Vorwort von dekoder
Der Schauspieler und Comedian Wolodymyr Selenskyj hat die erste Runde der Präsidentschaftswahl in der Ukraine gewonnen. Über 63 Prozent der Wahlberechtigten nahmen an der Wahl teil, Selenskyj bekam rund 30 Prozent der Stimmen, Petro Poroschenko etwa 16 Prozent. Damit wird sich der Polit-Neuling dem Amtsinhaber in der Stichwahl stellen. Diese soll voraussichtlich am 21. April stattfinden. Schon im Vorfeld der Wahl schaute man in Russland gebannt auf den ukrainischen Wahlkampf: Die kremlnahen Medien prangerten unter anderem die angebliche Einmischung des US-Außenministeriums an, viele unabhängige Stimmen betonten demgegenüber, dass insgesamt 39 Kandidaten zur Wahl standen. Die Ukraine hatte also, so der Tenor, eine richtige Wahl – anders als Russland. Auch nach der Veröffentlichung der Wahlergebnisse ebbt die Diskussion nicht ab. Wer hat für wen gestimmt? Worin unterscheiden sich die Ukraine und Russland? Und was bedeutet die Wahl für die Beziehungen zwischen den beiden Ländern? dekoder bringt Ausschnitte aus russischen und ukrainischen Medien.
Ukrajinska Prawda: Ukraine ist nicht Russland
Waleri Pekar, ukrainischer Unternehmer und Mitbegründer der Bürgerplattform Neues Land, kommentiert auf der Online-Plattform Ukrajinska Prawda den Wahlausgang und fragt nach den Hintergründen:
»Also, was haben wir? Echte Demokratie ist, wenn die Wahlergebnisse überraschend sind. Wir können uns gratulieren: Die Ukraine ist nicht Russland, die Ukraine ist Europa. In den reifen Demokratien gibt es normalerweise einen dominierenden Diskurs, zum Beispiel Migration, oder Wirtschaft, oder Umweltschutz. Bei uns sind drei Diskurse zusammengekommen. Diejenigen, für die das wichtigste Phänomen im Leben des Landes der Krieg ist, haben den Oberbefehlshaber gewählt, obwohl sie sich seiner Defizite in anderen Bereichen bewusst sind. Diejenigen, die den Wechsel der politischen Elite für das zentrale Erfordernis halten, haben ein neues Gesicht gewählt, obwohl sie sich seiner Defizite bewusst sind oder auch nicht. Und diejenigen, für die das wichtigste Problem Armut ist, haben die wichtigste Kämpferin gegen die Armut gewählt. Die Ergebnisse der Wahl stehen noch nicht fest. Bis jetzt kann man nur eins sagen: Timoschenko hat verloren.«
Erschienen am 31.03.2019, Original: https://www.pravda.com.ua/rus/columns/2019/03/31/7210915/
Rossijskaja Gazeta: »Fifty Shades of Grey«
Konstantin Kossatschew, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Föderationsrat, kehrt in der Rossijskaja Gazeta gängige Vorwürfe gegen Russland um:
»Die Ergebnisse des ersten Wahlgangs waren durchaus naheliegend. Und das nicht, weil sie einem vorhersagbaren Schema folgen: Im Grunde genommen gibt es in der Ukraine keine politischen Kräfte mehr, der Raum ist von Alternativen gesäubert, die Bürger haben die Möglichkeit zwischen »Fifty Shades of Grey« zu wählen. Der Weg in die EU und die NATO wird jetzt als nationaler Konsens ausgegeben. Tatsächlich aber ist die Situation künstlich geschaffen worden über die Staatspropaganda und als Abrechnung mit den Nichteinverstandenen. Die Ukraine hat also nicht zwischen Russland und Europa gewählt. Denn ein Kandidat, der gewagt hätte, ein freundliches Wort über unser Land zu sagen, wäre nicht einfach nur einer Hetzjagd ausgesetzt gewesen, sondern hätte zumindest seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt. Die Ukraine hat nicht zwischen Korruption und dem Kampf gegen sie gewählt – es ist mittlerweile klar, dass es auch beim Maidan nicht darum ging. Und jetzt wird der gewählt, der die Korruption anführt mit einer Rhetorik ihrer Bekämpfung – für die Ohren westlicher Sponsoren.«
Erschienen am 01.04.2019, Original: https://rg.ru/2019/04/01/kosachev-ukraincy-vybirali-iz-piatidesiati-ottenkov-serogo.html
The New Times: Dann wählen wir eben nochmal neu
Journalist Iwan Dawydow schreibt auf The New Times, dass die unabhängigen Stimmen in Russland deshalb so neidisch auf die Ukraine seien, weil der Wahlausgang dort – anders als in Russland – unberechenbar sei. Dies sei aber kein Wert an sich, meint Dawydow – es gebe wichtigere Sachen:
»Da hier tatsächlich überall viel über die Ukraine gesprochen wird, erzähle ich jetzt von einem Gespräch, dessen Zeuge ich zufällig wurde. Russen, wie das bei Russen so üblich ist, wollten einen Ukrainer belehren und erklärten ihm, wer denn nun zu wählen sei. Der Ukrainer hatte vor, Selenskyj zu wählen. Umgehend wurden ihm die Augen geöffnet: »Selenskyj ist ein Clown«, »Selenskyj ist eine Marionette von Kolomojskyj«, »Selenskyj ist ein Agent des Kreml«, »Selenskyj hat weder politische noch Leitungserfahrung«. […] Wichtig ist nur die Antwort des Ukrainers: »Nun, wenn er uns nicht gefällt, wählen wir neu«, sagte er ganz ruhig. Und genau das war bitter. Bitter für Russland. Dieser banale Gedanke ist in unserem Land ganz unmöglich geworden. Die Staatsmacht ist kein Monument. Der Präsident ist ein angestellter Manager und kein ewiges Problem. Die Bürger können einfach loslegen und einen anderen wählen. Und all das ist kein spezielles Wunder. Sondern eine ganz normale, natürliche Sache.«
Erschienen am 01.04.2019, Original: https://newtimes.ru/articles/detail/178945
Echo Moskwy: Putin hat gewonnen
Der Blogger Alexander Gorny argumentiert auf Echo Moskwy dialektisch und macht Putin zum einenden Feindbild:
»Faktisch hat Wladimir Putin die ukrainischen Wahlen gewonnen, obwohl das vielen noch nicht bewusst ist. Putin war der, der all die Jahre die politische Agenda der Ukraine geformt und die Ukraine vor dem Auseinanderbrechen bewahrt hat. Die ukrainischen Wahlen haben viele aufgeweckt. Alle scharwenzeln um die drei Kiefern und fragen sich, welche die höchste und schönste ist. Kann uns doch völlig egal sein, oder? Wer auch immer gewinnt, die russisch-ukrainischen Beziehungen sind auf Jahrzehnte verdorben, die Krim kommt nicht zurück und der Donbass wird noch lange eine Zone der Instabilität bleiben. «
Erschienen am 01.04.2019, Original: https://echo.msk.ru/blog/amountain/2399073-echo/
Nowoje Wremja: 15 Jahre Diskussionskultur
Witali Sytsch, Chefredakteur des ukrainischen Mediums Nowoje Wremja, stellt Fortschritte in der Ukraine fest und schaut auf die ehemaligen Nachbarn im Ostblock:
»Heute habe ich verstanden, was für einen langen und beschwerlichen Weg wir in den letzten 15 Jahren gegangen sind. […] Es sind eine Menge an institutionellen Mechanismen entstanden zum Mandatsentzug, zur Kontrolle über die Politiker und zum Machtwechsel. Und eine ganze Kultur der politischen Diskussion und Konkurrenz. In dieser Hinsicht sind wir in diesen 15 Jahren weit gekommen. Die ehemaligen Nachbarn im Ostblock – so wie Russland, Belarus und Kasachstan – müssen noch einen langen und nicht einfachen Weg gehen. Für den Anfang wäre es nicht schlecht, wenn Lukaschenko, Putin und Nasarbajew zu dritt wenigstens einen einzigen lebhaften und nennenswerten Konkurrenten bekämen.«
Erschienen am 01.04.2019, Original: https://nv.ua/opinion/zelenskiy-vs-poroshenko-chto-dokazali-eti-vybory-50014035.html
Dieser Beitrag erschien ursprünglich am 01.04.2019 als Debattenschau auf https://www.dekoder.org/de/article/debattenschau-praesidentschaftswahl-ukraine-selenskyj und wurde übernommen im Rahmen des Projektes »Wissenstransfer2 – Russlandstudien« (https://www.forschungsstelle.uni-bremen.de/de/5/20190308202039/Wissenstransfer_hoch_zwei.html), das von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und dekoder.org mit finanzieller Unterstützung der Volkswagen-Stiftung durchgeführt wird.
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Die Redaktion der Ukraine-Analysen