Präsident Petro Poroschenko initiierte am 16. Februar 2016 eine Regierungskrise; er forderte Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk und Generalstaatsanwalt Viktor Schokin öffentlich auf, zurückzutreten. Weil der Präsident aber nicht über die Kompetenz verfügt, diese Schlüsselstellungen der Exekutive und Judikative aus eigener Machtvollkommenheit zu besetzen, dauerte es zwei und im Fall des Generalstaatsanwalts drei Monate, ehe Poroschenko seine Wunschkandidaten installiert hatte. Zwei Monate lang gab es nur eine amtsführende Regierung, die Parlamentsarbeit war stark eingeschränkt, die westlichen Partner höchst beunruhigt und die russische Propaganda siegessicher. War die absichtlich herbeigeführte Regierungskrise gerechtfertigt? Auch wenn die neuen Männer, Hrojsman als Premier und Luzenko als Generalstaatsanwalt, durchaus kompetent sind, bleibt die Frage bestehen. Poroschenko wollte offenbar mit seinem Coup im Februar Handlungsfähigkeit demonstrieren und der Gesellschaft Vertrauen einflößen. Bislang ist ein wachsendes Vertrauen nicht sichtbar geworden.
Hintergrund der Regierungskrise war die tiefsitzende Enttäuschung in der Gesellschaft zwei Jahre nach dem siegreichen Maidan; viele sahen sich um die Früchte des Maidan betrogen. Die Hoffnung auf wirtschaftliche Erholung kam nicht bei den Menschen an. Da lag es nahe, die Regierung und insbesondere den Premierminister zum Sündenbock zu machen, denen man natürlich Versäumnisse vorhalten konnte. Umfragen zeigten, dass die Akzeptanz für die Regierenden in der Gesellschaft insgesamt seit 2015 unaufhaltsam fiel. Aber auch nach der Amtsübernahme der neuen Regierung am 14. April 2016 trat keine Trendwende ein. 42 Prozent der Ukrainer stehen nach einer Umfrage des Razumkow- Zentrums nicht hinter der Ernennung von Hrojsman zum Ministerpräsidenten; 35 Prozent unterstützen diese Entscheidung (s. Grafik 4 auf S. 17). Eine Mehrheit von 44 Prozent glaubt, die Effizienz der neuen Regierung werde sich nicht von jener der alten unterscheiden.
Wolodymyr Hrojsman, der seit November 2014 Parlamentspräsident war, gehört zur politischen Seilschaft von Präsident Poroschenko, beide kommen aus Winniza. Seine Wahl zum Ministerpräsidenten am 14. April 2016 signalisiert einen Machtzuwachs des Präsidenten. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Regierungschef und Präsident kann für die praktische Regierungsarbeit von Vorteil sein. Ob sie allerdings im Parlament die notwendige Unterstützung findet, muss die Zukunft zeigen. Denn die parlamentarische Basis des Kabinetts Hrojsman in der Werchowna Rada ist deutlich schmaler als die der Vorgängerregierung. Drei kleinere Parlamentsfraktionen (Selbsthilfe, Radikale Partei, Vaterland) sind nicht wieder in die Regierungskoalition zurückgekehrt, die deshalb nur aus den beiden Fraktionen Block Petro Poroschenko und Volksfront besteht. Zudem verweigerten einige Radikalreformer aus den eigenen Reihen Hrojsman ihre Stimme bei der Wahl zum Regierungschef. Er war deshalb auf die Stimmen von zwei Abgeordnetengruppen »Wiedergeburt« und »Volkswille« angewiesen (s. Ukraine-Analysen 167, S. 5). Beide gelten als Lobby der Oligarchen im Parlament, deren Einfluss der Maidan gerade zurückzudrängen versprochen hatte. Das Kabinett Hrojsman verfügt also anders als das Kabinett Jazenjuk nicht über eine sichere Parlamentsmehrheit, die allerdings seit Herbst 2015 zunehmend bröckelte, und ist deshalb auf das Aushandeln situativer Mehrheiten von Fall zu Fall angewiesen. Hinterzimmerabsprachen werden zur Voraussetzung erfolgreicher parlamentarischer Arbeit.
Zwei ausgewiesene Wirtschaftsreformer sind im neuen Kabinett nicht mehr vertreten: Aivaras Abromavičius als Wirtschaftsminister und Natalija Jaresko als Finanzministerin. Insbesondere der international gerühmte Wirtschaftsfachmann Abromavičius erwies sich als von der Präsidialadministration nicht lenkbar. Kontinuität verkörpern im neuen Kabinett der Außen- (Klimkin), der Innen- (Awakow) und der Verteidigungsminister (Poltorak) (s. Ukraine-Analysen 167, S. 3).
Zu den größten unmittelbaren Herausforderungen für die neue Regierung gehören Reformschritte in der Wirtschaft und in der Justiz. Derzeit verhandelt der Internationale Währungsfond in Kiew über die Auszahlung der dritten Tranche in Höhe von 1,7 Milliarden US-Dollar aus dem Kredit vom März 2015; seit September 2015 lag die Auszahlung auf Eis. Zusammen mit Krediten der USA und der EU handelt es sich um ein Paket von 3,5 Milliarden US-Dollar, die die Ukraine dringend braucht. Voraussetzung für einen erfolgreichen Abschluss mit dem IWF ist die Verabschiedung einer Reihe von Reformgesetzen in den Bereichen öffentliche Verwaltung, Deregulierung und Privatisierung von Staatsbetrieben, die dem Parlament vorliegen.
Große Hoffnungen auf Fortschritte in der Korruptionsbekämpfung ruhen auf Jurij Luzenko, dem neuen Generalstaatsanwalt, der als Poroschenkos Wunschkandidat in einem parlamentarischen »Blitzkrieg« (Ukrajinska Prawda) am 12. Mai 2016 vom Parlament bestätigt wurde. Für Luzenko, den bisherigen Fraktionsvorsitzenden des Blocks Petro Poroschenko und einen der engsten Vertrauten des Präsidenten, musste das Gesetz über den Generalstaatsanwalt geändert werden, weil Luzenko nicht über eine juristische Hochschulbildung verfügt. Dennoch besteht an seiner Qualifikation für dieses Amt kein Zweifel. Er war in mehreren Kabinetten der »orangen« Regierung seit 2005 Innenminister. Unter Präsident Janukowitsch wurde er in einem politischen Prozess, ähnlich wie Julija Timoschenko, zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, im April 2013 aber vorzeitig aus der Haft entlassen. Luzenko gilt seit langem als unbeugsamer und prononcierter Sprecher für eine westlich-europäische Ukraine. Sein Temperament ist legendär. Der Vorgänger im Amt des Generalstaatsanwalts Schokin galt eher als Schutzpatron der Korruptionäre. Auf Luzenko wartet eine Sisyphusarbeit.
Die neuen Führungspersonen bilden ein ziemlich einheitliches Team, und sie haben die Chance mit frischen Kräften der Politik neue Anstöße zu geben. Auf der anderen Seite: Das Kabinett Hrojsman und der neue Generalstaatsanwalt bedeuten eine Machtkonzentration beim Präsidenten bei gleichzeitig schmaler gewordener Basis im Parlament und abnehmendem Rückhalt in der Gesellschaft: eine in der Ukraine gefährliche Entwicklung, wo die Gesellschaft autoritären Tendenzen mit wachem Misstrauen und Widerstand begegnet.