Einleitung
Die internationale Gemeinschaft hat sich mit dem Pariser Klimaabkommen ambitionierte Ziele gesetzt. Eine Erwärmung des Planeten um mehr als 2° Celsius verglichen mit dem vorindustriellen Niveau soll vermieden und Anstrengungen zur Begrenzung des Temperaturanstiegs auf nur 1,5° Celsius sollen unternommen werden. Dies erfordert innerhalb eines engen Zeitrahmens eine massive Senkung von Treibhausgasemissionen und damit den Umstieg auf erneuerbare Energieträger. Um die Ökosysteme global und die einzelnen Volkswirtschaften vor den möglichen katastrophalen Folgen des Klimawandels zu bewahren, müssen praktisch alle Länder bis zur zweiten Hälfte des Jahrhunderts CO2-neutral werden. Die Energiewirtschaft, die Industrie, der Transportsektor und die privaten Haushalte müssen ihren Energieverbrauch komplett dekarbonisieren. Diese Perspektive bedeutet gleichzeitig, dass die Masse der bereits entdeckten Vorkommen der fossilen Energieträger im Boden verbleiben muss. Weltweit haben schon mehr als 50 Staaten die komplette Umstellung auf erneuerbare Energieträger zum Ziel ihrer Politik erklärt, darunter sowohl Entwicklungs- als auch Industrieländer.
Eine Reihe von Studien haben bereits die technische und ökonomische Machbarkeit im globalen Maßstab untersucht. Die ersten detaillierten Modelle wurden 2007 von Greenpeace mit dem »Energy R Evolution Scenario« vorgelegt. Dessen fünfte Version von 2015 kommt zu dem Ergebnis, dass ein weltweiter Umstieg auf erneuerbare Energieträger im Stromsektor sogar schon bis 2030 technisch machbar wäre. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Untersuchung der Stanford University und der University of California von 2015, in der Modelle für 139 Länder einschließlich der Ukraine berechnet wurden.
Es ist jedoch naheliegend, das Ziel der Bekämpfung des Klimawandels durch Umstellung auf 100 % erneuerbare Energieträger nicht isoliert von anderen Dimensionen nachhaltiger Entwicklung zu betrachten, etwa andere ökonomische und soziale Aspekte. Eine Energiewende sollte in einer Weise organisiert werden, die so viele positive Nebeneffekte wie möglich generiert. Erneuerbare Energien haben dafür viel anzubieten – insbesondere auch in Bereichen, die gerade für die Ukraine von großer Bedeutung sind. Beispielhaft genannt seien die Reduzierung von Luftverschmutzung und somit eine Verbesserung der allgemeinen Gesundheit der Menschen, eine verbesserte Energiesicherheit durch Überwindung der Abhängigkeit von Rohstoffimporten sowie zahlreiche Vorteile des modernen dezentralen Einsatzes erneuerbarer Energien wie eine hohe Beschäftigungsintensität auch in strukturschwachen Gebieten. Dank der politischen Botschaften des Pariser Gipfels haben manche Entwicklungen auch schon Fahrt aufgenommen und die Ukraine muss nicht von Null starten.
China und andere globale technologische Vorreiter arbeiten bereits am Ersatz fossiler Energieträger. Es wäre nicht nur ökonomisch irrational, sondern sogar gefährlich für die Ukraine, den Trend zu verschlafen und stattdessen die Abhängigkeit von russischen Lieferungen zu verfestigen. Energieeffizienz und den Umstieg auf erneuerbare Energie zur nationalen Priorität zu machen, ist eine logische Konsequenz der akuten strukturellen Probleme des maroden und ineffizienten ukrainischen Energiesektors, des geopolitischen Umfelds und des Kurses der Annäherung an die EU.
Die Studie »Transition of Ukraine to 100 % Renewable Energy by 2050«
Unter der Leitung von Fachleuten des Instituts für Wirtschaft und Prognose der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine und mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung entstand seit 2016 eine umfassende Studie, in deren Rahmen verschiedene Szenarien für die Entwicklung der ukrainischen Energiewirtschaft samt ihrer Rückwirkungen auf Transport, Industrie, Landwirtschaft und andere Sektoren entwickelt und verglichen wurden. Die Ergebnisse der Modellierung wurden im Herbst in ukrainischer und englischer Sprache im Bericht »Transition of Ukraine to 100 % Renewable Energy by 2050« publiziert. Die Untersuchung zeigt auf, dass die Ukraine großes Potenzial hat, den Weg einer nachhaltigen Transformation erfolgreich zu beschreiten. Das Forscherteam um Oleksandr Diachuk entwickelte drei Szenarien: Konservativ, Liberal, Revolutionär.
Im »revolutionären« Szenario wird eine proaktive und konsequente politische Unterstützung von Energieeffizienz und des Ausbaus erneuerbarer Energien angenommen. Der Anteil der Erneuerbaren am gesamten Primärenergieverbrauch der Ukraine steigt nach diesem Szenario bis 2050 auf 91 %. Absolut betrachtet sinkt dabei der Primärenergiebedarf dank Effizienzgewinnen um 27 % verglichen mit 2012 (oder um 42 % verglichen mit dem konservativen Szenario). Die Energieintensität würde sich demnach im Vergleich zu 2012 um den Faktor 4,7 verbessern lassen. 9 % des Energieverbrauchs bleiben auch 2050 nicht erneuerbar, weil das Modell den Fortbestand von metallurgischer und chemischer Industrie vorsieht, für die weiterhin ein Bedarf an fossilen Ressourcen im Wesentlichen für die stoffliche Nutzung angenommen wird.
Im Gegensatz zur sehr schwer prognostizierbaren Zukunft der energieintensiven Industrien zeichnen sich globale Trends für Mobilität, Haushalte und Dienstleistungssektor schon etwas klarer ab. Die Elektrifizierung des Transportsektors, sei es über direkt elektrisch betriebene Fahrzeuge oder über strombasiert erzeugte Kraftstoffe, sowie verbesserte Technologien am Bau und in der Produktion und für die Beheizung ermöglichen hier deutliche Effizienzsteigerungen und den Einsatz erneuerbarer Energien für diese Zwecke. Entsprechend ist ein deutlich steigender (erneuerbarer) Stromanteil am Endenergieverbrauch zu erwarten, der schrittweise Öl, Gas, Kohle und Atom ersetzt. 2012 lag der Stromanteil am Endenergiebedarf lediglich bei 17 %. Für 2050 sind im »revolutionären Szenario« nun 56 % angenommen.
Die Potenziale der erneuerbaren Energieträger in der Ukraine sind für eine solche Entwicklung ausreichend. Im Ergebnis der Untersuchungen der Studie ist ein vollständiger Umstieg im Stromsektor auf erneuerbare Energieträger nicht nur technisch möglich, sondern auch ökonomisch sinnvoll. Nicht zuletzt ist mit einem solchen Weg auch eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen in Übereinstimmung mit den Pariser Klimazielen machbar.
Die Modellierung der Lapeenranta University of Technology (Finnland)
Die Studie »The role of storage technologies for the transition to a 100 % renewable energy system in Ukraine« untersucht lediglich den Stromsektor. Auch hier ist im Ergebnis ein graduelles Auslaufen der fossilen und nuklearen Stromerzeugungskapazitäten und deren 100%igen Ersatz durch erneuerbare Energieträger bis 2050 sowohl technisch machbar als auch ökonomisch darstellbar. Der letzte nukleare Block verbleibt auch hier noch bis in die zweite Hälfte der 2040er Jahre am Netz. Dem Staatsunternehmen Energoatom wird hiermit auch Zeit eingeräumt, die entsprechenden Rücklagen für den späteren Rückbau der Reaktoren und die Deponierung der radioaktiven Abfälle zu bilden.
Im Gegensatz zur erstgenannten Studie berechnen die Autor/innen aus Finnland die Strombereitstellung auch auf stündlicher Basis im Tagesverlauf zu verschiedenen Jahreszeiten, denn Wind- und Solarstromerzeugung fluktuieren bekanntlich erheblich. Zur Ausbalancierung werden für eine Übergangszeit noch Gasturbinen verfügbar bleiben müssen, bevor nach 2030 die Speicher eine immer größere Rolle einnehmen werden. Das Modell geht von der Nutzung verschiedener Speichertechnologien von Batterie- über Wasser-Pump- und Druckluft- bis hin zu Wärmespeichern aus. Schon 2035 können 90 % des Strombedarfs aus erneuerbaren Energiequellen gedeckt werden. Eine weitere Kostendegression für die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen und für die Speichertechnologien wird angenommen.
Kosteneffiziente technologische Lösungen für den Beginn der Transformation stehen aber auch heute in der modernen Welt schon ausreichend zur Verfügung. Die größere Herausforderung scheinen regulatorische und politische Hindernisse, die dem Durchbruch von Effizienztechnologien und erneuerbaren Energieträgern im Weg stehen.
Nationale Klimaschutzziele und die Energiestrategie 2035
Die Energiestrategie der Ukraine bis 2035, die im August 2017 vom Kabinett beschlossen wurde, beschreibt und beklagt zwar die große Ineffizienz der heutigen Energieinfrastruktur und erkennt einen dringenden Bedarf für eine Modernisierung. Pro Einheit des generierten Bruttoinlandsprodukts (BIP) wendet die Ukraine derzeit 3–4 mal mehr Energie auf als der Durchschnitt der EU-Länder und die Ukraine ist damit eine der energieintensivsten Volkswirtschaften Europas. Die Zielwerte der Energiestrategie für die Steigerung der Energieeffizienz scheinen jedoch eher unambitioniert. Laut dem Dokument soll die Ukraine selbst bis 2035 die heutige Energieintensität von Polen oder der Slowakei nicht erreichen. Die Ukraine verbliebe technologisch rückständig und energieverschwenderisch.
Der »National Energy Efficiency Action Plan 2020« beziffert für die Periode 2015–2020 den (nicht nur staatlichen) Investitionsbedarf für Energieeffizienzmaßnahmen auf 35 Mrd. Euro bzw. 7 Mrd. Euro pro Jahr, um den Endenergieverbrauch um 9 % gegenüber dem durchschnittlichen Niveau der Jahre 2005 – 2009 zu reduzieren und die Energieinfrastruktur und den Gebäudebestand signifikant zu modernisieren. De facto wurden aus dem Staatshaushalt 2017 lediglich 26 Mio. Euro explizit für die Verbesserung von Energieeffizienz aufgewendet. Dies zeigt die nach wie vor zu geringe Priorität, die dem Thema eingeräumt wird, auch wenn inzwischen der ursprünglich ähnlich gering angesetzte Budgetposten für 2018 deutlich erhöht werden konnte. Die Erreichbarkeit der Energieeinsparziele bis 2020 bleibt fraglich.
Nach Expertenschätzungen liegen allein im Wohnungswesen realistische Einsparpotenziale im Gegenwert von 11 Mrd. m3 Erdgas bzw. 2 Mrd. Euro/Jahr. Neben der durch den Verzicht auf Importe steigenden Energiesicherheit stellen derartige Energieeffizienzinvestitionen erhebliche Anreize für die heimische Wirtschaft dar und stimulieren private Investitionen in der Bauwirtschaft, Anlagenbau und Installation. Viele Jobs können so geschaffen und neue Steuereinnahmen generiert werden. Staatliche Anreizsetzung in diesem Bereich zahlt sich für das Land aus und reduziert den Mittelabfluss für Rohstoffimporte.
Die in der Energiestrategie fehlenden absoluten Ziele für Energieeinsparungen in der Perspektive bis 2035 werden mit der Unsicherheit der Prognosen im Kontext der Besetzung von Landesteilen gerechtfertigt
Laut der der Energiestrategie zugrundeliegenden Prognose wird unter der Bedingung der Wiedereingliederung der Krim und des heute besetzten Donbass eine Steigerung des Energieverbrauchs der Ukraine um 6,5 % verglichen mit dem Durchschnitt der Jahre 2010–2012 vorhergesagt. Die Struktur der Energiequellen bleibt bis auf den auf Kosten der Kohle steigenden Anteil erneuerbarer Energien nahezu unverändert und die Abhängigkeit von zu einem erheblichen Teil importierten fossilen Rohstoffen bliebe substanziell auch über 2035 hinaus bestehen.
Während die Energiestrategie für das Jahr 2035 einen Anteil erneuerbarer Energieträger von 25 % am Endenergieverbrauch anpeilt, können im Vergleich dazu in der Studie des Instituts für Wirtschaft und Prognose Kiew zu diesem Zeitpunkt schon 40 % erreicht werden, wobei in der Studie aufgrund umgesetzter Effizienzmaßnahmen der Energiebedarf absolut um 28 % niedriger ausfällt. Viel größer ist die Diskrepanz, wenn allein der Stromsektor betrachtet wird. Die Lapeenranta Universität hält im Jahr 2035 einen 90%igen Anteil von erneuerbarem Strom für möglich, das Kiewer Institut rechnet mit 63 %, die offizielle ukrainische Energiestrategie aber nur mit 25 %, was angesichts der derzeitigen globalen Trends und der schon jetzt niedrigen Kosten für Wind und Solar ein wirklich sehr geringer Wert ist.
Die fehlende Ambition und Inkonsistenz der Energiestrategie wird am offensichtlichsten in den irreführenden Zielen bezüglich der Reduzierung von Treibhausgasemissionen. Im Jahr 2012 betrugen diese lediglich 42,6 % des Niveaus von 1990, das global i. d. R. als Basisjahr verwendet wird. Die Energiestrategie setzt als Ziel jedoch 50 %, was also praktisch einer Erhöhung der Emissionen gegenüber 2012 gleichkäme. Selbst im theoretischen »konservativen« Szenario des Kiewer Instituts, das für den Zeitraum weder Energieeffizienzmaßnahmen noch einen steigenden Anteil erneuerbarer Energien annimmt, würden trotz Wirtschaftswachstums die Emissionen nur auf 56 % des 1990er Niveaus ansteigen. Im jährlichen Ranking des »Climate Action Tracker« (CAT) landete die Ukraine damit prompt auf dem letzten Platz bezüglich der gesetzten Klimaschutzziele.
Nach dem »revolutionären« Szenario des Kiewer Instituts kann das Emissionsniveau dagegen bis 2030 schon auf 28 % und bis 2050 sogar auf nur noch 10 % des Niveaus von 1990 gesenkt werden. Dies zeigt die dringende Notwendigkeit, hier ein realistisches Ziel zu formulieren und beim 2018 anstehenden »Review« der Ziele im Rahmen des Pariser Klimaabkommens einzureichen. Die erste Zielsetzung der Ukraine in diesem Prozess im Jahr 2015 war sogar noch schwächer und lag bei 60 % des 1990er Niveaus. Ambitioniertere Ziele würden hier das nötige Umfeld für innovative Firmen und Investitionen in die »grüne« Modernisierung schaffen.
Politik für eine Transformation des Energiesektors
Wie beschrieben gibt es viele Gründe für eine Ausrichtung der Energiepolitik auf die Ziele der Energieeffizienz und des Umstiegs auf erneuerbare Ressourcen. Klimaschutz ist nur ein Teil des Nutzens eines solchen Wandels. Eine hohe Energieintensität der Volkswirtschaft ist nicht nur ein Wettbewerbsnachteil und ein Merkmal technologischer Rückständigkeit, sondern ist ein Risiko für die Energiesicherheit des Landes und führt aufgrund von notwendigen Importen der Energieträger zu Abfluss von Kapital aus dem Land. Die Fortsetzung eines ›Business as Usual‹ würde diese Probleme nur verstärken. Die Investitionen in die Modernisierung des Energiesektors werden die Entwicklung für einige Jahrzehnte prägen. Daher ist eine langfristige und auch über 2035 hinausgehende Betrachtung von Zielsetzungen erforderlich.
Ein weiterer Aspekt ist die erhebliche Umweltverschmutzung, die von den tragenden Säulen des derzeitigen Systems ausgeht. Aufgrund der starken Abhängigkeit von der Kohle im Stromsektor, schlechter Kraftstoffqualität im Transportsektor und des Mangels an wirksamer Umweltregulierung für Industrie und Kraftwerke ist die Luft in einigen Städten der Ukraine schlechter als überall sonst in Europa und die damit zusammenhängenden Krankheits- und Sterberaten sind extrem hoch. Die wirklichen sozialen und ökonomischen Kosten der Verschmutzung von Luft, Wasser und Böden sind wegen des Mangels an systematischer Forschung zu diesen Themen weitgehend unbekannt. Begründete Schätzungen gehen von mehr als 9 Mrd. Euro/ Jahr Folgekosten allein des Stromsektors der Ukraine aus.
Nicht zuletzt verlangen auch die ukrainischen Ambitionen auf eine weitere Annäherung an die EU die Einhaltung von Emissionsstandards, die Förderung von Energieeffizienz und Zugang erneuerbarer Energien zu liberalisierten Stromnetzen und Märkten sowie die Verringerung der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern. Wenn die Ukraine voran schreiten möchte mit dem Aufbau einer modernen postindustriellen Volkswirtschaft, dann sollte die Entwicklung von wissensintensiver und sauberer Produktion und Innovation zu einer echten politischen Priorität werden, die konsistent von allen Ebenen von Politik und Verwaltung unterstützt wird.
Einzelne führende Beamte erkennen bereits die Notwendigkeit eines solchen Kurses der Ukraine, aber es gibt noch keine klare Position der Regierung insgesamt oder auch nur einzelner politischer Gruppen oder Fraktionen, die sich damit profilieren wollten. Als positiv bemerkenswert kann hier die Rede des Ministers für Umwelt und natürliche Rohstoffe der Ukraine, Ostap Semerak, im Juni 2017 auf der Tagung »Clean Energy for a Sustainable Future« in Wien angeführt werden, in der er die Bereitschaft der Ukraine unterstrich, Teil der globalen Bemühungen gegen den Klimawandel zu werden und die Notwendigkeit eines »grünen« Politikwechsels auf Basis von Effizienz und Erneuerbaren anerkannte.
Gleichzeitig demonstriert das entscheidendere Ministerium für Energie und Kohleindustrie der Ukraine sein weitgehend fehlendes Bewusstsein für die Problematik. Anstatt globale Trends und eine langfristige Energiewende-Vision konzeptionell aufzugreifen, entwickelt das Ministerium Strategien zur Erhöhung der einheimischen Kohleproduktion durch eine Reorganisation der bislang noch im Staatsbesitz befindlichen Bergwerke in Richtung einer »Nationalen Kohle-Gesellschaft«. Wie das Ministerium erklärt, sollen zunächst defizitäre Bergwerke geschlossen, potenziell profitable dagegen mit staatlicher Unterstützung modernisiert und danach privatisiert werden. Mit einem solchen Verfahren würden erneut soziale und ökologische Kosten der Kohlewirtschaft vergesellschaftet und von den Unternehmen auf die betroffenen Kommunen abgewälzt, während Gewinne privatisiert würden. Das vom Ministerium angestrebte Ergebnis, nämlich die Schaffung eines zweiten großen Kohle- und Energiekonzerns in der Ukraine, könnte eher zu neuen Marktverzerrungen führen anstatt eine De-Monopolisierung und einen sozial gerechten Strukturwandel zu ermöglichen und zu gestalten. Das Ministerium hat es bislang nicht geschafft, wirksame Anreize und Finanzierungsinstrumente für die Betreiber der Kohlekraftwerke, deren Durchschnittsalter schon die Marke von 45 Jahren überschreitet, zu kreieren und Maßnahmen zur substanziellen Reduzierung der höchst gesundheitsschädlichen Staub-, Schwefel- und Stickoxidemissionen einzuleiten. Ein Hindernis ist das Fehlen einer klaren Perspektive für einzelne Standorte, die auch nach der geplanten Synchronisierung mit dem europäischen ENTSO-E-Netz mittelfristig weiterbetrieben werden sollen bzw. müssen.
Die Umsetzung des Nationalen Emissions-Reduzierungs-Plans (NERP) in Bezug auf die wichtigsten Schadstoffe aus großen Verbrennungsanlagen mit einer Leistung von mehr als 50 MW ist eine der entscheidenden Verpflichtungen der Ukraine aus ihrer Mitgliedschaft in der Europäischen Energiegemeinschaft. Mittelfristig können die schädlichen Emissionen damit um die Hälfte reduziert werden. Ein verbindlicher Zeitplan für die schrittweise Reduzierung der Kohlenutzung gäbe allen Seiten genügend Investitionssicherheit. Der Vertrag der Europäischen Energiegemeinschaft ist neben dem EU-Assoziierungsabkommen der wichtigste Treiber für die Reformen im gesamten Energiesektor der Ukraine – obwohl auch hier bereits erhebliche Verzögerungen eingetreten sind. Die EU und das Sekretariat der Energiegemeinschaft bieten konstruktive Unterstützung bei der Entwicklung eines konsistenten Reformwegs in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung an.
In der politisch-administrativen Praxis stellt sich die Koordinierung verschiedener Sektorprogramme in Verantwortung unterschiedlicher Ministerien als Schwierigkeit dar. Ziele und Umsetzungsstrategien müssen harmonisiert werden, Behörden besser miteinander kooperieren. Die beiden vorgestellten Energiewende-Studien bieten gute Orientierung für mögliche Leitlinien und systemische Wechselbeziehungen auch zwischen Sektoren. Sie können jedoch nur ein Beginn für einen längeren Prozess sein, der viele Ideen, Kreativität und Ausdauer zur Entwicklung passgenauer Strategien für einzelne Sektoren erfordert. Gerade in Fragen der möglichen Kopplungen zwischen dem Stromsektor auf der einen und dem Wärme- und Transportsektor auf der anderen Seite stecken vermutlich noch weitere ökonomische Potenziale eines auf erneuerbaren Energieträgern basierenden Systems.
Das Ziel des Nationalen Aktionsplans für Erneuerbare Energien, bis 2020 einen Anteil der Erneuerbaren am Primärenergieverbrauch in Höhe von 11 % zu erreichen, ist nach Ansicht einiger Expert/innen inzwischen schon kaum noch realistisch. 9 % gelten hier als realistische Größe. Dennoch kann die Ukraine mit der richtigen Rahmensetzung schnell aufholen, so dass das Ziel von 19 % bis 2025 im »revolutionären« Szenario noch realistisch scheint.
Wichtiger als die Diskussion über einzelne Prozentpunkte in der ferneren Zukunft sind die mehr oder weniger offensichtlichen nötigen ersten Schritte, wie die Schaffung eines stabilen regulatorischen Rahmens mit einer verlässlichen politischen Unterstützung des Transformationsweges, so dass Investoren Vertrauen gewinnen und Kapital bereitgestellt und heimische Kapazitäten sowohl in der Produktion als auch für nötige Dienstleistungen im Sektor weiter aufgebaut werden können. Damit eng verbunden ist die Notwendigkeit eines diskriminierungsfreien Strommarktes mit wettbewerblichen Bedingungen und die Schaffung einer unabhängigen und kompetenten Regulierungsbehörde, die ggf. auf Missbrauch von Marktmacht wirksam reagieren kann.
In vielen Fällen insbesondere im Wärmesektor ist es preiswerter, den Energieverbrauch durch Investitionen in Effizienztechnik zu verringern als neue Erzeugungskapazitäten zu bauen. Dies entspricht nur zuweilen nicht der Geschäftslogik der Energieunternehmen und bedarf einer bewussten politischen Steuerung. Ferner sollte im Grundsatz eine Dezentralisierung der Versorgung verfolgt werden. So können an lokale Verbraucher angepasste Lösungen mit guter Integrierbarkeit der dezentralen erneuerbaren Stromerzeugung verfolgt werden. Private Verbraucher, lokale Genossenschaften und kleine Unternehmen sollten rechtlich die Möglichkeit erhalten, sich selbst und lokale Netze mit Strom und Wärme zu versorgen. Eine solche Politik stärkt sowohl die Akzeptanz für die Energiewende als auch den Wettbewerb und die Sicherheit der Versorgung und eröffnet ökonomische Perspektiven auch in peripheren Gebieten.
Als kritischer Faktor für schnelle Erfolge eines solchen Reformweges kann der notwendige politische Gestaltungswille und die Bildung einer breiten Akteurskoalition gelten, die konstruktiv am Projekt mitwirkt. Dabei ist unwahrscheinlich, dass die Regierung den aktivsten Part einnehmen wird. Vielmehr braucht es parallel eine kundige Öffentlichkeit, progressive Unternehmer/innen, beispielgebende Kommunen und Bürgermeister/innen sowie internationale Unterstützung. Global betrachtet hat diese Transformation längst begonnen. Technologische Innovationen und Digitalisierung lassen für die nächsten Jahre eine starke Dynamik der Prozesse erwarten, mit großen Chancen auch für Länder, die vielleicht bisher nicht zu den »Spitzenreitern« der Entwicklung zählten. Längerfristige Visionen, wie sie die beiden hier vorgestellten Studien entwickeln, sind nicht als Zukunftsprognose zu verstehen, sondern sie helfen dem Land den Horizont für eine konstruktive Diskussion über das anzustrebende Entwicklungsmodell zu führen.
Übersetzung aus dem Englischen: Robert Sperfeld