Die Geschichtspolitik in der Ukraine seit dem Machtwechsel im Frühjahr 2014

Von Dmytro Myeshkov (Freiburg-Düsseldorf)

Zusammenfassung
Schon wenige Monate nach dem Amtsantritt Wiktor Janukowytschs vor fünf Jahren stellten Beobachter eine klare Abwendung von der Geschichtspolitik des früheren ukrainischen Präsidenten Juschtschenko (2005– 2010) fest. Ein Jahr nach dem Machtwechsel in Kiew im Februar 2014 zeichnet sich im Umgang mit der Vergangenheit in der Ukraine nun eine abermalige Kursänderung ab. Im folgenden Beitrag werden die neuesten Tendenzen in der ukrainischen Geschichtspolitik analysiert, die durch neue Gesetze, institutionelle Veränderungen sowie durch die Einführung neuer staatlicher Feier- und Gedenktage zum Ausdruck kommen.

Einleitung

Wie in den meisten Republiken der ehemaligen Sowjetunion wird auch in der Ukraine die Geschichtspolitik seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 vor allem als widersprüchlich charakterisiert. Eine tiefe Krise der Gesellschaftswissenschaften sowie das Fehlen entsprechender Institutionen hatten eine zunehmende staatliche Dominanz über Erinnerungskulturen zur Folge, die insbesondere in den 2000er Jahren zu mehreren geschichtspolitischen Kursänderungen führte – so z. B. nach der »Orangen« Revolution 2004/05 oder nach dem Amtsantritt Wiktor Janukowytschs 2010. Vergangenheitsbezogene Schlüsselthemen wurden in dieser Zeit von politischen Gruppierungen rücksichtslos für eigene Zwecke instrumentalisiert, was nicht nur ihre sachliche Aufarbeitung, sondern auch Prozesse gesellschaftlicher Konsensfindung sehr erschwerte.

Die Ereignisse des letzten Jahres in der Ukraine veränderten zwar die Stellung nichtstaatlicher Organisationen in vergangenheitsbezogenen Diskussionen grundlegend, der Staat bleibt aber weiterhin der Hauptakteur auf diesem Gebiet, zumal sich seine Geschichtspolitik in letzter Zeit mehrheitlich auf Zustimmung stützen kann.

Ein probates Mittel zur Stärkung von Identitäten und zur Vermittlung von Geschichtsbildern bleiben die Staatsfeste. In Form eines offizielle staatliche Feiertage, Jubiläen und Gedenktage umfassenden Festkalenders werden sie vom Präsidenten bzw. der Legislative bestimmt und von den staatlichen Behörden geplant und durchgeführt. Als Teil der Festkultur bieten die wenigen wichtigen staatlichen Feiertage, die einen Festkanon konstituieren, nur begrenzte Möglichkeiten für Veränderungen oder Umdeutungen und demonstrieren daher im gesamten postsowjetischen Raum eine gewisse Beständigkeit.

Deswegen wird der Festkanon vom ukrainischen Parlament (Werchowna Rada) zu Jahresbeginn regelmäßig durch eine Liste von Jubiläen und Gedenktagen ergänzt, die auf nationaler Ebene gefeiert bzw. begangen werden sollen. Auch für das laufende Jahr hat die Werchowna Rada mit dem Beschluss vom 11. Februar 2015 eine solche ergänzende Liste von Gedenktagen verabschiedet, die etwa 60 Ereignisse – Festdaten sowie Jubiläen – umfasst. Vorbildhafte Lebensleistungen ausgewählter Persönlichkeiten (Kulturschaffende, Wissenschaftler, Militärs oder Politiker) oder denkwürdige Ereignisse werden im Laufe des Jahres in der Massen- und Erziehungsarbeit (öffentliche Vorträge, Ausstellungen etc., unter anderem auch für Schüler und Studenten) berücksichtigt und liefern lokalen wie nationalen Medien Informationsanlässe. Ein Vergleich mit ähnlichen Parlamentsbeschlüssen aus den vergangenen Jahren gibt Aufschluss über die Ziele und neuesten Entwicklungen der Geschichtspolitik der neuen Regierung. Neben dieser Liste werden bei unseren Beobachtungen Erlasse des Präsidenten sowie einschlägige Regierungsbeschlüsse berücksichtigt, die nach dem Machwechsel vor einem Jahr veröffentlicht wurden oder in Vorbereitung sind. Vier kurz vor Redaktionsschluss verabschiedete Gesetze über den Umgang mit der Geschichte der totalitären Regime und des Befreiungskampfs in der Ukraine sowie über den Zweiten Weltkrieg werden in diesem Text nur kurz behandelt.

Geschichtspolitik im Schatten des russisch-ukrainischen Konfliktes

Am 7. Januar 2015 sorgte der ukrainische Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk mit einem Interview in den ARD-Tagesthemen für Verwirrung, in dem er den aktuellen russisch-ukrainischen Konflikt mit dem sowjetischen Einmarsch in die Ukraine und Deutschland gleichsetzte. Da der Pressedienst der Regierung sich späteren Nachfragen gegenüber bedeckt hielt, geriet der Direktor des Ukrainischen Instituts für Nationales Gedenken, Wolodymyr Wjatrowytsch, in Erklärungsnot. Er erklärte, Jazenjuk habe über die Ereignisse im Januar 1918 gesprochen, als bolschewistische Truppen aus Sowjetrussland in die Ukraine einmarschierten. Inwieweit diese Interpretation Jazenjuks Intention entspricht, bleibt unklar. Wjatrowytschs Erläuterung zeigt aber deutlich, wie der russisch-ukrainische Konflikt geschichtspolitisch gedeutet wird.

Demnach werden die Kämpfe im Donbass und die Annexion der Krim als entscheidende Schlacht in einem jahrhundertelangen Befreiungskampf gegen den russischen Kolonialismus und gegen Großmachtansprüche Moskaus dargestellt und verstanden. Dabei werden gerne historische Parallelen mit der Geschichte der kurzlebigen Ukrainischen Volksrepublik (ukr.: Ukrajinska Narodna Respublika, UNR) gezogen, deren Armee gegen die »russisch-bolschewistischen« Truppen gekämpft hat. Sehr komplexe gesellschaftliche Prozesse, die sich von 1918 bis 1921 auf den ukrainischen Gebieten abgespielt haben, werden in den populären Geschichtsbildern auf militärische und ethnische Aspekte reduziert und als Unabhängigkeitskrieg der Ukrainer gegen die russischen Bolschewiki dargestellt. Ganz im Gegensatz zur Ukrainischen Sowjetischen Sozialistischen Republik erfährt die UNR bei diesen Darstellungen eine deutliche Aufwertung. Im Gesetz »Über die Verurteilung des kommunistischen und des nationalsozialistischen (nazistischen) totalitären Regimes …« vom 9. April 2015 wird das kommunistische Regime in der Ukraine von 1917 bis 1991 als verbrecherisch bezeichnet, die wiederhergestellte Unabhängigkeit von 1991 soll an die Geschichte der UNR anknüpfen.

Es überrascht daher nicht, dass im laufenden Jahr laut einem Parlamentsbeschluss vom 11. Februar auch vier weiterer Kommandeure der UNR-Armee gedacht wird sowie der Schlacht bei Warschau vor 95 Jahren, bei der die Rote Armee eine Niederlage gegen polnisch-ukrainische Truppen hinnehmen musste. Die Hervorhebung siegreicher historischer Momente sowie ihre mediale Verbreitung gehören zum angekündigten Programm der Regierung zur Stärkung der ukrainischen Armee.

Nach der Annexion der Krim und dem Ausbruch der bewaffneten Auseinandersetzung im Donbass hat der Präsident auch weitere Entscheidungen in Bezug auf staatliche Feiertage getroffen, die den Abschied der Ukraine vom sowjetischen Erbe unterstreichen sollen. Zwei dieser Entscheidungen sind besonders symbolträchtig. Erstens führte Poroschenko neben dem 9. Mai, dem traditionellen Tag des Sieges im »Großen Vaterländischen Krieg« (ukrainisch Den Peremohy, russisch Den Pobedy), mit seinem Erlass den 8. Mai als »Tag des Gedenkens und der Versöhnung« ein. Zweitens hob er den »Tag des Verteidigers des Vaterlandes« (ursprünglich als »Tag der Sowjetischen Armee und der Militärflotte« bekannt) auf. Nach alter sowjetischer Tradition wurde dieser Tag in der Ukraine wie auch in Russland am 23. Februar gefeiert. Der neue »Tag des Verteidigers der Ukraine« wurde durch denselben Erlass auf den 14. Oktober gelegt. Orthodoxe und unierte Christen feiern an diesem Tag das Schutzfest der Jungfrau Maria (Pokrowa Preswjatoji Bohorodyzi), die besonders von den Saporoger Kosaken als Beschützerin verehrt wurde. Seit 1999 ist das Schutzfest der Jungfrau Maria zugleich auch der Tag des ukrainischen Kosakentums. Auf diese Traditionen wies Poroschenko in seiner Ansprache nach der Unterzeichnung des Erlasses hin. Obwohl das Pokrowa-Fest als »Tag der Ukrainischen Aufständischen Armee« (Ukrajinska Powstanska Armija, UPA) zumindest genauso bekannt ist, fand diese Tatsache in der Ansprache des Präsidenten keine Erwähnung, weil die UPA in vielen Regionen des Landes nicht unumstritten ist.

Es ist zwar noch nicht klar, wie sich das neue Fest im ukrainischen Festkalender einbürgern wird, denn der 23. Februar war als Gegenstück des Internationalen Frauentages (8. März) einer der beliebtesten sowjetischen Feiertage. Vorläufig kann man aber feststellen, dass die öffentliche Reaktion auf die Entscheidungen des Präsidenten angesichts der Rolle der russischen Armee bei der Annexion der Krim sowie im Konflikt im Donbass durchaus positiv ausfällt.

Ukrainisches Institut für nationales Gedenken

Die wichtigsten institutionellen Rahmenbedingungen zur Durchführung der neuen Geschichtspolitik wurden mit den vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Jahr 2014 geschaffen. Die Parteien von Poroschenko und Jazenjuk, die im neuen Parlament über eine Mehrheit verfügen, haben sich in ihren Programmen auf die Festigung der ukrainischen Identität und der nationalen Erinnerung verpflichtet. Für die Erarbeitung entsprechender Gesetze hat sich im Parlament die überfraktionelle Abgeordnetengruppe »Erinnerung und Verständigung« gebildet, die eng mit dem Ukrainischen Institut für Nationales Gedenken zusammenarbeitet.

Dieses Institut wurde auf Initiative des Präsidenten Juschtschenko im Jahr 2006 gegründet. Während Janukowytschs Präsidentschaft wurde es von einem Kommunisten geleitet und hat seine Tätigkeit praktisch eingestellt. Das nach dem letzten Machtwechsel neu gegründete Institut ist nun mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet und fungiert als zentrale staatliche Behörde für geschichtspolitische Fragen. Seit März 2014 leitet es Wolodymyr Wjatrowytsch, ein ukrainischen Historiker und Archivar, dessen Forschungsschwerpunkt die Geschichte der ukrainischen nationalistischen Bewegung während des Zweiten Weltkriegs ist. Sein letztes Buch zu diesem Thema nahmen sowohl westliche als auch russische Historiker kritisch auf.

Da das Ukrainische Institut im Unterschied zu seinem polnischen Prototyp (Instytut Pamięci Narodowej) bisher keine eigenen Archivalien verwaltet, sieht es die »Wiederherstellung der nationalen Erinnerung und Identität« als seinen wichtigsten Arbeitsauftrag an. Es beteiligt sich aktiv an der Desowjetisierung des öffentlichen Raums (Demontage von Lenin-Denkmälern, Umbenennung von Straßen etc.), an der Vorbereitung einer ganzen Reihe von Parlaments- und Regierungsbeschlüssen sowie an der Erarbeitung der am 9. April verabschiedeten Gesetze. Eines dieser Gesetze – »Über den Zugang zu den Archiven der repressiven Organe« – sieht die Organisation eines speziellen Archivs als Bestandteil des Instituts vor. Den Schutz von persönlichen Daten bei der Nutzung dieser Akten hebt das Gesetz auf. Die früheren Pläne des Institutsdirektors, auch (Teil-)Bestände aus lokalen Archiven im Institutsarchiv zusammenzutragen, werden in Fachkreisen als Verstoß gegen das Prinzip der Unteilbarkeit überlieferter Fonds und zudem als kaum zu bewältigende logistische Aufgabe kritisiert, kürzlich etwa in einem offenen Brief des Verbands ukrainischer Archivare.

Die Geschichte des mittelalterlichen Staats Kiewer Rus bleibt umstritten

Die Entscheidung des ukrainischen Parlaments vom 11. Februar, an dessen tausendstem Todestag feierlich des Kiewer Fürsten Wolodymyr zu gedenken, bestätigte zwei Wochen später ein Erlass des Präsidenten. In diesem Dokument wird nicht nur erneut auf die große Bedeutung des mittelalterlichen Staates sowie des Fürsten Wolodymyr für die Entstehung der ukrainischen Nation und für die tausendjährige staatliche Tradition hingewiesen, in ihm wird auch erstmalig in einem offiziellen Text die Bezeichnung Ukrajina-Rus verwendet, die der ukrainische Historiker und Politiker Mychajlo Hruschewski zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seinem fundamentalen Werk benutzte, um den kontinuierlichen historischen Entwicklungen auf den ukrainischen Gebieten vom Mittelalter bis in die Neuzeit Ausdruck zu verleihen.

Diese Entscheidungen wurden in Moskau als Versuch, die Geschichte der Kiewer Rus zu vereinnahmen, heftig kritisiert, unter anderem von Vertretern der Antimaidan-Bewegung. Nach den Äußerungen von Präsident Putin über die sakrale Bedeutung, die die Halbinsel Krim, auf der der heiliggesprochene Wolodymyr angeblich getauft wurde, für alle Russen habe, birgt das Thema mehr Konfliktstoff als je zuvor. Eine mit Präsident Janukowytsch vorläufig vereinbarte Feier unter der Ägide der orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats findet in der Ukraine nicht statt. Im Sommer ist mit einer erhöhten Präsenz des Themas in ukrainischen und russischen Medien zu rechnen.

Die Geschichte einer Großstadt wird neu gelesen

Ein anderer Eintrag aus der Liste der Gedenktage und Jubiläumsfeiern verrät viel über die neuesten Trends in der ukrainischen Geschichtspolitik.

Wie jedes Jahr findet auch im kommenden September die Stadtgründungsfeier in Odesa (russisch Odessa) statt. Allerdings wird die Stadtgründung nicht mehr auf das Jahr 1794, sondern – basierend auf der ersten Aktennennung – auf das Jahr 1415 datiert. Ursprünglich war es die kleine Siedlung Kotsjubej (türk. Chadschibej), die später unter osmanischer Herrschaft zur Festung ausgebaut wurde. Die Entstehung und Existenz der Hafensiedlung lange vor dem Anschluss an Russland wurde nie angezweifelt und ist durch schriftliche Zeugnisse und archäologische Befunde gut dokumentiert. Nichtsdestotrotz blieb die Gründung Odesas im kollektiven Gedächtnis ausschließlich mit der Belagerung von Chadschibej durch die russische Armee und mit dem Anschluss des gesamten nördlichen Schwarzmeergebiets fest verbunden.

Der Vorschlag, das 600-jährige Jubiläum der Stadt Odesa im laufenden Jahr zu feiern, ist nicht neu und stammt ursprünglich von einer städtischen Bürgerinitiative, zu der unter anderem auch lokale Historiker gehören. Hinter der Entscheidung des Parlaments, diese Initiative zu unterstützen und die Jubiläumsfeierlichkeiten zu verordnen, lässt sich der Versuch erkennen, den pro-ukrainisch gesinnten Stadtbewohnern den Rücken zu stärken, gegen Spekulationen über Neurussland (Noworossija), das nach Russland »zurückkehren« müsse, vorzugehen und den Mythos »Odessa – russische Stadt« in Frage zu stellen. Die Geschichte der Stadt Odesa ist dabei insofern von Bedeutung, als Odesa zwischen den 1820er und den 1870er Jahren das Zentrum des Generalgouvernements Neurussland war. Diese politisch-administrative Einheit umfasste damals drei Gouvernements – Jekaterinoslaw, Taurien und Cherson – und damit alle heutigen ukrainischen Gebiete am Schwarzen und am Asowschen Meer. Die Verschiebung der Stadtgründung um fast 400 Jahre würde den Ausgangspunkt der Stadtgeschichte in einem ganz anderen Zeitalter verorten, nämlich in dem des Polnisch-Litauischen Staates, der im ukrainischen nationalen Narrativ als Brücke zwischen Kiewer Rus und vormodernem Kosakenstaat eine zentrale Rolle einnimmt.

Wissenschaftlich gesehen sind Stadtjubiläen selten gut fundiert, sie genießen aber als großangelegte und vielbesuchte Volksfeste in breiten Anwohnerschichten enorme Popularität. Ob es den Organisatoren diesmal gelingen wird, neue historische Inhalte überzeugend zu präsentieren, bleibt abzuwarten. Angesichts der angespannten Lage in der Stadt infolge der tragischen Ereignisse vom 2. Mai 2014 kann nicht mehr ausgeschlossen werden, dass das Jubiläumsvorhaben polarisierend wirkt. Als Anzeichen dafür könnte die Nachricht gedeutet werden, dass der Stadtrat sich mit einer Gerichtsentscheidung abzusichern versucht hat. Er ließ die Entscheidung des Parlaments von einem lokalen Gericht überprüfen, bevor mit der Vorbereitung der Feierlichkeiten begonnen wurde. Auch ist die Mitteilung beunruhigend, dass ein Historiker, der der Initiativgruppe angehört, vor kurzem auf der Straße angegriffen wurde.

Die Erinnerung an den Krieg wird zu einem Krieg der Symbole

Das seit 2000 geltende Gesetz »Über die Verewigung des Sieges« verfestigte die seit den Sowjetzeiten tradierte Sichtweise auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Dieser lag die Vorstellung von einem Siegervolk (narod-pobeditel’) zu Grunde, das im Großen Vaterländischen Krieg (Velikaja Otetschestvennaja Vojna) (1941–1945) den entscheidenden Sieg errungen hatte.

In dem von der Regierung initiierten und am 9. April im Parlament verabschiedeten Gesetz »Über die Verewigung des Sieges über den Nazismus im Zweiten Weltkrieg 1939–1945« kommt der Große Vaterländische Krieg genauso wie das Siegervolk nicht mehr vor. Das Gesetz aus dem Jahr 2000 wird mit dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes aufgehoben. Der Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg am 9. Mai wird ihm zufolge in »Tag des Sieges über den Nazismus im Zweiten Weltkrieg« umbenannt und zu lediglich einer von vielen Formen der Verewigung des Sieges herabgestuft. Am 8. Mai soll von nun an der »Tag der Erinnerung und Versöhnung« begangen werden. Während an ihm der Opfer des Krieges gedacht werden wird, sollen am 9. Mai – so Präsident Poroschenko in einem Interview – die noch lebenden Veteranen geehrt werden. Mit dem Ableben der Kriegsgeneration wird die Bedeutung dieses Festes sinken.

Diese Umgestaltung der staatlichen Feierlichkeiten anlässlich des Sieges der Alliierten in Europa im Zweiten Weltkrieg ist als Versuch anzusehen, die sowjetische Tradition in Anlehnung an die (ost)europäische Tradition des Gedenkens zu überwinden. Das ist für die Ukraine insofern wichtig, als es ihr ermöglicht, die Ereignisse von 1939 bis 1941 in den ostpolnischen Gebieten, aber auch den Befreiungskampf der UPA während und nach dem deutsch-sowjetischen Krieg in das Kriegsnarrativ aufzunehmen.

Mit dem neuen Gesetz geht die ukrainische Führung klar auf Distanz zum Tag des Sieges, der in letzter Zeit zu Propagandazwecken instrumentalisiert und mythologisch überlagert wurde. Damit widerspricht sie deutlich den vom Putin-Regime erhobenen Ansprüchen auf ein Deutungsmonopol über die Kriegsgeschichte. Diese Auseinandersetzung wird auch auf visueller Ebene ausgetragen. Dem schwarz-orange gestreiften Georgsband, das von Russland auch im Ausland teilweise aggressiv verbreitet wird, wird in der Ukraine seit etwa einem Jahr eine neue Symbolik zur Erinnerung an die Kriegsopfer entgegengestellt. Das letzte Woche von Wjatrowytsch und der First Lady präsentierte Symbol sieht der britischen Poppy (Mohnblume), die als Zeichen der Erinnerung an die Opfer des Großen Krieges bekannt ist, sehr ähnlich. Diese Symbolik soll das Georgsband ablösen, das nach dem Ausbruch des Krieges im Donbass von den meisten Ukrainern ohnehin abgelehnt wird.

Schlussfolgerung

Der russisch-ukrainische Konflikt wird nicht zuletzt zwischen unterschiedlichen Vergangenheitsvorstellungen ausgetragen und ist daher ein wesentlicher Faktor bei der Analyse der ukrainischen Geschichtspolitik. Seine Wirkung ist dabei ambivalent: Auf der einen Seite wirkt er mobilisierend, indem er Identitäten fördert und stärkt. Auf der anderen Seite führt das mit ihm verbundene Risiko für die ohnehin instabile ukrainische Staatlichkeit dazu, dass in der Geschichtspolitik die staatstragende und jetzt auch verstärkt militärische Programmatik stets in den Vordergrund gestellt wird, oft auf Kosten anderer wichtiger Aspekte.

Der Konflikt hat aber auch einige politische Entscheidungen leicht gemacht. Neben der Abschaffung des Tags der Sowjetischen Armee im Oktober 2014 war die Umgestaltung und Umdeutung des »Tags des Sieges« der wichtigste Eingriff in den traditionellen, aus Sowjetzeiten stammenden ukrainischen Festkanon. Welchen Einfluss diese Entscheidungen auf die Erinnerungskultur in der Ukraine haben, bleibt noch zu klären. Jedenfalls stellen die Veränderungen den entschiedensten Versuch seit der Erlangung der Unabhängigkeit dar, vom (post)sowjetischen Kalender bzw. von der postsowjetischen Vergangenheit Abschied zu nehmen und damit den Einfluss Russlands zu verringern.

Die Gesetze vom 9. April stellen eine Zäsur in der ukrainischen Geschichtspolitik dar und werden sie in absehbarer Zukunft bestimmen. Ohne Zweifel werden sie vom Präsidenten zeitnah unterzeichnet werden und in Kraft treten. Ihre Erforschung steht noch an.

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