Der Begriff »Superwahljahr« war wohl selten so zutreffend wie für das Jahr 2019 in der Ukraine: Nicht nur wurden der Präsident und das Parlament des Landes neu gewählt. Nein, es gab auch eine radikale Zäsur, mit der selbst vor einem halben Jahr wohl noch niemand gerechnet hätte. Erst fegte der Politsatiriker und -neuling Wolodymyr Selenskyj mit einem historischen Ergebnis Amtsinhaber Poroschenko aus dem Amt (fast 75 Prozent der Wählerinnen und Wähler stimmten im zweiten Wahlgang für Selenskyj). Dann eroberte Selenskyjs Partei »Diener des Volkes«, die ausschließlich auf politische Novizen setzte, aus dem Stand die Werchowna Rada. Mit 254 von 424 Sitzen können die »Diener des Volkes« sogar alleine regieren, ebenfalls ein Novum in der postsowjetischen Ukraine. Besonders mit ihrem starken Abschneiden in den Einzelwahlkreisen – die bei vorherigen Wahlen oftmals auf semi-legale Weise an undurchsichtige Unternehmer gingen, die mit dem Mandat ihr wirtschaftliches Engagement absicherten – hatte kaum jemand gerechnet. Mit dieser komfortablen Mehrheit im Parlament besitzt Selenskyj eine präzedenzlose Machtfülle und kann durchregieren.
Das eröffnet dem Land die Chance auf lang ersehnte tiefgreifende Reformen, die für den wirtschaftlichen Aufschwung dringend benötigt werden. Bereits im letzten Quartal stieg das Wirtschaftswachstum um unerwartet hohe 4,6 Prozent, die Löhne wuchsen im letzten Jahr um 20 Prozent, und im August meinten erstmals mehr als 50 Prozent der Bevölkerung, dass das Land sich in die richtige Richtung entwickle – noch vor wenigen Monaten lag dieser Wert bei 15 bis 20 Prozent.
Bei der Regierungsbildung, die in den letzten Wochen mit großer Spannung erwartet worden war, haben sich ebenfalls die »Zelennials«, wie Selenskyjs junge Anhängergeneration bereits bezeichnet wird, durchgesetzt. Die Ukraine hat nun nicht nur den jüngsten Premierminister – Olexij Hontscharuk (35) –, sondern auch das jüngste Parlament (Durchschnitt: 39 Jahre) in der Geschichte des Landes (und aktuell in Europa). Der Minister für digitale Transformation, Mychajlo Fedorow, ist gerade einmal 28 Jahre alt; Bildungsministerin Hanna Nowosad nur ein Jahr älter. Die neue Regierungsmannschaft soll vor allem signalisieren: Aufbruch, Energie und Reformen, um das Land vom (post-)sowjetischen Erbe zu befreien. Dafür stehen auch weitere Reformer wie der liberale Wirtschaftsminister Timofej Mylowanow, der im Westen geschätzte Außenminister Wadym Prystajko, der für europäische und euroatlantische Integration zuständige Dmytro Kuleba oder Gesundheitsministerin Sorjana Skalezka. Der angesehene Jurist Ruslan Rjaboschapka löste den umstrittenen Generalstaatsanwalt Jurij Luzenko ab.
Nun muss das junge und einen Neuanfang verheißende, aber zugleich auch unerfahrene Kabinett beweisen, dass es die zahlreichen Versprechungen auch umsetzen kann. Hontscharuk kündigte bereits an, das Bruttoinlandsprodukt in den nächsten fünf Jahren um 40 Prozent steigern zu wollen. Das wird angesichts der verschlafenen Reformen in den letzten zwei Jahrzehnten alles andere als einfach. Zumal einige Regierungsmitglieder auch Skepsis erwecken, so wie Innenminister Arsen Awakow, der als einer von nur zwei Ministern seinen Posten behielt. Ihm werden nicht nur große Versäumnisse nachgesagt, z. B. bei der schleppenden Polizeireform, sondern ihm wird auch immer wieder Korruption vorgeworfen. Mit seiner Ernennung lässt sich nur schwer verkaufen, dass Selenskyj mit dem alten korrupten System brechen will. Auch die Tatsache, dass der Selenskyj nahestehende und nach dessen Wahl aus dem Exil zurückgekehrte Oligarch Ihor Kolomojskyj schon vor Wochen Olexij Hontscharuk als Premier ins Spiel brachte, als diesen noch niemand auf dem Zettel hatte, macht zumindest stutzig. Dann ist da noch das irritierende Verhältnis zu den Medien: Selenskyj meidet Interviews; seine rechte Hand, der Leiter des Präsidialbüros Andrij Bohdan, erklärt, dass die neue Regierung keine Journalisten brauche, um zum Volk zu sprechen; und Premier Hontscharuk schloss kurzerhand Journalisten von den Kabinettssitzungen aus.
Und dennoch: Alles in allem überwiegt der positive Eindruck von der neuen Regierung. Sie hat es nun in der Hand, die Ukraine nachhaltig zu reformieren und durch wirtschaftlichen Aufschwung die Lebensbedingungen für Millionen von Menschen im ärmsten Land Europas zu verbessern.