Geschichte: Moskau war mehr als nur Geburtshelfer
Die ostukrainischen »Volksrepubliken« wurden am 7. April 2014 in Donezk bzw. am 27. April 2014 in Luhansk von örtlichen Aktivisten ausgerufen. In den Wochen zuvor hatten tausende prorussische Demonstranten in beiden Städten gegen die neue Regierung in Kiew und für einen Anschluss ihrer jeweiligen Gebiete (oblasti) an Russland demonstriert. Die Kundgebungen im Donbass hatten Anfang März begonnen (am 1. März in Donezk und am 2. März in Luhansk), zwei Tage nachdem die bewaffneten »grünen Männchen« auf der Krim die russische Annexion eingeläutet hatten.
Ukrainische Politiker und Journalisten werfen Russland vor, diese Kundgebungen initiiert und gesteuert zu haben. In Medienberichten hieß es, viele der Demonstranten seien aus Russland gekommen. Bereits am 3. März 2014 forderte der damalige Gouverneur von Donezk Serhij Taruta die Schließung der Grenze zu Russland, um »subversive Aktivitäten« ausländischer Bürger zu unterbinden (Taruta 2014).
Für eine gezielte Steuerung aus Russland spricht auch, dass es eine separatistische Bewegung solchen Ausmaßes in der Ostukraine bis dato nicht gegeben hatte. Die Anführer der Proteste waren bis dahin weitgehend unbekannt – einige von ihnen waren allerdings Jahre zuvor in Sommerlagern der Kremljugend am Seligersee in Russland gesehen worden (Bessonova 2015).
Verdächtig ist auch, dass die Proteste im Donbass nicht spontan mit dem Erfolg der Euromaidan-Revolution in Kiew begannen (Präsident Wiktor Janukowytsch war am 22. Februar geflohen), sondern erst eine Woche später, fast zeitgleich mit der militärischen Aktion auf der Krim. Am 28. Februar hatte Alexander Saldostanow (Spitzname »Chirurg«), Anführer der Motorradgang »Nachtwölfe« und Vertrauter von Russlands Präsident Wladimir Putin, den Beginn einer prorussischen Rallye durch die Ostukraine und die Krim angekündigt, die er »Russkaja vesna« (russischer Frühling) nannte.
»Russkaja vesna« wurde zum Markennamen der prorussischen Bewegung, die sich im Laufe des März um die »Volksgouverneure« Pawel Gubarew in Donezk und Waleri Bolotow in Luhansk formierte. Die Proteste blieben zunächst weitgehend friedlich, allerdings stürmten einige Teilnehmer mehrmals die Gebietsverwaltungen. Große Massenproteste wie auf dem Kiewer Maidan blieben aus; in der Millionenstadt Donezk wurden die Teilnehmer an der größten Demonstration am 2. März auf 4.000 geschätzt.
Am 6. April wurden die Proteste gewalttätig. Demonstranten in Luhansk nahmen das Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU ein, womit ihnen ein kleines Waffenarsenal in die Hände fiel. Am darauffolgenden Tag kündigte die neue Regierung in Kiew an, die Aufstände niederzuschlagen. Eine Woche später brachte ein offenbar aus Russland eingereistes Kommando unter dem russischen Geheimdienstagenten Igor Girkin (Deckname »Strelkow«) gewaltsam strategische Gebäude in den Städten Slowjansk und Kramatorsk unter seine Kontrolle.
Dieser Wandel resultierte möglicherweise aus dem mangelnden Erfolg der Proteste, die nicht, wie von manchen im Kreml erhofft, die nötige Legitimität für eine Annexion schufen: »Der folgende ›Bürgerkrieg‹ […] war wohl Moskaus Plan B. […] Ein improvisiertes Szenario, das sich spontan aus den zunächst unbewaffneten, aber gescheiterten Umsturzversuchen durch von Russland gesteuerte Aktivisten entwickelte«, schreibt etwa Ukraineexperte Andreas Umland (Umland 2016).
Hinweise auf Fremdbestimmtheit
Ihre Legitimität führen die »Volksrepubliken« auf sogenannte »Referenden« zurück, die am 11. Mai 2014 in Donezk und Luhansk zeitgleich abgehalten wurden – obwohl es zwischen den Separatisten beider Gebiete zuvor wenig bis gar keine Koordinierung gegeben hatte.
Die Abstimmungen, die wie zuvor das »Referendum« auf der Krim am 16. März ohne Zustimmung, geschweige denn Beteiligung der Kiewer Zentralregierung erfolgten, ergaben knapp 90 Prozent (Donezk) beziehungsweise 96 Prozent (Luhansk) Zustimmung für die »Volksrepubliken« und wurden vom Westen scharf kritisiert.
Ähnlich gut abgestimmte Wahlen wurden zeitgleich im November 2014 abgehalten, als die Anführer sowie Parlamente beider »Volksrepubliken« (mit großer Mehrheit) gewählt wurden, sowie im Oktober 2016, als sowohl Donezk als auch Luhansk »primaries« genannte Vorwahlen durchführten. In keiner der Abstimmungen waren Kritiker oder gar Gegner der Separatisten zugelassen.
Hinweise auf eine Koordinierung von außen, nämlich aus Russland, verdichteten sich nach dem Referendum im Mai, als plötzlich eine Reihe russischer Staatsbürger Führungsposten in den »Volksrepubliken« übernahmen: In Donezk wurde Alexander Borodai, ein Moskauer Politberater, »Premierminister«, der bereits erwähnte Girkin alias Strelkow wurde Verteidigungsminister. Im Juli kam noch der aus Transnistrien stammende Wladimir Antjufejew als Stellvertreter Borodais dazu.
In Luhansk wurde der russische Politologe Marat Baschirow »Premierminister« und Nikolai Kosizyn, ein einflussreicher Kosakenführer aus der russischen Region Rostow, wurde Feldkommandeur in der Stadt Antrazyt.
Doch bis Herbst 2014, als die ersten Friedensverhandlungen in Minsk stattfanden, wurden die »russischen Separatisten« einer nach dem anderen abgelöst. In Donezk mussten Borodai und der kompromisslose Girkin abtreten, in Luhansk traf es den einheimischen und äußerst selbstbewussten Bolotow. Noch im August wurden Alexander Sachartschenko in Donezk sowie Igor Plotnizki in Luhansk als Republikführer installiert.
Seitdem hat offenbar das von Moskau mitunterzeichnete Minsker Abkommen dafür gesorgt, dass es keinerlei offene Beziehungen zwischen Russland und den Volksrepubliken gibt. Mit dem Abkommen verpflichtete sich der Kreml, die territoriale Integrität der Ukraine zu respektieren und am Ziel einer friedlichen Reintegration der »bestimmten Gebiete der Regionen Donezk und Luhansk« genannten Separatistengebiete mitzuarbeiten.
Hoher Grad der Abhängigkeit
Dennoch gibt es nach wie vor wenige bis gar keine Anzeichen dafür, dass die »Volksrepubliken« eine von außen unabhängige eigenständige Politik machen. Das Leitmotiv aller politischen Handlungen, die aus Donezk und Luhansk nach außen dringen, ist stärkere Integration mit Russland. Meinungsverschiedenheiten sind zwar vorstellbar, da Moskau wegen seiner Minsker Verpflichtungen darauf nur bedingt eingeht (siehe oben), sind aber nicht vernehmbar.
Die Entwicklungen von 2017 haben dafür gesorgt, dass der Grad der wirtschaftlichen Abhängigkeit der »Volksrepubliken« von Russland weiter gestiegen ist. Als Folge der von der Ukraine verhängten Handelsblockade mussten die Betriebe innerhalb der Separatistengebiete Rohstofflieferanten und Absatzmärkte komplett neu beim östlichen Nachbarn suchen. Solange aber Russland die »Volksrepubliken« nicht anerkennt, können diese offiziell keine Industrieprodukte in das Land exportieren, weil Zertifizierungen fehlen.
Als Antwort auf die Blockade zwangen die Separatisten allen verbleibenden Betrieben eine »externe Verwaltung« mit von ihnen ernannten Personen auf. Diese faktische Enteignung hatte zum Ziel, die Steuerzahlungen der Unternehmen von der Ukraine an die »Volksrepubliken« umzuleiten. Ob dadurch deren Abhängigkeit von russischen Subventionszahlungen verringert werden konnte, ist aber unklar. Berichten zufolge stehen viele Betriebe seitdem still.
Anfang 2017 gingen die ukrainischen Behörden davon aus, dass knapp 82 Prozent der Haushaltsmittel der »Volksrepublik Luhansk« (9 von 11 Milliarden Rubel) aus Russland stammen. Insgesamt werden die laufenden russischen Subventionen zum Erhalt der »Volksrepubliken« auf mindestens 1 Milliarde Euro pro Jahr geschätzt – sie kommen aus dem als geheim eingestuften Teil des russischen Staatshaushalts (von Twickel 2018).
Auch militärisch müssen Donezk und Luhansk als mehr oder weniger vollständig von Russland abhängig gelten – auch wenn Putin die separatistischen Truppen 2015 berühmterweise als »ehemalige Traktoristen und Bergleute« bezeichnete. Während es 2014 und 2015 zahlreiche Berichte über die Teilnahme regulärer russischer Truppen an den Kämpfen in Ilowajsk und Debalzewe gab, gehen Experten davon aus, dass die Mehrzahl der militärischen Verbände derzeit aus Einheimischen besteht und dass russische Truppen dauerhaft vor allem als Ausbilder und Kommandeure auf ukrainischem Gebiet sind. Sehr wichtig sind wohl Nachschub und Logistik aus Russland – allein die seit 2014 verschossene Munition kann unmöglich aus dem Donbass stammen.
Keine Kontrolle ist perfekt
Während der Grad der Abhängigkeit der »Volksrepubliken« von Russland also deutlich über »gute Beziehungen zu einer Hegemonialmacht« hinausgeht, ist Moskaus Kontrolle alles andere als perfekt. Das wurde vor allem vor und während des »Putsches« in der »Volksrepublik Luhansk« im November 2017 sichtbar, als es dort zum offenen Machtkampf zwischen den Separatisten kam.
Hier musste Moskau Republikchef Plotnizki fallen lassen und Geheimdienstchef Leonid Passetschnik an die Macht lassen, nachdem klar wurde, dass niemand bereit war, für den langjährigen Kreml-Protegé auf die Straße zu gehen. Plotnizki ist seither verschwunden und befindet sich unbestätigten Berichten zufolge in Russland. Eine Rolle könnte auch gespielt haben, dass der neue starke Mann Passetschnik mächtige Fürsprecher im russischen Inlandsgeheimdienst FSB hat.
Dennoch spricht nicht viel dafür, dass Donezk und Luhansk bald wirkliche Eigenstaatlichkeit besitzen werden. Die Separatisten können sich kaum auf historische Wurzeln beziehen: Die Sowjetrepublik Donezk-Kriwoi Rog von 1918 hatte nur wenige Wochen Bestand und gilt manchen heute ebenfalls als Marionettenstaat. Dazu kommt, dass die jetzt herrschenden Eliten in den »Volksrepubliken« keine wirklichen Separatisten sind, sondern von einer Einheit mit Russland träumen.
Für Moskau ist die Situation von Nutzen, weil es weiter die Geschicke der »Volksrepubliken« bestimmen und die Konflikte in der Ukraine schüren kann, ohne dafür offiziell Verantwortung zu übernehmen – es tut weiter so, als sei es nur Mittelsmann in einem innerukrainischen Konflikt. Für die Akteure in Donezk und Luhansk ist die Situation von Nutzen, weil sie in einem praktisch rechtsfreien Raum ihren Ruf als »Banditenrepubliken« pflegen können.
Ausblick
Doch die Risiken liegen auf der Hand. Mit mindestens 2,5 Millionen Einwohnern sind die »Volksrepubliken« größer als alle anderen postsowjetischen Separatistengebiete zusammen. Anders als die von Georgien abtrünnigen Regionen Südossetien oder Abchasien genießen Donezk und Luhansk keine Unabhängigkeit, während sie 20 Jahre lang am Tropf des großen Bruders hängen. Die Subventionskosten sind in der russischen Regierung bereits jetzt umstritten. Sie drohen weiter zu wachsen, wenn es nicht gelingt, die Volksrepubliken wirtschaftlich mit Russland zu vereinen. Doch eine Anerkennung oder Annexion würde den brüchigen Friedensprozess vollends zerstören. Diese Zwickmühle ist womöglich der Schlüssel, um Russland zum Einlenken zu bewegen.