Der Wunsch nach Wandel ist groß, die Aussicht auf Wandel nicht

Von Beate Apelt (Friedrich-Naumann-Stiftung, Kiew)

Die Ukrainer haben gewählt, und sie haben die Welt überrascht. Mit etwa 30 Prozent für Wolodymyr Selenskyj, einen Schauspieler und Komiker mit hoher Popularität, aber ohne jede politische Erfahrung, haben sie den Vertretern des etablierten politischen Systems eine harsche Abfuhr erteilt. Zu groß war die Enttäu-schung über einen Präsidenten Poroschenko, der die Hoffnungen der Menschen auf einen »normalen«, von oligarchischen Interessen unabhängigen Staat, nicht erfüllt hat. Zu groß war auch der Zweifel, dass Julija Tymoschenko tatsächlich einen Wandel bringen könnte. Weder sie noch die weiteren 36 Kandidaten konnten es mit der hochprofessionellen, erfrischend anderen und vor allem in den sozialen Medien geführten Wahlkampagne Selenskyjs aufnehmen. Doch wer ist Selenskyj? Über seine politische Ausrichtung und mögliche Programmatik herrscht Ratlosigkeit, ebenso darüber, wie stark er vom Oligarchen Kolomojskyj abhängig ist, auf dessen Sender seine Shows und Serien laufen. Sein Erfolg ist schlichtweg ein Ausdruck des Wunsches nach Veränderung, nach einem neuen Gesicht, nach Protest gegen das alte System. Doch er beruht zumindest teilweise auf einer Fehlwahrnehmung: Der einfache Geschichtslehrer Holoborodko, der quasi durch Zufall ungewollt ins Präsidentenamt gespült wird, dort mit der Korruption aufräumt und die Ukraine als ein Land der Träume zum Erblühen bringt – so Selenskyjs Hauptrolle in der Serie »Diener des Volkes« – spricht die Herzen der Menschen an. Er ist aber eine fiktive Figur. Sofern die Menschen Selenskyj gewählt haben, um einen Holoborodko zu bekommen, hat die Ukraine mit seinem Wahlerfolg einen bemerkenswerten Beitrag zum postfaktischen Zeitalter geleistet. Das Erwachen könnte bitter sein.

Dass in der Ukraine frei gewählt wird, der Ausgang der Wahl nicht vorher feststeht und internationale Wahlbeobachter den Wahlprozess als im Wesentlichen frei und korrekt einschätzen, ist grundsätzlich ein hoher Wert in einem postsowjetischen Land. Doch das sollte nicht über die Defizite dieser Wahl hinwegtäuschen. Zum einen wurde der Wahlkampf keineswegs mit fairen Mitteln geführt – der Einsatz administrativer Ressourcen, der ungleiche Zugang zu Medien, »technische« Wahlkandidaten, Stimmenkauf und vieles mehr schränken die Qualität des demokratischen Akts schmerzlich ein. Ließen sich die Einflüsse aller unsauberer Mittel quantifizieren, ist nicht einmal auszuschließen, dass Tymoschenko es auf den zweiten Platz geschafft hätte. Zum anderen krankte der Wahlkampf am völligen Fehlen jeglicher inhaltlicher und programmatischer Auseinandersetzung. Dies könnte sich vor dem zweiten Wahlgang zumindest punktuell ändern: Selenskyj, der sich bisher Interviews oder gar Debatten fast vollständig entzogen hat, forderte nun den Präsidenten zu einem Zusammentreffen im OlympiaStadion heraus, und dieser nahm an. Auch mehrere demokratische Parteien und Bewegungen laden die Kontrahenten öffentlichkeitswirksam – und natürlich erfolglos – zur Auseinandersetzung auf ihren Veranstaltungen ein. Im Internet kursiert der Hashtag »#IchwillDebattensehen«.Wer am Ende Präsident wird, ist noch keineswegs entschieden und hängt im Zweifel davon ab, wie sich die Wähler der übrigen Kandidaten im zweiten Wahlgang verteilen werden. Von keinem der beiden Bewerber sind jedoch ein wirklicher Wandel des oligarchisch bestimmten Systems, beschleunigte Reformen oder eine entschiedene Korruptionsbekämpfung zu erwarten. Dies schrittweise zu erkämpfen, wird deshalb gemeinsame Aufgabe der ukrainischen Zivilgesellschaft, der internationalen Partner der Ukraine und einer hoffentlich starken demokratischen Opposition im künftigen Parlament bleiben.

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Kommentar

Die Ukraine vor der Präsidentschaftswahl. Ernste Kandidaten für ernste Zeiten?

Von Claudia Kamke, Kristin Wesemann
Die Ukraine wird, so jedenfalls ist es vorgesehen, am 17. Januar 2010 ein neues Staatsoberhaupt wählen. Sollte kein Kandidat die absolute Mehrheit erringen, kommt es in der Woche darauf zur Stichwahl. Den Termin hatte das Verfassungsgericht im Mai 2009 nach langem Tauziehen festgelegt und er wurde Ende Juni 2009 vom Parlament bestätigt. Zunächst hatte das Parlament für den 25. (…)
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