Durchregieren mit einer komfortablen Mehrheit aus Newcomern? Die Ukraine nach der Parlamentswahl

Von Marcel Röthig (Friedrich-Ebert-Stiftung, Kiew)

Zusammenfassung
Noch nie hat ein neu gewählter Präsident in der Ukraine eine so große Parlamentsfraktion hinter sich gehabt. Das in der postsowjetischen Ukraine einmalige Machtmonopol der »Diener des Volkes« birgt Risiken und Chancen zugleich. Es wird zumindest im Parlament kein starkes Gegengewicht zu Präsident Selenskyj geben. Die Mega-Fraktion dürfte aber aufgrund ihrer Heterogenität, vieler unterschiedlicher Einflussgruppen und mitunter konkurrierender oligarchischer Interessen schwer zu kontrollieren sein. Mangelnde Erfahrung und Kompetenz einzelner Abgeordneter könnte zudem die Qualität der Gesetzgebung beeinträchtigen. Gleichzeitig verfügt das Team von Selenskyj über ein weit geöffnetes Fenster für Reformen zur Bekämpfung der Korruption sowie für die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage.

Parteienlandschaft durchgewirbelt

Das ohnehin vergleichsweise kurzlebige Parteiensystem, welches von weitestgehender Ideologielosigkeit und der Formierung einer Partei rund um eine oder wenige mehr oder weniger charismatische Führungspersönlichkeiten gekennzeichnet ist, dürfte mit dieser Wahl ein erneutes Extrem erreicht haben: Binnen weniger Monate wurde die Partei »Diener des Volkes«, die bislang praktisch nur auf dem Papier existierte, mit Leben gefüllt. In einem offenen Verfahren wurden die Kandidatinnen und Kandidaten für die Parlamentswahlen bestimmt. Diverser kann eine Partei kaum sein: Unter den allesamt erstmals gewählten Abgeordneten gibt es bekannte zivilgesellschaftliche Akteure, Geschäftsleute, Personen aus dem Showgeschäft und sogar einen Hochzeitsfotografen. Politisch scheint dieser bunte Haufen an überwiegend jungen Menschen, die nach den Wahlen alle auf einem einwöchigen Politik-Intensivschnellkurs für Einsteiger im Kurort Truskawez zusammenkamen, nichts zu verbinden außer ihr Vertrauen auf Wolodymyr Selenskyj sowie ihre Hoffnung auf eine bessere Ukraine. Ideologisch lässt sich die Partei kaum festlegen: Neben ordoliberalen und libertären Vorstellungen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik gibt es durchaus progressive Vorschläge im sozialen Bereich. Eine tatsächliche programmatische »Parteiwerdung« muss daher nun unter erstmaliger Regierungsverantwortung erfolgen, sollte »Diener des Volkes« keine weitere Eintagsfliege der ukrainischen Politik bleiben wollen, deren Stern mit drohender schwindender Zustimmung des Präsidenten wieder sinkt.

Mit dem Erdrutschsieg der »Diener des Volkes«, die 254 von 424 Mandaten errangen, ging das Verschwinden zahlreicher bekannter Gesichter aus der Werchowna Rada einher: Die »Narodnyj Front«, immerhin Sieger der letzten Parlamentswahl, ist gar nicht erst zu den jetzigen Wahlen angetreten. Poroschenkos »Europäische Solidarität« ist trotz »Re-Branding« arg geschrumpft. Der Rechtspopulist Oleh Ljaschko ist in der Bedeutungslosigkeit verschwunden und der reichste Mann der Ukraine, Rinat Achmetow, hat praktisch keinen seiner Statthalter mehr ins Parlament bringen können. Diese Parlamentswahlen bedeuten aber auch das Ende der von westlichen Partnern viel gelobten interparlamentarischen Gruppe der »Eurooptimisten«. Zwar hat diese Gruppe aus rund zwei Dutzend Abgeordneten infolge der »Revolution der Würde« wesentlich mehr Transparenz und demokratische Kultur in die Werchowna Rada gebracht und einige Reformen angestoßen. Letztlich sind sie jedoch daran gescheitert, kein gemeinsames parteipolitisches Projekt gestartet zu haben und daran, dass sie ihre eigenen Ambitionen nicht zugunsten eines gemeinsamen Ziels zurückgestellt haben.

Parlamentswahl bedeutet eine Zäsur und einen neuen oligarchischen Konsens

Erfreulich ist, dass die Parlamentswahlen insgesamt demokratisch, frei und transparent abliefen. Die Wahlbeteiligung betrug jedoch nur 49,8 Prozent und war damit die niedrigste in der Geschichte der Ukraine. Offenbar urlaubsbedingt war vor allem in den Industriezentren die Beteiligung geringer als auf dem Land. Regional war die Beteiligung im Osten und Süden stärker als in den anderen Teilen. Selenskyjs Newcomer-Partei »Diener des Volkes« erhielt 43 Prozent der Stimmen, die pro-russische »Oppositionsplattform – Für das Leben« 13 Prozent, Julija Tymoschenkos »Vaterland« 8,2 Prozent, Petro Poroschenkos »Europäische Solidarität« konnte den Abwärtstrend durch Mobilisierung ihrer verbliebenen Kernwählerschaft bei 8,1 Prozent stoppen. Die neu gegründete Partei des populären Rocksängers Slawa Wakartschuk »Holos« konnte mit 5,8 Prozent den ersten politischen Praxistest bestehen, allerdings wohl auch aufgrund der Stärke von »Diener des Volkes« mit einem eher bescheidenen Ergebnis. Sechs weitere Parteien sind nicht ins Parlament eingezogen, haben jedoch mehr als zwei Prozent der Stimmen erhalten und somit Anspruch auf eine staatliche Finanzierung: die nationalpopulistische »Radikale Partei« Oleh Ljaschkos, »Stärke und Ehre« des früheren SBU-Chefs Ihor Smeschko, Rinat Achmetows »Oppositionsblock«, die Partei Wolodymyr Hrojsmans »Ukrainische Strategie«, die pro-russische »Partiya Scharija« des Journalisten Anatolij Scharij sowie die rechtsextreme »Swoboda«.

Vertreter von »Diener des Volkes« haben vor allem in den Wahlkreisen gewonnen. Das ukrainische Grabenwahlsystem sieht ähnlich wie in Deutschland zwei Stimmen vor. Die Hälfte des 450 Sitze umfassenden Parlamentes wird über Wahlkreise, die andere Hälfte über Parteilisten gebildet. 26 Wahlkreise in den besetzten Gebieten werden dabei aktuell nicht besetzt. 130 Wahlkreise gingen allein an »Diener des Volkes«. Die »Oppositionsplattform – Für das Leben« und der »Oppositionsblock« gewannen jeweils sechst Wahlkreise im nicht-besetzten Teil des Donbas. »Holos« gewann drei Wahlkreise, »Vaterland« sowie »Europäische Solidarität« je zwei. Die restlichen 50 Mandate gingen an kleinere Parteien (darunter z. B. ein Mandat für die rechtsextreme Swoboda) oder parteiunabhängige Kandidat/innen, die sich oftmals der größten Fraktion anschließen.

Eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Wahl ist der Siegeszug des Labels »Diener des Volkes« in den Wahlkreisen gegen regionale Eliten und Oligarchen, die sonst üblicherweise sogar entgegen jedweder landesweiten politischen Konjunktur die Wahlkreise gewinnen. Zum ersten Mal verloren bekannte Politiker wie Boris Kolesnikow, Ihor Kononenko, Serhij Kiwalow, Wiktor Baloha, Jaroslaw Moskalenko, Iwan Rybak und andere einflussreiche regionale Eliten ihre sonst sicheren Wahlkreise. Vertreter der Partei von Selenskyj schlugen ihre Rivalen mit teilweise großem Vorsprung, ohne große Bekanntheit oder politische Erfahrung, mit unklarer ideologischer Ausrichtung und mit teilweise deutlich geringerem finanziellem Einsatz.

Rechnerisch ist »Diener des Volkes« mit 254 Abgeordneten nicht auf eine Koalition angewiesen, muss sich im Einzelfall aber zusätzliche Stimmen zum Erreichen einer verfassungsändernden Mehrheit holen. Zu solchen Situationen dürfte es vor allem bei kritischen Fragen zur Zukunft des Donbas oder der Annahme einer möglichen neuen Verfassung kommen. Bereits in der Frage der Abschaffung der parlamentarischen Immunität votierten in der ersten Lesung 363 Abgeordnete, in der zweiten sogar 373 für die Annahme dieses Gesetzes. Eine zumindest punktuelle Koalition oder Absprache mit »Holos« ist in solchen Fragen die wahrscheinlichste Option. Ein solches Zusammengehen hat vor allem bei kritischen Themen rund um die nationale Sicherheit den Vorteil, dass damit das (tendenziell eher in der Westukraine verortete) nationalpatriotische Klientel eingebunden wäre, welches Selenskyj gegenüber eher skeptisch eingestellt ist. Auch Julija Tymoschenkos Partei hat (zumindest für den Moment) erklärt, Präsident Selenskyj grundsätzlich unterstützen zu wollen.

Diese Wahl bedeutet aber auch die Konstituierung eines neuen oligarchischen Konsensus: Insbesondere Ihor Kolomojskyj, Wiktor Pintschuk und Arsen Awakow sind die Nutznießer der neuen Architektur der Macht. Der nun begonnene fünfjährige politische Zyklus wird im Kontext des Verteilungskampfes um Ressourcen und des oligarchischen Erbes von (geschwächter) Oligarchen wie Achmetow, Firtasch, Poroschenko und Medwedtschuk stattfinden.

(Außer-)parlamentarische Opposition

Eine – weniger wegen ihrer parlamentarischen Größe, sondern vielmehr wegen ihrer externen (Medien-)Ressourcen – ernst zu nehmende Opposition werden die pro-russische »Oppositionsplattform – Für das Leben« (43 Mandate) und Poroschenkos »Europäische Solidarität« (25 Mandate) bilden. Da die Parteien bei der Ämterverteilung im Parlament nur jeweils einen Ausschussvorsitz bekamen, werden sie vor allem die von ihnen kontrollierten Fernsehkanäle nutzen, um eine außerparlamentarische Opposition zu betreiben. Poroschenko muss zudem in die Offensive gehen, um sein politisches Überleben zu sichern: Sollte er zu schwach sein, dürften sich innerparteiliche Rivalen aufschwingen. Die aktuell gegen Poroschenko im Raum stehende juristische Strafverfolgung könnte ihn politisch zusätzlich schwächen.

Der heimliche Anführer der »Oppositionsplattform – Für das Leben«, Wiktor Medwedtschuk (Wladimir Putin ist Taufpate seiner Tochter), tritt zuletzt immer selbstbewusster auf und dürfte nun die Rolle des inoffiziellen Oppositionsführers wahrnehmen, die er zudem bestens durch sein wachsendes Medienimperium ausfüllen kann. Nicht zu vergessen ist, dass sich Poroschenko und Medwedtschuk trotz aller politischer Unterschiede lange kennen und Medwedtschuk letztlich während Poroschenkos Präsidentschaft sein Wirtschaftsimperium ausbauen konnte: Etwa durch das Monopol im Diesel-Handel und den Erwerb mehrerer Fernsehsender, die er in den letzten Jahren unter seine Kontrolle brachte. Zwar werden Medwedtschuk und Poroschenko kein Bündnis eingehen, jedoch unterschiedliche Rollen in der Opposition wahrnehmen: Medwedtschuk dürfte die pro-russische Karte spielen, während Poroschenko Selenskyj den Ausverkauf nationaler Interessen unterstellen dürfte. Bewusste Provokationen Medwedtschuks, wie seine öffentlichkeitswirksamen Besuche in Russland oder mit der Regierung nicht abgestimmte Verhandlungen im Gassektor dürften angesichts der Verhandlungen über Gefangenenaustausch und Gaslieferverträge zunehmen. Es ist durchaus möglich, dass die Fraktion »Oppositionsplattform – Für das Leben« durch den »Zukauf« anderer (größtenteils fraktionsloser) Abgeordneter zudem noch wächst (laut unbestätigten Angaben kostet ein Übertritt zwischen zwei bis fünf Millionen US-Dollar). Zudem ist es Medwedtschuk gelungen, die konkurrierenden Kräfte von Rinat Achmetow auszustechen. Mit Jurij Boiko, Wadym Rabinowytsch und Medwedtschuk an der Parteispitze hat sich der klar pro-russische Teil des ehemaligen Janukowytsch-Lagers gegen die Rinat Achmetow nahe stehenden Donezker Eliten, die die Ukraine lange Zeit praktisch kontrollierten, durchgesetzt. Nimmt man zudem die Ergebnisse weiterer mehr oder weniger pro-russischer Parteien hinzu, so kommt das pro-russische Lager auf etwa 20 Prozent. Gelingt es diesem perspektivisch, sich wie 2006 und 2010 wieder zusammenzuschließen und auf Frustration angesichts anhaltender wirtschaftlicher und sozialer Talfahrt und mögliche Enttäuschung über Selenskyjs leere Versprechungen zu bauen, so ist eine Rückkehr zu alter Stärke durchaus möglich.

Eine schwer zu kontrollierende Fraktion

Im Team von Selenskyj herrscht bei aller Freude auch die Sorge darüber, diese große Fraktion nicht konsequent steuern und disziplinieren zu können. Die ersten Entscheidungen des neuen Parlamentes betrafen daher vor allem die Partei- und Fraktionsdisziplin. Es gibt offenbar ca. 30 Mitglieder der Fraktion, bei denen Unklarheit bezüglich ihrer Parteiräson besteht und die deshalb einer effektiveren Kontrolle unterzogen werden sollen. Darüber hinaus wird die Fraktion »Diener des Volkes« in 10 Untergruppen aufgeteilt, um die Parteidisziplin effektiv zu kontrollieren. Jede Gruppe besteht aus ca. 25 Abgeordneten. Diese Gruppen formieren sich nach der Herkunft ihrer Mitglieder: Es gibt Gruppen, die unterschiedlichen Oligarchen nahe stehen (Kolomojskyj, Surkis, die Shefir-Brüder, Awakow), die sich aus der Zivilgesellschaft und liberalen Kräften zusammensetzen, aber auch Pharmazie-, Lotterie-, Agrar-, und IT-Lobbygruppen sowie eine Gruppe, die der TV-Produktionsfirma von Selenskyj, »Kwartal 95«, nahesteht. Diese informelle Fraktionsaufteilung gleicht dem früheren Modell von »BPP-Solidarität« und der »Partei der Regionen«.

Die unterschiedlichen Einflusszentren und das Fehlen einer zentralisierten Finanzierung der Abgeordneten sind ein Hauptproblem für die künftige Präsidentschaftsfraktion. Einige Abgeordnete erhalten neben ihrer Diät eine »Zuwendung« von Oligarchen und anderen Sponsoren, während die übrigen Abgeordneten keine derartigen Zulagen haben. Daher dürfte schon bald eine deutliche Erhöhung der Abgeordnetendiäten auf mindestens 150.000 UAH pro Monat (ca. 5.350 Euro) erfolgen, obwohl es das Problem der Parteidisziplin und des Einflusses von Oligarchen nur begrenzt wird lösen können. Abgerundet würde diese Maßnahme durch die bereits erfolgte Abschaffung der Abgeordnetenimmunität und eine strenge Kontrolle durch unabhängige Anti-Korruptionsbehörden. Das Team von Präsident Selenskyj handelt daher, wenn es um die Stärkung der Transparenz und Anti-Korruption geht, letztlich auch im Interesse des eigenen Machterhalts. Gelingt diese Disziplinierung der Abgeordneten nicht, dürfte sich letztlich auch die größte Fraktion in der Geschichte der Werchowna Rada als wenig effizient erweisen.

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