Sweatshops am Rande Europas: Wie Markenkleidung in der Ukraine genäht wird

Von Oksana Dutschak (Kiew)

Zusammenfassung
Im Jahr 2017 hat die Clean Clothes Campaign, eine internationale Nichtregierungsorganisation, mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und des Südwind-Instituts, eine Studie in der Ukraine durchgeführt, um herauszufinden, unter welchen Bedingungen bekannte westliche Markenfirmen hier Kleidung nähen lassen. Dabei wurden 51 Interviews mit Näherinnen in acht ukrainischen Nähfabriken durchgeführt, deren Ergebnisse in diesem Artikel präsentiert werden.

Einführung

Die Produktion von Markenbekleidung in der Ukraine ist kein neues Thema. Lokale Medien berichten von Zeit zu Zeit über die Produktion in ukrainischen Nähfabriken. Allerdings sind ihre Berichte meistens einseitig positiv und handeln hauptsächlich davon, wie hochqualifiziert ukrainische Näherinnen sind, wie fortgeschritten die Produktionstechnik sei und wie attraktiv das »Investitionsklima« ist, so dass auch bekannte Marken keine Angst haben, ihre Produkte in der Ukraine zu produzieren. Dabei wird gerne die Tatsache ignoriert, dass dieselben Marken ihre Aufträge im großen Umfang auch an andere Länder vergeben, die weder für ihre fortgeschrittene Volkswirtschaft noch für ihr sozioökonomisches Niveau bekannt sind. Dabei stellen die ukrainischen Medien auch nicht die Frage, welchen Preis die ukrainischen Näherinnen, ihre Familie und die Textilbranche des Landes für ein solches »Investitionsklima« zahlen müssen.

Gleichzeitig verstehen die europäischen Verbraucher »Made in Europe« als Garantie für eine Produktion nach ethischen Prinzipien und damit auch verantwortungsbewussten Konsum. »Made in Europe« wird als Gegensatz gesehen zu den schwierigen Arbeitsbedingungen, niedrigen Löhnen, Verletzungen der Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern und Menschenrechtsverletzungen in den Ausbeutungsfabriken in Asien. Aber sind die ethischen Aspekte von »Made in Bangladesh« und »Made in Ukraine« wirklich so unterschiedlich?

Textilindustrie in der Ukraine

Seit den 1990er Jahren lassen westliche Bekleidungsfirmen in der Ukraine nähen. Die zu Sowjetzeiten erfolgreiche Textilbranche verlor mit der Unabhängigkeit der Ukraine plötzlich ihre Partner, den Zugang zu billigen Rohstoffen und einen großen Binnenmarkt. Viele Textilfabriken gingen bankrott und die Beschäftigten verloren ihre Arbeit. Es überlebten die Betriebe, die es schafften, sich in die globalen Produktionsketten der Textilindustrie einzugliedern – wenn auch auf deren niedrigsten Standards.

Mittlerweile arbeitet die große Mehrheit der ukrainischen Nähfabriken zumindest teilweise für den Export. Der größte Teil der Bekleidung »Made in Ukraine« wird nach Deutschland exportiert (37 %). Ein relativ großer Teil der Exporte geht nach Ungarn, Rumänien und Polen (insgesamt 20 %). Letzteres deutet darauf hin, dass die ukrainischen Nähfabriken oft nicht einmal direkte Lieferanten von Markenfirmen sind, sondern deren Zulieferern in Mittelosteuropa zuarbeiten. Noch deutlicher wird dies bei der Exportstatistik für Schuhe, von denen 41 % als Halbfertigware nach Rumänien, Ungarn, Italien und in andere EU-Länder gehen. Es ist offensichtlich, dass in diesen Ländern aus den halbfertigen Schuhen die Endprodukte hergestellt werden, die dann mit dem Label »Made in EU / Italy / etc.« versehen werden

Arbeitsbedingungen

Aus frei zugänglichen Quellen geht hervor, dass westliche Firmen wie C&A, Adidas, Asos, Hugo Boss, Marks & Spencer, New Balance, PVH, Triumph, St. James, Esprit, Zara, Mexx, Top Shop und viele andere in der Ukraine Kleidung nähen lassen. Ein Vergleich des Nähens von Markenkleidung in der Ukraine mit den klassischen (meist asiatischen) Produktionsländern zeigt sowohl Unterschiede als auch auffällige Ähnlichkeiten.

Die Unterschiede betreffen die Arbeitsbedingungen und vor allem die Arbeitskräfte. Denn anders als in den asiatischen Ländern, wo die Näherinnen in der Regel junge Frauen sind, arbeiten in den ukrainischen Nähfabriken meistens ältere Frauen, teilweise sogar Rentnerinnen. Das Durchschnittsalter der befragten Beschäftigten beträgt 45 Jahre. Sie sind keine Binnenmigranten, sondern leben in der Regel in dem Dorf, in dem sich die Textilfabrik befindet, oder in den umliegenden Dörfern, meistens in einer eigenen Wohnung, die sie oder ihre Angehörigen bereits seit Sowjetzeiten besitzen.

Da nur offiziell registrierte Nähfabriken in unsere Untersuchung einbezogen wurden, sind die Fabrikgebäude entsprechend der rechtlichen Vorgaben erbaut worden und damit relativ sicher in Bezug auf Brandschutz oder Arbeitsunfälle. Die Beschäftigten haben, im Gegensatz zu asiatischen Nähfabriken, unbefristete Arbeitsverträge und eine recht umfangreiche soziale Absicherung mit bezahltem Jahresurlaub, Krankengeld, Rentenanspruch und Arbeitslosengeld – was sich natürlich nur auf die offiziell registrierten Nähfabriken bezieht, die hier erfasst werden und nicht auf illegale Nähfabriken in der Schattenwirtschaft. Auch in den registrierten Nähfabriken, in denen die Beschäftigten durch das ukrainische Arbeitsrecht geschützt sind, ist dieser Schutz aber bei der sozialen Sicherung durch die Wirtschaftskrise eingeschränkt worden und wird mit Bezug auf die Arbeitsbedingungen oft nicht eingehalten.

Deshalb ergeben sich in vielerlei Hinsicht große Ähnlichkeiten mit asiatischen Nähfabriken. So kann die Raumtemperatur im Produktionssaal im Sommer auf 40 Grad Celsius ansteigen, was bereits gesetzeswidrig ist. Nach den gleichen Rechtsvorschriften sollte die Arbeitszeit der Beschäftigten bei Überschreitung der normalen Raumtemperatur verringert werden. Gerade in den Sommermonaten ist aber oft »Hochsaison« mit den meisten Aufträgen. Infolgedessen sind die Näherinnen gezwungen, zehn bis zwölf Stunden am Tag und an sechs Tagen die Woche, manchmal auch nachts zu arbeiten oder die Arbeit mit nach Hause zu nehmen, um die Lieferfristen einzuhalten. Solche Überstunden verstoßen natürlich auch gegen die ukrainische Gesetzgebung. In der »Nebensaison« mit nur wenigen Aufträgen werden die Beschäftigten jedoch oft gezwungen »freiwillig« Urlaub zu nehmen.

Ein weiteres großes Problem für die Beschäftigten ist der niedrige Lohn. Zum Stand Anfang 2017 wird oft nur der Mindestlohn von 89 Euro netto im Monat gezahlt. Der durchschnittliche Monatslohn beträgt außerhalb der »Hochsaison« 96 Euro netto und steigt in der »Hochsaison« auf bis zu 117 Euro. Es gibt aber auch Fälle, in denen bei Vollzeitbeschäftigung nicht einmal der Mindestlohn gezahlt wird. Das niedrigste von uns erfasste Monatsgehalt bei voller Arbeitszeit betrug im Januar 2017 nur 48 Euro netto.

Außerdem werden die Arbeitsnormen so hoch angesetzt, dass viele Näherinnen diese in ihrer normalen Arbeitszeit nicht erfüllen können und deswegen gezwungen sind sogar außerhalb der Hochsaison jede Woche ein bis drei Überstunden ohne Lohnausgleich zu leisten. Werden unbezahlte Überstunden mit einbezogen erhält mindestens ein Drittel der Näherinnen nicht einmal den Mindestlohn.

Damit kann zweifelsfrei von »Hungerlöhnen« gesprochen werden, die um ein Vielfaches niedriger sind als menschenwürdige Löhne, die für Nahrung, Wohnungsnebenkosten, Urlaub, medizinische Versorgung, Bildung usw. ausreichen würden. Nach unseren Berechnungen sollten angemessene Löhne für Näherinnen in der Ukraine bei etwa 477 Euro im Monat liegen, wenn wir davon ausgehen, dass die meisten von ihnen aufgrund der kostenlosen Privatisierung von Wohnraum nach Ende der sowjetischen Planwirtschaft keine Miete zahlen müssen, da sie oder ihre Angehörigen zu Eigentümern des genutzten Wohnraums wurden.

Überlebensstrategien

In einer solchen Situation stellt sich die Frage, wie die Arbeiterinnen, die in der Ukraine Markenkleidung nähen, ihr Leben bestreiten. Es gibt mehrere Strategien. Einige von ihnen besitzen Land und beziehen ihre Lebensmittel aus eigener Produktion. Alle erhalten staatliche Unterstützung in verschiedener Form, wie etwa Renten, Zuschüsse zu den Wohnungsnebenkosten, verbilligte Nutzung öffentlicher Verkehrsmitteln, weitgehend kostenlose Nutzung der Gesundheits- und Bildungssysteme. Die meisten von ihnen leben, wie bereits erwähnt, in ihren eigenen vier Wänden.

Trotzdem sind die Näherinnen gezwungen bei allem zu sparen: beim Essen, bei medizinischer Versorgung und beim Urlaub. Sie kaufen meist sehr einfache Lebensmitten. Auch wenn die medizinische Grundversorgung weitgehend kostenlos ist, sind Zuzahlungen für Medikamente und Bestechungszahlungen im Gesundheitssystem die Regel. Kleidung wird von Näherinnen sehr selten oder sehr billig in schlechter Qualität oder second hand gekauft. Eine Urlaubsreise können sich die meisten von ihnen auch innerhalb der Ukraine nicht leisten. Sie gehen so gut wie nie ins Kino oder ins Café. Da die Näherinnen keine Möglichkeit haben, finanzielle Rücklagen zu bilden, führen unvorhergesehene Ausgaben schnell zu Verschuldung und zu einer unsicheren Lebensperspektive.

Fazit

Auf diese Weise schafft die ukrainische Politik, die eine Steigerung der Attraktivität des Landes für Investitionen anstrebt, real Lohnausbeutung, die hinter der Fassade »Made in Europe« steckt. Hier zeigt sich eine traurige Ironie: Beschäftigte, die mehr als 40 Stunden pro Woche arbeiten, müssen trotzdem von Lebensmitteln aus dem eigenen Garten leben. Näherinnen, die westliche Markenkleidung produzieren, sind gezwungen, dieselbe Markenkleidung – wenn überhaupt – second hand zu kaufen. Und der ukrainische Staat subventioniert in großem Ausmaß die Lebenshaltungskosten der Menschen, die Kleidung nähen und Gewinne für viele westliche Markenfirmen generieren.

Einerseits können die Näherinnen dank direkter und indirekter staatlicher Subventionen über die Runden kommen. Andererseits bindet eine solche Politik die Menschen an die Nähfabriken und ermöglicht das Festhalten an Billiglöhnen zugunsten westlicher Markenfirmen.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Lina Pleines

***

Die Interviews wurden durchgeführt von Oksana Dutschak, Artem Tschapaj und Anna Oksjutowitsch. Der Abschlussbericht ist hier abrufbar: <https://cleanclothes.org/livingwage/europe/country-profiles/ukraine/view>

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