Poroschenko und der »Tomos-Effekt«

Von Nikolay Mitrokhin (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)

Zusammenfassung
Die Gründung und Anerkennung der Orthodoxen Kirche der Ukraine durch das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel ging nicht zuletzt auf den persönlichen Einsatz von Präsident Petro Poroschenko zurück. Poroschenko, der in der Wählergunst lange Zeit weit zurücklag, erhoffte sich durch den »Tomos-Effekt« seine Popularität im Wahlkampf steigern zu können – was nur zum Teil gelang. Der Wechsel zur neuen Kirche verläuft bisher schleppend und zum Teil unter Druck der lokalen Behörden, denn viele aktive Gläubige und ihr Klerus stehen der neugegründeten Orthodoxen Kirche der Ukraine skeptisch gegenüber.

Einleitung


Nachdem Präsident Petro Poroschenko im vergangenen Jahr in den Wählerumfragen stets weit zurücklag, konnte er sein Rating ab Dezember 2018 wieder deutlich verbessern. Mit einer Zustimmung von rund 16–18 Prozent liegt er aktuell in mehreren Umfragen auf Rang zwei und würde damit voraussichtlich den zweiten Wahlgang erreichen.


Zu den Hauptgründen für Poroschenkos Comeback zählt die Gründung der neuen Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) am 15. Dezember 2018, die Anfang Januar vom Patriarchen von Konstantinopel offiziell anerkannt wurde. Poroschenko und das geistliche Oberhaupt der neuen Kirche, Metropolit Epiphanius, tourten daraufhin durch das Land und präsentierten der Öffentlichkeit das Tomos – das Dokument, das die Anerkennung der OKU offiziell bestätigt. Anfang Februar wurde die Tour jedoch abrupt beendet, und die zuvor allgegenwärtigen Plakate mit Poroschenko und dem Tomos waren plötzlich wieder aus dem Straßenbild verschwunden.


Die Gründung der OKU hat Poroschenko zwar wieder mehr Zustimmung verschafft, ihn allerdings nicht wie erhofft an die Spitze im Präsidentschaftsrennen gebracht. Er liegt noch immer deutlich hinter dem beliebten Komiker Wolodymyr Selenskyj, der Poroschenkos neuen Patriotismus – die Schaffung einer geeinten ukrainischen Nation um die neue Kirche herum – verspottet.


Historische Entwicklung oder Wahlkampftrick?


Obwohl schon seit Anfang der 1990er Jahre über die Schaffung einer unabhängigen nationalen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche diskutiert wurde, kam es nie zur Gründung. Das lag vor allem am Widerstand der größten orthodoxen Kirche in der Ukraine – der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats (UOK-MP). Und zwei weitere orthodoxe Kirchen, die zu Beginn der 1990er entstanden, die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats (UOK-KP) und die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche (UOAK), waren zu schwach, um sich durchzusetzen.


Und selbst nachdem Priester des UOK-MP die russische Aggression im Donbas und in der Südukraine unterstützt hatten, waren Anfang 2018 nur etwa ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung für die Schaffung einer unabhängigen ukrainisch-orthodoxen Kirche.


Im April 2018 aber änderte sich die Situation, als Poroschenko seine Kampagne zur Gründung einer einigen nationalen Kirche startete – symbolisiert durch sein Vorhaben, den Tomos über die Autokephalie zu erhalten. Diese Kampagne, die fast alle ukrainischen Politiker hinter sich vereinte, schuf einen starken Propagandaeffekt, und Ende 2018 schienen viele Ukrainer von der Notwendigkeit einer »vereinten Landeskirche« überzeugt, auch wenn diese Überzeugung nur kurze Zeit anhielt.


Die Befürworter der neuen Kirche stützten sich auf Daten des Razumkow-Zentrums, das nach Ausbruch des russisch-ukrainischen Konflikts einen starken Anstieg der Anhängerzahlen der UOK-KP (29 Prozent der Befragten) im Vergleich zu den Anhängern der UOK-MP (13 Prozent) zeigte (siehe dazu die Grafiken und Tabellen in den Ukraine-Analysen 207, S. 6–8).


Meine Feldforschung in der Ukraine während der letzten vier Jahre zeigt jedoch ein etwas anderes Bild – das eine Erklärung liefern kann, weshalb der Tomos-Effekt das Rating von Poroschenko nicht nachhaltig verbessern konnte.

Kirchgänger in der Ukraine


Meine Feldforschung in der Zentral- und Südukraine hat gezeigt, dass es nur sehr wenige aktive Kirchengänger im Land gibt. In weiten Teilen des Landes (außer in der Westukraine) machen aktive Kirchengänger nur etwa ein Prozent der Stadtbevölkerung und zwei Prozent der Bevölkerung in den ländlichen Gebieten aus.


Nach Angaben des Razumkow-Zentrums gaben 19,2 Prozent der Bevölkerung in der Zentralukraine an, an einem Sonntag im April 2018 eine Kirche besucht zu haben (der landesweite Durchschnitt lag bei 23 Prozent). Wie meine Untersuchungen belegen, besuchten in der Praxis im Juni 2018 jedoch nicht mehr als 0,5 – 0,7 Prozent der Kiewer Bevölkerung einen Gottesdienst. So nahmen im Kiewer Stadtteil Obolon, in dem mehr als 200.000 Einwohner leben, etwa 550 Personen an den Gottesdiensten der fünf Kirchen der UOK-MP teil und 50 Menschen am Gottesdienst der einzigen Kirche der UOK-KP in diesem Stadtteil. Die Zahl der Kirchengänger in den ländlichen Gebieten von Kiew und in der Region Winnyzja war etwas größer, machte aber auch da nur etwa ein Prozent der Bevölkerung aus.

In den meisten Regionen der Ukraine verfügen die orthodoxen Kirchen nicht über die Kapazitäten, um mehr als zwei Prozent der Bevölkerung gleichzeitig aufzunehmen. In der Westukraine, in der 22 Prozent der Bevölkerung leben, gibt es mehr Kapazitäten – dort können die orthodoxen Kirchen theoretisch etwa 10–15 Prozent der lokalen Bevölkerung aufnehmen –, was aber immer noch weniger wäre als die Zahl der Kirchgänger aus der Umfrage des Razumkow-Zentrums.


Die aktiven Kirchgänger (diejenigen, die mindestens zweimal im Monat an Gottesdiensten teilnehmen) sind entsprechend der in der Feldforschung erhobenen Daten zahlenmäßig eine kaum bedeutende Minderheit. In den Meinungsumfragen sind sie daher auch nur am Rande vertreten, was insofern eine Rolle spielt, als dass sich ihre Ansichten in der Regel von denen des Großteils der gelegentlichen Kirchenbesucher unterscheiden.


So sind die aktiven Kirchenbesucher mit den religiösen Ansichten und der Kirchenpraxis der UOK-MP zufrieden, einschließlich der besonderen Nähe zu Russland, und lassen sich weniger vom ukrainischen Nationalismus beeinflussen. Im Großen und Ganzen unterstützen sie daher Poroschenkos Initiative für eine neue Kirche nicht.


Wenn es aus der orthodoxen Glaubensgemeinschaft somit kaum Forderungen nach einer vereinigten nationalen Kirche gibt, ist es sehr wahrscheinlich, dass Poroschenkos Autokephalie-Kampagne Teil seiner Wahlkampfstrategie ist, deren Kernslogan lautet: »Armee. Sprache. Glaube«.


Folgen der Autokephalie


Eine »Vereinigte Nationale Kirche«, die die Mehrheit der orthodoxen Gläubigen in der Ukraine vereint, ist nicht gegründet worden. Weder die Mehrheit der aktiven orthodoxen Gläubigen noch ihr Klerus wollten eine neue Kirche. Persönlichen Interviews und Diskussionen in den sozialen Netzwerken zu Folge, ist die neue Kirche für viele orthodoxe Gläubige nicht attraktiv.


Die OKU entstand de facto als Zusammenschluss zweier kleinerer ukrainischer orthodoxer Kirchen, der UOK-KP und der UAOK. Die religiöse Hierarchie der neuen Kirche setzt sich aus Geistlichen dieser beiden Kirchen zusammen und das Oberhaupt der neuen Kirche, Metropolit Epiphanius, gilt als rechte Hand von Patriarch Filaret, dem Oberhaupt des Kiewer Patriarchats. Bisher weigern sich die anderen orthodoxen Kirchen – mit Ausnahme des Patriarchats von Konstantinopel – die OKU anzuerkennen.

Im Gründungsrat der neuen Kirche saßen nur zwei von 83 möglichen »Überläufern« aus der UOK-MP. Auch haben sich bisher nur wenige Gemeinden des OUK-MP der neuen Kirche angeschlossen: In der Hauptstadt Kiew etwa mit ihrer generell patriotischen Bevölkerung wechselten lediglich drei von 270 Gemeinden zur UOK über. Insgesamt sind (mit Stand vom 21. März 2019) 486 Gemeinden gewechselt. Eine sehr geringe Zahl angesichts der mehr als 12.500 Gemeinden, welche die UOK-MP in der Ukraine umfasst.


Der Eingemeindungsprozess – bei dem es nicht nur darum geht, dass Gemeindemitglieder wechseln, sondern auch darum, das Kircheneigentum der bestehenden Gemeinden zu überführen – birgt viel Konfliktpotenzial und führte zu einer offenen Konfrontation zwischen dem Staat und den lokalen Behörden einerseits und den aktiven Kirchengängern und Geistlichen andererseits. In ländlichen Gebieten werden Entscheidungen über die Überführung von Gemeinden der UOK-MP in die neue Kirchenstruktur oft auf Gemeindeversammlungen unter Federführung der lokalen Behörden getroffen. In vielen Fällen weigern sich Priester und zumindest Teile der Gemeindemitglieder, den Beschluss der Behörden zu akzeptieren. Im Ergebnis bestehen dann ihre Gemeinden zwar fort, aber ihnen wird ihr Kirchenbesitz entzogen bzw. ihre Ansprüche darauf.


Bis Mitte März 2019 waren etwa vier Prozent aller Gemeinden der UOK-MP offiziell in die neue Kirche übergewechselt. Es ist kein Zufall, dass die Mehrheit dieser Gemeinden in Regionen liegt, in denen Poroschenko und seine Partei die lokalen Verwaltungen kontrollieren: in Winnyzja, Wolhynien, Chmelnyzkyj und Tscherkassy. In der Ost- und Südukraine, im äußersten Westen (Transkarpatien) sowie in Kiew (inkl. Umland) gibt es hingegen nur wenige Wechsel.


Angespannte Situation in Chmelnyzkyj: Wechsel unter Druck


In der zentralukrainischen Oblast Chmelnyzkyj, wo ich im Februar 2019 eine Feldforschung durchgeführt habe, wechselten im Januar und Februar etwa 35 der 970 Gemeinden in die neue Kirche – fast alle aus denselben drei Bezirken. Allerdings bestätigten nur ein Dutzend Priester der betroffenen Gemeinden diesen Wechsel offiziell. Die meisten dieser »Übergänge« erfolgten offensichtlich auf Druck der lokalen Behörden. In einigen Fällen wurden die Treffen, bei denen über den Wechsel entschieden wurde, auf Druck und unter Beteiligung von Aktivisten der neonazistischen Jugendorganisation »Phoenix« und ihrem Leiter Wiktor Burlik durchgeführt, der auch als Abgeordneter im Stadtrat von Chmelnyzkyj sitzt.


Jedoch erfolgen längst nicht alle Zugehörigkeitswechsel unter Druck. Die Priester in der Region Chmelnyzkyj erklären, dass sich auch aktive Gemeindemitglieder für den Wechsel aussprechen. Und es gebe auch Priester, die von sich aus die Initiative ergreifen und mit ihren Gemeinden zur neuen Kirche wechseln.


So z. B. auch in Chmelnyzkyjs Nachbarregion Riwne. Nach Angaben des Bischofs und der Nonnen mehrerer Klöster, die ich befragt habe, gab es dort keinen Druck von Gemeindemitgliedern. In einem der Bezirke der Oblast handelte der Bezirksvorsteher jedoch gegen die UOK-MP und unterstellte mehrere Gemeinden der OKU. Aus der Region Riwne ist zudem bekannt, dass die lokale Abteilung des Sicherheitsdienstes der Ukraine (SBU) mehrfach Priester zur Befragung einberief und Durchsuchungen durchgeführte, vermutlich um Druck auszuüben.


Fazit

Die Ukraine hat durch den Tomos nicht so sehr eine unabhängige ukrainische Kirche erhalten, sondern eher eine offizielle Staatskirche. Die Behörden führten einen »religiösen Nationalismus« ein, der im Widerspruch zum Pluralismus und zur Wahrung der Religionsfreiheit steht, die in der ukrainischen Verfassung verankert sind. Da die OKU bisher nicht in der Lage war, die Mehrheit der orthodoxen Gläubigen unter ihrer Schirmherrschaft zu versammeln, erhielt sie vom Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel nicht den Status eines »Patriarchats« und wird bisher nur in den Augen Konstantinopels als legitim (kanonisch) anerkannt, nicht jedoch von den anderen orthodoxen Kirchen.


Während die UOK-KP in der Vergangenheit eigenständig agieren konnte – wie z. B. während des Maidans, als sie die Oppositionsbewegung gegen Janukowytsch unterstützte –, ist die OKU weitgehend vom Staat abhängig, der eine Schlüsselrolle bei ihrer Schaffung spielte: Erstens sorgte Präsident Poroschenko für den erfolgreichen Abschluss der Gespräche mit Konstantinopel. Zweitens geht vom Staat eine systematische Unterdrückung der UOK-MP aus, und zwar sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene. Es sind politische Verbündete von Poroschenko, die die Wechsel der Gemeinden vorantreiben. Der SBU, der dem Präsidenten direkt untersteht, übt gezielt Druck auf Kritiker der Zugehörigkeitswechsel aus. Gleichzeitig bleiben die Befürworter der OKU, die aktiv und in großem Umfang zum Hass auf die »Moskauer Geistlichen« aufrufen, ungestraft.


Anstatt die Nation zu einen, führte Poroschenkos Vorgehen zu einer neuen Konfrontation, von der vor allem die ländlichen Gemeinden betroffen sind. Während die Erlangung des Tomos vielleicht kurzzeitig patriotische Wähler zu Gunsten Poroschenkos mobilisiert hat, reicht die Errichtung der neuen Staatskirche nicht aus, um sich die Unterstützung der breiten Bevölkerung zu sichern. Denn die meisten Bürger sind nicht religiös und interessieren sich mehr für akute Fragen des täglichen Lebens, die von Poroschenkos Herausforderer Selenskyj angesprochen werden. Und selbst, wenn sie aktive orthodoxe Gläubige sind, neigen sie eher dazu, sich gegen Poroschenkos neue Kirche zu stellen.


Übersetzung aus dem Englischen: Dr. Eduard Klein


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