaltungen zum 70. Jahrestag der Deportation der Krimtataren 1944, gab der De-facto-Ministerpräsident der Krim bekannt, dass alle Massenversammlungen auf der Krim bis zum 6. Juni untersagt seien, um »mögliche Provokationen durch Extremisten« sowie eine »Störung der Sommerferiensaison« zu verhindern. Am Jahrestag der Deportation war lediglich eine Gedenkveranstaltung der Krimtataren am Rande von Simferopol erlaubt, die von einem starken Polizeiaufgebot begleitet wurde.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen

Eine für den 5. Juli 2014 geplante Pride Parade von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen in Kiew wurde abgesagt, nachdem die Polizei dem Organisationskomitee mitgeteilt hatte, die Sicherheit der Teilnehmer könne angesichts der zu erwartenden Gegendemonstrationen nicht gewährleistet werden. Der neu gewählte Bürgermeister von Kiew, Witali Klitschko, erklärte am 27. Juni, solche »Unterhaltungsveranstaltungen« seien zu diesem Zeitpunkt in der Ukraine fehl am Platz.

Quelle: <https://www.amnesty.de/jahresbericht/2015/ukraine>

Zum Weiterlesen

Analyse

Gefangen in der Pufferzone: Migration, Flüchtlinge und die Auswirkungen der EU-Außenpolitik

Von Raphi K. Rechitsky
Die Reaktionen der Medien und Regierungen auf die arabischen Revolutionen in Nordafrika und im Nahen Osten haben moralische Panik angesichts des gewaltigen Ausmaßes der neuen Migrationswellen ausgelöst. Allerdings ist wenig über die Politik und die Bedingungen bekannt, die die Flüchtlinge dazu zwingen, von den Rändern der EU in die östlichen Mitgliedsländer zu immigrieren. Ein Blick auf die EU-Außenpolitik und die Unterstützung für die EU-Nachbarn zeigt deutlich, dass eine Transformation hin zu einer Politik, die auf Menschenrechten und Freizügigkeit basiert, notwendig ist. Da die Flüchtlinge gesetzlich und sozial im Bereich Wohnen und Arbeit ausgegrenzt und oft Opfer von rassistischer Gewalt werden, bleiben viele hilflos in der Ukraine zurück und haben weder die Möglichkeit sich dort zu integrieren noch die Chance in die sichereren westlichen Länder weiterzureisen.
Zum Artikel
Analyse

Kommunikation als Mittel der Reintegration der Bevölkerung im Donbass

Von Yelizaveta Rekhtman
Während in der Ukraine die Zweckmäßigkeit der Minsker Vereinbarungen weiterhin in Frage gestellt wird und die politische Zukunft der nicht unter Kontrolle der Ukraine stehenden Gebiete der Oblaste Donezk und Luhansk offen bleibt, zeigen einschlägige Untersuchungen in diesen Regionen, dass die Intensität der Beziehungen zwischen der Ukraine und den Einwohnern dieser Gebiete weiter nachlässt. Zur Reintegration der nicht unter Kontrolle der Ukraine stehenden Gebiete könnte eine Kommunikationsstrategie des Meinungs- und Informationsaustauschs beitragen. Sie müsste dabei Bestandteil der ukrainischen Staatspolitik sein oder als eine eigenständige staatliche Kommunikationspolitik in Bezug auf die genannten Regionen ausgearbeitet werden.
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS