Die politischen Parteien vor dem Wahlmarathon 2019/2020

Von Miriam Kosmehl (Bertelsmann Stiftung, Berlin)

Zusammenfassung
Am 31. März 2019 wählen die Ukrainer den zweiten Präsidenten nach dem Euromaidan und wenige Monate später die Parlamentsabgeordneten der neunten Werchowna Rada seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991. 2020 folgen landesweit Kommunalwahlen. Die Präsidentschaftswahl wird die darauffolgenden Wahlen maßgeblich beeinflussen, vor allem die Parlamentswahl. Wer auch immer nächster Präsident wird, er wird in den folgenden Wahlkämpfen seine Mediendominanz nutzen. Die großen TV-Sender, die in der Ukraine die Meinungsbildung beeinflussen, gehören noch immer denselben alten Oligarchen, die mit ihren Sendern zwar rein betriebswirtschaftlich rote Zahlen schreiben, die aber politisch Einfluss nehmen und oft ihre milliardenschweren Interessen auf anderen Feldern befördern. Der vorliegende Beitrag stellt die politischen Parteien der Ukraine vor.

Auch fünf Jahre nach dem Euromaidan verdienen die politischen Parteien der Ukraine diesen Namen oft nicht, weil sie meist Instrument in den Händen einzelner Mächtiger sind, die eigene wirtschaftliche Interessen absichern oder durchsetzen wollen. In einem Land, in dem Eigentum weniger durch den Rechtsstaat als vor allem über Beziehungen geschützt wird, sind Einfluss und ein Platz in der Politik – sprich in Regierung oder Parlamenten auf allen Ebenen – eine teure doch wirkungsmächtige Investition. Vor den landesweiten Kommunalwahlen 2015 etwa starteten Geschäftsleute eine Vielzahl lokaler politischer Projekte. 141 Parteien traten an – wie man zum Beispiel der offiziellen Seite der Zentralen Wahlkommission entnehmen kann (<http://www.cvk.gov.ua/pls/vm2015/PVM109?PT001F01=100>).

Insgesamt gibt es über 300 politische Parteien in der Ukraine. Größtenteils sind sie nicht aktiv, werden aber bei Bedarf als Hülle verkauft, um zügig ein politisches Projekt zu verwirklichen. Bei Wahlen sind sie nützlich, wenn sie Mitglieder von Wahlkommissionen stellen dürfen. Diese Plätze sind mitunter ein wertvolles Gut, wenn wirtschaftliche und politische Interessen eng verflochten sind.

Nachfolgeparteien der Partei der Regionen des ehemaligen Präsidenten Janukowytsch

Nach dem Euromaidan vertraten zunächst folgende Parteien das frühere Regierungslager: der Oppositionsblock, Nachfolger der Partei der Regionen, die Partei Starke Ukraine von Serhij Tihipko und die Kommunistische Partei der Ukraine (inzwischen durch die Dekommunisierungsgesetze verboten). In die nächste Rada dürfte allein der Oppositionsblock einziehen. Das heißt freilich nicht, dass sich mit der Parteienlandschaft auch die Politik maßgeblich verändert hätte.

Neue Parteien mit alten Gesichtern

Seit 2014 gibt es zwar viele neue Parteien – doch mit altgedienten Politikern. Im Verlauf des Euromaidan schlossen sie sich den Vertretern der Zivilgesellschaft an, die die Proteste zunächst organisierten (es hatte 2013 zuerst zwei Protestorte gegeben: den der Zivilgesellschaft am Platz der Unabhängigkeit und den der damaligen Oppositionspolitiker auf dem Europaplatz). Nur eine einzige der heute im Parlament vertretenen Parteien, die 1999 registrierte Partei Vaterland, war bereits im Vorgängerparlament vertreten. Parteichefin Julia Timoschenko sprang gerade noch rechtzeitig auf den Postmaidan-Zug auf, und die Partei schaffte es knapp über die Fünfprozenthürde (zu den Wahlergebnissen von 2014 siehe <http://www.cvk.gov.ua/pls/vnd2014/wp300?PT001F01=910>).

Fast alle anderen Parteien, die 2014 in die Rada einzogen, wurden erst zur Wahl 2014 gegründet: Der Block Petro Poroschenko »Solidarität« (BPP) übernahm die Strukturen der Partei UDAR Vitali Klitschkos. Poroschenko und Klitschko einigten sich, dass Poroschenko als Präsident und Klitschko als Oberbürgermeister von Kiew kandidieren würde. Die neue Partei wurde nach anfänglich hoher Zustimmung nur zweitstärkste Fraktion, was die Listenwahl angeht (21,82 Prozent). Dafür erreichte der BPP die meisten direkt gewählten Abgeordneten in Mehrheitswahlkreisen. Das Listenergebnis und das Ergebnis für die einzelnen Wahlkreise zusammengenommen ist die BPP-Fraktion die größte in der Rada.

Dass die anfänglich hohe Zustimmung für den BPP abnahm, lag vermutlich unter anderem an der erwähnten Absprache zwischen Poroschenko und Klitschko, die der in Wien lebende Oligarch und Gasmilliardär Dmytro Firtasch beeinflusst haben soll, der von den USA mit internationalem Haftbefehl gesucht wird und gegen den ein Auslieferungsverfahren läuft (<http://www.spiegel.de/wirtschaft/dmitrij-firtasch-warum-die-usa-jagd-auf-den-oligarchen-aus-der-ukraine-machen-a-1136210.html>). Heute ist der BPP die Präsidentenpartei. Der erste stellvertretende Fraktionsvorsitzende Ihor Kononenko ist ein enger Verbündeter Poroschenkos, ebenso wie der BPP-Abgeordnete Oleksandr Hranovsky. Beide Abgeordnete nehmen über die Rada hinaus Einfluss; von Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive kann faktisch nicht die Rede sein.

Die Partei Volksfront unter Arsenij Jazenjuk, dem ersten Premierminister nach dem Euromaidan, wurde erst am 31. März 2014 registriert – und kam aus dem Stand auf das beste Listenwahlergebnis von 22,14 Prozent. Jazenjuk, früher Nationalbankchef, machte mit der Volksfront-Gründung den Anschluss seiner früheren Partei Front für Wandel an die Partei Vaterland rückgängig, nachdem Timoschenko wieder in Freiheit und der gemeinsame Gegner Janukowytsch nicht mehr im Land war. Zur Volksfront gehören auch Innenminister Arsen Awakow, einer der mächtigsten Männer der Ukraine, und der Übergangspräsident und heutige Sekretär des Sicherheits- und Verteidigungsrats Oleksandr Turtschynow, früher ein Verbündeter Timoschenkos.

Die entscheidenden Politiker blieben in beiden Parteien dieselben. Sie präsentierten sich nur anders. Beide Parteien luden bekannte Maidan-Aktivisten oder ehemalige Freiwilligenkämpfer auf ihre Parteilisten ein, um ihre Verbundenheit mit dem Euromaidan zu unterstreichen.

In die Gruppe der Altpolitiker gehört auch Oleh Ljaschko, der seit 2011 Vorsitzender der Radikalen Partei von Oleh Ljaschko ist. Die Partei war ebenfalls auf dem Maidan sichtbar und kam mit 7,44 Prozent ins Parlament. Der im Vorgängerparlament vertretenen nationalistischen Partei Freiheit (Swoboda, registriert 1995) gelang das nicht, obwohl ihr Parteichef Oleh Tjahnybok aktiver Teilnehmer des Maidan war. Ohne das Feindbild des ehemaligen Präsidenten Janukowytsch als Unterstützung blieb die Partei unter der Fünfprozenthürde.

In der am 27. November 2014 in der Rada gebildeten Koalition »Europäische Ukraine« gab es nur eine einzige neue Partei mit neuen Politikern – die Ende Dezember 2012 registrierte Selbsthilfe, die nach zunächst dürftigen Umfragewerten von 2 Prozent überraschend mit 10,97 Prozent als drittstärkste Kraft in die Rada eingezogen war. Die großen Parteien BPP und Volksfront waren, wie viele Ukrainer sagen, »alter Wein in neuen Schläuchen«.

Die Entwicklung ab 2014: neue Politiker

Selbsthilfe startete zunächst als regionale Partei der Westukraine, mit dem Oberbürgermeister der Vorzeigestadt Lemberg Andrij Sadowyj als Parteichef. Auf ihrer Parteiliste standen auch die Mitglieder der Partei Wolja. Seit 2011 verbietet das ukrainische Wahlrecht Blockbildung. Wollen sich kleinere Parteien in einer Art Vorwahlkoalition zusammenschließen, muss eine Partei ihren Namen aufgeben und akzeptieren, dass ihre Kandidaten auf der Liste der anderen Partei geführt werden.

Dies tat 2014 die noch vor dem Maidan gegründete reformorientierte Partei Demokratische Allianz (DemAllianz): Ihre Kandidaten gingen in der Liste der Bürgerlichen Position auf, einer 2005 registrierten Partei um den früheren Verteidigungsminister Anatolij Hryzenko. Allerdings fiel Bürgerliche Position nach einer Kampagne durch den TV-Sender des Oligarchen Ihor Kolomojskyj wegen angeblicher Korruption durch Parteichef Hryzenko aus dem in Vorwahlumfragen stabil zweistellig prognostizierten Bereich bei der Wahl auf nur 3,1 Prozent ab und zog nicht in die Rada ein. Als Hryzenko die Korruptionsvorwürfe entkräften konnte, war die Wahl vorbei.

Nach der Wahl bauten vor allem die kleinen reformorientierten Parteien wie etwa Kraft der Menschen (registriert im August 2014) und die Bürgerbewegung »Volkskontrolle« (registriert im März 2015) ihre lokalen Strukturen weiter aus. Während die ehemaligen Wolja-Mitglieder inzwischen entweder in der Selbsthilfe oder der neuen Saakaschwili-Partei sind, gelang es der DemAllianz, weiter eigenständig zu bestehen. Zu ihr stießen eine Reihe der sogenannten Eurooptimisten, die sich als politische Kraft etablieren wollen, nachdem sie 2014 über verschiedene Parteilisten in die Rada gelangt waren und bisher nur eine informelle Gruppe bilden.

Neugründungen sind auch die Antikorruptionspartei Bürgerbewegung »Welle« um den Rechtsanwalt Wiktor Tschumak und den entlassenen Reformstaatsanwalt Witalij Kasko sowie die Partei Bewegung der neuen Kräfte des ehemaligen georgischen Präsidenten und Ex-Gouverneurs von Odessa Micheil Saakaschwili – freilich ist diese Partei nach Saakaschwilis Abschiebung aus der Ukraine wenig aktiv.

Naturgemäß ist es eine Herausforderung, in einem großen Land wie der Ukraine neue politische Strukturen aufzubauen und landesweit bekannt zu werden – und zu bleiben. Laut Umfrage des Ilko-Kutscheriw-Instituts »Demokratische Initiativen« und des Rasumkow-Zentrums vom Mai 2018 liegen all diese Kleinparteien ungefähr gleichauf (siehe dazu und zu den folgenden Prognosen die Tabellen und Grafiken am Ende des Textes). Vereinigt kämen sie sicher über die Fünfprozenthürde, doch erschwert ihnen das Gesetz zur Blockbildung den Zusammenschluss.

Die beiden stärksten Oppositionsparteien sind heute Selbsthilfe (5,1 Prozent laut Umfrage im Mai 2018) und Bürgerliche Position (10,7 Prozent laut Umfrage im Mai 2018). Der Vorsprung für die Bürgerliche Position dürfte damit zusammenhängen, dass Selbsthilfe-Chef Sadowyj unter massivem Medieneinsatz für einen Müllskandal in Lemberg verantwortlich gemacht wurde. Davon abgesehen hat sich die Bürgerliche Position modernisiert, neue aktive Mitglieder gewonnen und gezielt lokale Strukturen aufgebaut. Die Partei ist seit 2017 Mitglied der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE). Parteichef Anatolij Hryzenko wird zwar von den großen Fernsehsendern nicht eingeladen, ist aber auf den kleineren Sendern »112«, »NewsOne« und auf dem westukrainischen Kanal »ZIK« präsent. (NewsOne gehört dem Rada-Abgeordneten Jewgenij Murajew, gegen den der Generalstaatsanwalt wegen Landesverrats ermittelt. Wem 112 gehört, ist unklar. ZIK hat einen Lemberger Eigentümer.) Der Vorsitzende der Partei Bürgerliche Position Hryzenko hat eine gewisse Popularität als früherer Verteidigungsminister, vor allem nachdem er die 2014 gegen ihn vorgebrachten Korruptionsvorwürfe entkräften konnte. Zudem hilft sein im Vergleich zu etlichen anderen Politikern bescheidener Lebensstil und seine Ehe mit der Chefredakteurin der renommierten Wochenzeitung Serkalo Nedeli (Spiegel der Woche).

Insgesamt ist Bürgerliche Position vor allem für die »alten« Akademikerschichten jenseits der vierzig und für konservative Wähler attraktiv. Junge Ukrainer neigen eher etwa zu Kraft der Menschen, DemAllianz oder der Saakaschwili-Partei. Vor diesem Hintergrund – und um in dem schwierigen ukrainischen Politumfeld schlagkräftiger zu sein – versucht Hryzenko in Vorbereitung auf 2019, die Bildung eines Blocks mit den anderen kleinen Reformparteien zu erreichen. Ein Vertrag mit der Partei Bürgerbewegung »Volkskontrolle«, die bei 1,2 Prozent liegt, ist unterzeichnet, Gespräche mit der DemAllianz werden geführt. Kraft der Menschen dagegen will das Risiko, die eigene Parteiidentität zumindest pro forma aufzugeben, nicht eingehen. Auch Selbsthilfe ist trotz mäßiger eigener Umfragewerte bislang nicht zum Zusammenschluss bereit.

Ideologie als Mittel zum Zweck

In Zeiten einschneidender Reformen, deren Nachteile vor allem arme Bevölkerungsgruppen unmittelbar zu spüren bekommen und deren positive Wirkungen sich erst langfristig oder mittelbar zeigen, sind eine Reihe von kleineren Parteien entstanden, deren Gründer jene Wähler ansprechen wollen, die Angst vor der Zukunft haben. Neben den bereits genannten Nachfolgeparteien der Partei der Regionen sind das Unser Land (registriert 2011), Wiedergeburt (registriert 2004), die Agrarpartei (registriert 2006) und – besonders erfolgreich in aktuellen Umfragen – Für das Leben (registriert 1999) des kleineren Oligarchen Wadim Rabinowitsch. Häufig geht es bei diesen Parteiprojekten nicht um programmatische Inhalte, sondern darum, die Bedürfnisse eines bestimmten Wählerklientels zu bedienen, etwa mit kleineren Geldbeträgen die Lebensbedingungen unmittelbar zu verbessern. Die Tradition, ärmere Menschen in der Abhängigkeit einzelner finanzieller Zuwendungen zu belassen, anstatt sie Schritt für Schritt zur Selbsthilfe zu befähigen, wird so aufrechterhalten. Ideologie ist nur Mittel zum Zweck. So steht der Oligarch Kolomojskyj sowohl hinter der sich patriotisch gebenden Partei UKROP (Ukrainische Vereinigung der Patrioten) als auch hinter der Partei Wiedergeburt, die die vermeintlich guten alten Zeiten betont.

Neue patriotische Parteiprojekte

Neben der UKROP treten vor allem die Bürgerliche Plattform von Nadija Sawtschenko um die in der Vergangenheit in Russland inhaftierte ehemalige Kampfpilotin hervor, die von einigen als potentielle Protestführerin unterstützt, von der Generalstaatsanwaltschaft jedoch inzwischen des Landesverrats bezichtigt wird (zu Sawtschenko siehe <http://www.sueddeutsche.de/politik/ukraine-demontage-einer-heldin-1.3916026>) sowie der Nationale Korpus um Andrij Bilezkyj, der Kommandeur des Bataillons Asow war (eines aus freiwilligen Kämpfern bestehenden Regiments). Auch die Staatliche Initiative Jarosch gehört in diese Gruppe. Die patriotische Karte spielen auch »alte« Parteien wie die Radikale Partei von Oleh Ljaschko und die Partei Rechter Sektor. Es gibt zudem eine Erklärung der rechtsradikalen Parteien Rechter Sektor, Freiheit (Swoboda) und Nationaler Korpus, sich zu vereinigen. Doch deren aktuelle Umfragewerte sind so niedrig, dass sie auch gemeinsam keine 5 Prozent erreichen dürften (siehe Tabelle 1 am Ende des Textes). Nur ein sehr geringer Anteil der Ukrainer ist für die Ideologie dieser Parteien zu gewinnen, zu der wesentlich der Antisemitismus gehört (siehe dazu etwa <http://www.pewresearch.org/fact-tank/2018/03/28/most-poles-accept-jews-as-fellow-citizens-and-neighbors-but-a-minority-do-not/ft_18-03-26_polandholocaustlaws_map/>).

Beobachter warnen davor, dass politische Parteien Bataillone unterstützen. Im inzwischen dem Innenministerium unterstellten nationalistischen Regiment Asow etwa sehen einige eine Schutztruppe der Partei Volksfront. Zuletzt hatte der Oligarch Kolomojskyj versucht, seine geschäftlichen Interessen mit Waffengewalt durch von ihm finanzierte Freiwillige abzusichern – allerdings erfolglos (siehe <https://www.newyorker.com/news/news-desk/watching-the-ukrainian-oligarchs>).

Schwache Opposition von links

Linke Parteien verloren nach dem Verbot der Kommunistischen Partei und dem Absturz der Partei der Regionen massiv an Popularität. Nur zwei neue Parteien mit ähnlicher Ausrichtung werden in aktuellen Umfragen überhaupt erwähnt: die Sozialdemokratische Partei mit 0,5 Prozent und die Partei Linke Opposition (selbst ernannte Kommunistische Partei der Ukraine und Progressive Sozialistische Partei der Ukraine) mit 1,3 Prozent.

Parteiarbeit vor Ort – schwierig aber unabdingbar

Außer den großen Rada-Parteien verfügen die wenigstens Parteien über funktionierende lokale Strukturen. Manche der neuen Parteien bemühen sich gezielt, diese aufzubauen, etwa Kraft der Menschen und Bürgerliche Position, aber auch Unser Land (überwiegend im Osten der Ukraine) und Nationaler Korpus (überwiegend im Westen). Freiheit (Swoboda) und die Agrarpartei können noch auf alte Strukturen zurückgreifen. Früher zeichnete sich auch die Partei der Regionen durch funktionierende lokale Strukturen aus; bei Vaterland ist das bis heute der Fall.

Neue Parteiprojekte für 2019 und informelle Machtstrukturen

Eine weitere Kategorie besteht aus den Parteien, die speziell für die bevorstehenden Wahlen gegründet wurden – oder noch gegründet werden. Diese Gruppe dürfte noch anwachsen.

Die Stimmung der Ukrainer gegen Politiker, die in erster Linie ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgen, greift die neue Partei Diener des Volkes erfolgreich auf: Sie kam in Umfragen aus dem Stand auf rund 5 Prozent und ist wohl als erste Partei nach einer populären Satiresendung benannt. In der Sendung parodiert der deklarierte Parteichef einen der Wirklichkeit entrückten Präsidenten Poroschenko. Ab Herbst wird die erfolgreiche TV-Serie fortgesetzt – mit finanzieller Unterstützung von Oligarch Kolomojskyj.

Interessant wird sein, welche politische Basis sich der aktuelle Premierminister Wolodymyr Hrojsman suchen wird, dessen eigene Partei Europäische Strategie aus Winnyzja (registriert 2015) nur regionale Bedeutung hat. Von Präsident Poroschenko distanziert er sich merklich. Eine Theorie ist, dass er sich mit Arsenij Jazenjuk zusammenschließen und dessen Volksfront wieder aktivieren wird. Die Partei kommt in aktuellen Umfragen nur noch auf 1 Prozent; es ist aber zu erwarten, dass sich ihre bisher mächtigen Politiker rechtzeitig vor 2019 etwas einfallen lassen und ihre parteipolitische Basis sichern werden. Hrojsman versucht sich als Politiker der Zukunft darzustellen, etwa indem er kürzlich seinen Verbleib in der Regierung von der Zustimmung der Rada zum neuen Antikorruptionsgericht abhängig machte, das allerdings nur ein Gericht mit beschränkter Autonomie darstellt. Seit Beginn seiner Amtszeit im April 2016 sucht er den Dialog mit der Zivilgesellschaft. Dennoch wächst ihm gegenüber das Misstrauen, auch nach der aktuellen Entlassung von Finanzminister Oleksandr Daniljuk, der als Reformer innerhalb der Regierung galt.

Und Petro Poroschenko und seine Partei? Im BPP herrscht keine Einigkeit über die künftige Ausrichtung. Ein ukrainisches Sprichwort sagt, rechtzeitig zu verraten, sei kein Verrat, sondern Voraussicht. Bislang werden wichtige Entscheidungen vermutlich sowieso über Fraktionsgrenzen hinweg getroffen, etwa im Kreis der »Strategischen Neun« oder (früher) der »Strategischen Sieben«, einem informellen Zusammenschluss zentraler Persönlichkeiten der ukrainischen Politik (siehe zum Beispiel <https://zik.ua/ru/news/2018/02/23/strategycheskaya_devyatka__eto_lysh_konstruktsyya_soznanyya__polytolog_1272501>).

Poroschenko scheint ein Wahlkampfthema gefunden zu haben – das in der Ukraine ähnlich emotional besetzt ist wie die Visaliberalisierung und das viele Menschen im konservativen Lager mitreißen dürfte –, auf das er sich konzentriert: das Ziel, die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats von Moskau unabhängig zu machen.

Populismus

Populismus spielt von jeher eine große Rolle in der ukrainischen Politik, auch bei oppositionellen Reformparteien wie Selbsthilfe und Bürgerliche Position. Beide versuchen, Wähler in Zeiten von Krise und Krieg durch konservativ-patriotische Töne emotional anzusprechen. Den Populismus am weitesten treibt Julia Timoschenko. Darunter leidet die programmatische Auseinandersetzung insgesamt. Ein Teufelskreis: Das niedrige Vertrauen in die Politiker fördert die Wiederwahl populistischer Parteien, welche – wie die Partei Vaterland angesichts eigener wirtschaftlicher Interessen – die Probleme des Landes nicht lösen, sondern sie für ihre eigenen Ziele instrumentalisieren.

Ausblick – neue Politikerpersönlichkeiten gefragt

Die Parteichefs der nach aktuellen Umfragen maßgeblichen Parteien bei der Rada-Wahl werden vermutlich alle bei der Präsidentschaftswahl antreten, und die Umfragewerte für Präsidentschaftskandidat bzw. Partei sind aktuell spiegelbildlich (siehe Tabellen und Grafiken am Ende des Textes). Allerdings werden noch viele Unentschlossene den Ausgang der Wahlen beeinflussen, ebenso wie neue Präsidentschaftskandidaten ohne bisherige Parteistruktur, wie etwa der beliebte Sänger Swjatoslaw Wakartschuk. Das Bedürfnis der ukrainischen Bürger nach neuen politischen Kräften ist derart ausgeprägt – 62,1 Prozent wünschen sich laut einer Umfrage »neue politische Führer« und nur 26,9 Prozent sind der Ansicht, die bisherigen Politiker seien ausreichend –, dass einer der großen TV-Sender, ICTV, eine Art Castingshow mit dem Titel »Neue Führer« geschaffen hat. Nach den jeweiligen Eigenschaften befragt, die »neue Führer« mitbringen müssten, nannten die Befragten an erster Stelle Unkorrumpierbarkeit (54,1 Prozent). Es folgten Ehrlichkeit (45,5 Prozent) und die Bereitschaft, die Interessen der »einfachen Menschen« zu vertreten (45,3 Prozent). Zusätzlich fanden die Befragten Patriotismus wichtig (21,5 Prozent) und einen genauen Handlungsplan (21,9 Prozent), Bildung/Kultur/Erfahrung (16,4 Prozent) und Führungsqualitäten (15,1 Prozent) (Umfrageergebnisse zu den neuen politischen Kräften siehe <https://dif.org.ua/article/viborchi-reytingi-traven-2018408346>).

Die Wähler sehen unterschiedliche Bereiche, aus denen diese »neuen Führer« rekrutiert werden könnten: aus neuen Parteien (33,5 Prozent), aus schon existierenden Parteien, in denen sie bisher keine führenden Positionen innehatten (29,7 Prozent), aus zivilgesellschaftlichen Organisationen (28,1 Prozent) oder aus der sogenannten technischen Intelligenzija (Ingenieure/Ärzte 25,8 Prozent). Nur eine Minderheit ist der Ansicht, dass die »neuen Führer« aus Großunternehmen kommen sollten (5,3 Prozent).

Im bevorstehenden Wahlkampf ist leider einmal mehr damit zu rechnen, dass die Versuche der Staatsanwaltschaft zunehmen werden, politische Gegner mit fabriziertem Belastungsmaterial auszuschalten; sei es etwa mit dem Vorwurf, russische Propaganda zu betreiben oder sich durch Korruption bereichert zu haben. Auf ihrem Weg zu einem demokratischen Parteien- und Regierungssystem brauchen neue, reformorientierte Programmparteien einen langen Atem angesichts der fortwährenden Verflechtung wirtschaftlicher und politischer Interessen. Zudem stehen dem starken gesellschaftlichen und politischen Engagement vieler aufgeklärter Bürger auf der einen Seite noch autoritär-patriarchale Traditionen auf der anderen Seite gegenüber.

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