Einleitung
Im Mai 2017 berichteten die Medien über eine Auseinandersetzung zwischen der Ukraine und Russland in Bezug auf die nationale Herkunft der mittelalterlichen historischen Figur Anna Jaroslawna. Bei einer Pressekonferenz mit dem französischen Präsidenten sagte der russische Präsident Wladimir Putin, die russische Anna sei der gebildeten französischen Bevölkerung als Königin von Frankreich bekannt. Sie sei eine Tochter des russischen Großfürsten Jaroslaw der Weise und Frau des französischen Königs Heinrich der Erste gewesen. Als solche habe sie enorm zur Entwicklung Frankreichs beigetragen, so Putin. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko reagierte darauf und verteidigte die Sicht, dass die genannte französische Königin Tochter des ukrainischen Fürsten Jaroslaw der Weise und damit ukrainischer Herkunft gewesen sei.
Die Erzeugung einer solchen historischen Kontinuität der Nation ist eines der Hauptmerkmale nationaler Identitätskonstruktion in postsowjetischen Ländern, einschließlich der Ukraine. Als junger Nationalstaat, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 entstanden ist, hat sich die Ukraine intensiv mit der Schaffung einer nationalen Identität, die die heutige ukrainische nationale Gemeinschaft legitimieren kann, beschäftigt. Das Schreiben einer Nationalgeschichte wurde zum Fundament der nationalen Identitätskonstruktion in der Ukraine. Die besondere Form der ukrainischen Nationalgeschichtsschreibung wird in diesem Beitrag am Beispiel des Lehrbuchs für das Schulfach Geschichte Vstup do Istoriï Ukraïny (Einführung in die Geschichte der Ukraine) von Wiktor Mysan, das 2010 im Henesa-Verlag in Kiew erschienen ist, untersucht. Gemeinsam mit einigen anderen relativ neuen Lehrbüchern wurde dieses Buch vom Bildungsministerium der Ukraine für den Gebrauch an ukrainischen Schulen in der fünften Klasse (für Schüler im Alter von zehn bis elf Jahren) für das Schuljahr 2015/2016 empfohlen. Es präsentiert eine komprimierte Darstellung der ukrainischen Geschichte, die in den folgenden Klassenstufen im Fach »Geschichte der Ukraine« gelehrt wird.
Der vorliegende Beitrag betont die subjektive und politische Beschaffenheit des Prozesses der Nationalgeschichtsschreibung. Lehrbücher im Fach Geschichte kann man als Artefakte betrachten, die von Historikern – den Lehrbuchautoren – im Auftrag des Staates geschaffen werden. Insofern bieten Schulbuchautoren eine bestimmte Interpretation der gelebten Erfahrungen einer nationalen Gemeinschaft an. Schreibend im Dienste der Nation, wählen die Lehrbuchautoren historische Ereignisse aus, die als relevant für die Nation betrachtet werden, und sie teilen bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder Individuen in nationale Helden und ausländische Schurken ein. Die Geschichte einer nationalen Gemeinschaft wird meist als Handlungsverlauf erzählt. Es wird beschrieben, was die Mitglieder einer Nation auf einem bestimmten Territorium zu einem bestimmten Zeitpunkt gemacht haben. Die ausgewählten Ereignisse und ihre Interpretation durch die Autoren vermitteln den jungen Lesern ein Gefühl nationaler Zugehörigkeit.
Techniken der Nationalgeschichtsschreibung
Im analysierten Lehrbuch verwendet der Autor folgende Techniken, um die Geschichte des ukrainischen Volkes zu erzählen: Zunächst ist der Hauptakteur des verwendeten Narrativs die ukrainische Nation. Die Ukrainer werden als eine nationale Kollektivität – als »ukrainische Nation/Bevölkerung/Menschen« (narod/naselennja/ljudy) – dargestellt, die lange Zeit auf »ukrainischem Boden/Territorium« (zemli/terytoriï) existiert habe. Die ukrainische Nation sei zu verschiedenen Zeiten in staatsähnlichen Gemeinwesen organisiert gewesen, so die Darstellung. Mittelalterliche Fürsten, Kosakenführer, ukrainische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts und ähnliche Figuren stellen die Repräsentanten der Nation dar und fungieren als Hauptträger des ukrainischen Nationalbewusstseins. Sie alle sind als aufklärerische und bildende Kräfte porträtiert, die damit befasst waren, das Gefühl nationaler Zugehörigkeit bei sozial schwächeren Schichten der ukrainischen Bevölkerung zu fördern. Insofern konzentriert sich der Autor auf die große Politik statt auf gewöhnliche Menschen. Das heißt allerdings nicht, dass der Alltag der ukrainischen Bevölkerung nicht angesprochen wird. Dieses Thema wird erörtert, allerdings eher in Form von Zusatzinformationen zum tragenden Narrativ der ukrainischen Nationalstaatlichkeit. Kulturelle Aspekte der einzelnen Epochen werden im Lehrbuch in separaten Kapiteln präsentiert.
Die ausgewählten Repräsentanten der ukrainischen Nation sind als Streiter für eine ukrainische Staatlichkeit dargestellt. So stellt der Autor der jungen ukrainischen Generation den Kanon der aktuellen ukrainischen Nationalhelden vor, von denen die meisten männlich sind. Tatsächlich sind von den etwa 45 ukrainischen historischen Figuren, die im Lehrbuch erwähnt werden, nur sieben weiblich. Die nationalen Helden werden im Lehrbuch als monolithische Figuren präsentiert, und sie werden zumeist in einem Atemzug mit Eigenschaften wie Freiheitsliebe, Anerkennung von gleichen sozialen und politischen Rechten, Solidarität mit anderen Mitgliedern der ukrainischen Gemeinschaft und Förderung der ukrainischen Kultur und Sprache genannt. Außerdem wird ihnen entweder eine wichtige Rolle bei der Verteidigung der ukrainischen Nation gegen ihre Feinde in militärischen Auseinandersetzungen zugeschrieben, oder beim Widerstand gegen Fremdherrschaft mithilfe literarischer oder künstlerischer Werke. Fürst Jaroslaw der Weise, Großfürst der Kiewer Rus, zum Beispiel wird als kluge ukrainische Führungspersönlichkeit dargestellt, welche die erste Gesetzessammlung erlassen und städtischen Bau in Kiew gefördert habe. Fürst Danylo vom Fürstentum Galizien-Wolynien wird als großer Modernisierer porträtiert, da er neue Städte gegründet und die Armee modernisiert habe. Eine ähnliche Ansicht vertritt der Autor in Bezug auf die ukrainischen Kosaken der Saporoscher Sitsch, die als Verfechter von Prinzipien wie Brüderlichkeit und Gleichheit präsentiert werden. Die ukrainischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts (Iwan Kotljarewskyj, Taras Schewtschenko, Wolodymyr Antonowytsch, Lesja Ukrajinka, Iwan Franko, um nur einige zu nennen) werden ebenfalls als Träger eines ukrainischen Nationalbewusstseins porträtiert. Während der Autor ausführlich von den Ereignissen und historischen Figuren der Kiewer Rus und der Zeit der Kosaken erzählt, widmet er nur 30 der 175 Seiten des Lehrbuchs der Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Der Fokus auf die ukrainische Nation geht einher mit einer Gegenüberstellung anderer nationaler Gruppen, die als das ukrainische »Andere« dargestellt werden. Teilweise wird beschrieben, wie Ukrainer gegen Mongolen, Türken, Tataren, Polen, Ungarn oder Russen für eine ukrainische Staatlichkeit gekämpft haben, während an anderen Stellen einige dieser Nationen als Verbündete präsentiert werden. Gleichzeitig stellt der Autor die Ähnlichkeit zwischen Ukrainern und anderen (supra)nationalen Gemeinschaften heraus. Die ukrainische Nation wird zum Beispiel als eine europäische und orthodoxe christliche Nation dargestellt. Der Autor betont an vielen Stellen die Verbindung von Ukrainern zu Europa, besonders in Bezug auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit. So vertritt er zum Beispiel die These, dass die Einführung des Christentums eine Verbundenheit zwischen den europäischen Ländern und der Kiewer Rus hergestellt habe. Außerdem wird den ukrainischen Kosaken ein europäischer Führungsstil und eine europaweite Bekanntheit – als begabte Heerführer – zugeschrieben.
Zweitens vermittelt der Autor den Eindruck einer historischen Kontinuität der ukrainischen Nation. Diese historische Kontinuität wird den jungen Lesern über die Darstellung dessen vermittelt, was dem ukrainischen Volk in konkreten staatsähnlichen Formationen, die in der Vergangenheit auf dem Territorium der heutigen Ukraine existierten, widerfahren sei. Die Entwicklung der ukrainischen Staatlichkeit wird in Phasen präsentiert, in denen im Laufe der Zeit verschiedene politische Einheiten entstanden seien und sich dann wieder aufgelöst hätten: Slawische Siedlungen (4. bis 8. Jahrhundert), die Kiewer Rus (9. bis 13. Jahrhundert), Galizien-Wolhynien (13. und 14. Jahrhundert), die ukrainischen Territorien in Litauen und Polen (14. bis 16. Jahrhundert), die Saporoscher Sitsch (16. und 17. Jahrhundert), der Kosakenstaat (17. und 18. Jahrhundert), die ukrainischen Territorien in Österreich-Ungarn und im Russischen Reich (19. Jahrhundert), die Ukrainische Volksrepublik (20. Jahrhundert), die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (20. Jahrhundert) und die unabhängige Ukraine (20. und 21. Jahrhundert). Diese Periodisierung der ukrainischen Nationalstaatlichkeit scheint einen engen Bezug zur nationalen Mythologie zu haben, die vom ukrainischen Historiker Mychajlo Hruschewskyj im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vertreten wurde.
Bei der Beschreibung der Phasen, in denen die Ausbildung eines ukrainischen Staates von Fremdherrschaft unterbrochen war (zum Beispiel durch Polen-Litauen, Österreich-Ungarn oder das Russische Reich), konzentriert sich der Autor auf die ukrainische Bevölkerung in jenen Territorien und betont so eine Kontinuität der ukrainischen Nationalstaatlichkeit. So kann er diese Zeiten der Fremdherrschaft als Kampf der Ukrainer um ihr nationales Überleben interpretieren. Geschichten von Ukrainern, die in Polen-Litauen für die orthodoxe Kirche oder im Russischen Reich für die ukrainische Sprache gekämpft haben, sind Beispiele dafür. Das Gleiche gilt für Textstellen, an denen ukrainische staatliche Strukturen als begrenzt autonom dargestellt werden. In dieser Beziehung besonders ambivalent ist die Darstellung der linksufrigen Ukraine unter Kontrolle des Russischen Reiches und der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik als Teil der Sowjetunion.
An anderen Stellen allerdings präsentiert der Autor die Kiewer Rus, den Kosakenstaat und die Ukrainische Volksrepublik als frühe ukrainische Nationalstaaten. Der Autor beschreibt detailliert ihre staatsähnlichen Strukturen mit einem Fokus auf Institutionen wie Führung, vom Volk gewählte Versammlungen, staatliche Währungen und Hauptstädte. Diese Staaten – als Vorläufer des heutigen ukrainischen Nationalstaates dargestellt – werden durch drei Hauptentwicklungsphasen charakterisiert: die Gründung eines ukrainischen Protostaates (Mobilisierung der Bevölkerung und Kampf um Einheit), sein »Goldenes Zeitalter« (Blüte der ukrainischen Sprache und Kultur) und sein Niedergang (Zerstörung des Ukrainischen Protostaates durch fremde Mächte). Die Geschichte der Kiewer Rus beginnt der Autor zum Beispiel mit einer Beschreibung der Mobilisierung slawischer Stämme bei der Staatsbildung. Er fährt fort mit einer Beschreibung des prosperierenden Staates unter den Fürsten der Kiewer Rus und endet mit einer Darstellung des durch territoriale Desintegration und den Machtkampf zwischen den Söhnen des letzten Herrschers der Kiewer Rus verursachten Niedergangs des Staates. Ähnlich beginnt die Geschichte des Kosakenstaates mit der Gründung von Kosakensiedlungen im Süden der Ukraine. Dem folgt der Kampf der Kosaken und des ukrainischen Volkes um die nationale Loslösung von Polen. Nach dem Sieg, so der Autor, sei der Kosakenstaat gegründet worden, der nach einer gewissen Zeit der Blüte seine Souveränität schließlich an polnische und russische Herrscher verloren habe.
Drittens unterstützt auch die Textstruktur des Lehrbuchs das Narrativ der ukrainischen Nationalstaatlichkeit. Während der Autor die Geschichte des ukrainischen Volkes erzählt, folgt er einer linearen – chronologischen – Struktur. Dieser Ansatz verhindert ein Nebeneinander kontroverser Standpunkte zur ukrainischen Geschichte, was das Einbeziehen von Quellen erschwert, die verschiedene Standpunkte zu einem bestimmten historischen Ereignis oder einer bestimmten historischen Figur artikulieren könnten. Somit hinterlässt das Lehrbuch den Eindruck, dass die Geschichte der ukrainischen Nation kanonisch ist und nicht hinterfragt werden sollte. Auch die Anordnung von Auszügen aus historischen Quellen (zum Beispiel Chroniken) folgt dieser Logik. Die Fragen, die den jungen Lesern am Ende jedes Unterkapitels des Lehrbuchs gestellt werden, sind zweierlei Art. Manche sind ergebnisoffen gestellt und regen die Schüler dazu an, eigene Antworten zu finden, während andere auf die Reproduktion der Informationen zielen, die in den vorangestellten Unterkapiteln geliefert werden. In letzteren Fragen werden die jungen Leute explizit dazu aufgefordert, die Antworten aus dem Lehrbuch herauszusuchen.
Die Illustrationen flankieren das Narrativ von der ukrainischen Nation lediglich und regen nicht zu Diskussionen an. Die Geschichte der ukrainischen Nation wird etwa mit reproduzierten Gemälden von ukrainischen Fürsten und Kosaken oder auch mit Fotografien von ukrainischen politischen Führungspersönlichkeiten oder Schriftstellern, Bauern, Schulkindern und von Militäreinheiten in ukrainischen Gebieten illustriert. Auch Bilder von historischen Gebäuden, Kathedralen, Kirchen, Festungen und Denkmälern auf dem Gebiet der heutigen Ukraine kommen vor. Das Lehrbuch enthält außerdem eine große Anzahl von Karten, die die ukrainischen Gebiete zu verschiedenen Zeiten zeigen und das im Lehrbuch verwendete Narrativ der ukrainischen Nation stützen.
Fazit
Am Beispiel eines ukrainischen Geschichtslehrbuchs für den Schulunterricht hat dieser Beitrag versucht zu zeigen, dass Geschichtslehrbücher ein Genre der Nationalgeschichtsschreibung und -lehre sind. Das untersuchte Lehrbuch verfolgt im Wesentlichen einen traditionellen Ansatz der Nationalgeschichtsschreibung, der sich unter anderem durch folgende Merkmale auszeichnet: Konzentration auf die ethnisch homogene Nation als der wesentlichen Form gesellschaftlicher Selbstorganisation, Betonung der Entstehung der Nation und ihrer Kontinuität, große Bedeutung eines nationalen Raumes sowie Einteilung historischer Figuren in Nationalhelden und ausländische Schurken. Eine solche Form der Geschichtsschreibung ist nicht geeignet, um die Vielzahl der gelebten Erfahrungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, die in der heutigen Ukraine leben, aufzuzeigen. Außerdem hinkt das Lehrbuch als Lehr- und Lernmedium des Geschichtsunterrichts in mancher Beziehung auch dem sich vollziehenden Wandel von einem lehrerorientierten zu einem schülerorientierten Unterricht hinterher. Der Autor problematisiert die verschiedenen Facetten der ukrainischen Geschichte nicht, sondern stellt objektiv klingende Behauptungen auf. So bietet das Buch der jungen Generation nur sehr beschränkte Möglichkeiten, kontroverse Aspekte der ukrainischen Geschichte zu diskutieren und auf diese Art und Weise heute die zentralen Werte der ukrainischen Nation mitzuprägen.
Man könnte argumentieren, dass der Autor diese Form des historischen Erzählens verwendet hat, um die kognitiven Bedürfnisse von Fünftklässlern zu berücksichtigen. Schließlich ist ein Geschichtslehrbuch ein Instrument, das es Lehrern erleichtern soll, Schulkindern historisches Wissen altersgemäß zu vermitteln. Und doch wurden schon andere, neue Formen ukrainischer Geschichtsschreibung und -vermittlung entworfen, zum Beispiel in einem 2007 bis 2009 von einer Arbeitsgruppe ukrainischer Historiker im Auftrag der Regierung verfassten Bericht, zum Beispiel im vom Allukrainischen Verband der Geschichts- und Sozialkundelehrer »Nowa Doba« entwickelten Material oder auch in Veröffentlichungen westlicher und ukrainischer Wissenschaftler. Sie schlagen vor, den Fokus der Nationalgeschichtsschreibung vom Staat auf Individuen und gesellschaftliche Gruppen zu verlagern und die Vielfalt der kulturellen (ethnischen, sozialen, politischen, religiösen, geschlechtsspezifischen und anderen) Facetten der ukrainischen Gesellschaft zu untersuchen – oder aber einen transnationalen Ansatz der Geschichtsschreibung zu verfolgen.
Übersetzung aus dem Englischen: Katharina Hinz