Einleitung
Ende des Jahres läuft nach zehn Jahren Laufzeit der ukrainisch-russische Vertrag über den Transit von russischem Gas durch die Ukraine Richtung Westen aus. Beide Länder zeigen Bereitschaft, einen neuen Vertrag auszuhandeln. In westlichen Medien wächst allerdings die Befürchtung, dass die laufenden Verhandlungen erneut zu einer Eskalation der Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine und zu einem Lieferstopp in die europäischen Länder führen könnten, wie es im Jahr 2009 der Fall war. Damals stellte Russland aufgrund fehlender Lieferverträge für fast zwei Wochen die Gaslieferungen durch die Ukraine ein. Dies führte zu erheblichen Problemen mit der Energieversorgung in mehreren europäischen Ländern. Im Januar 2009 einigten sich die Ukraine und Russland mithilfe der Europäischen Union auf zehnjährige Gaslieferungs- und Transitverträge. Allerdings wurden die Vertragsbedingungen wegen Uneinigkeiten über die Preise für die Gasimporte, Transitgebühren und Liefervolumen wiederholt nicht eingehalten, was immer wieder zu Lieferstopps von russischem Gas in die Ukraine führte. Zudem bezieht die Ukraine seit November 2015 kein Gas mehr direkt aus Russland.
Seit mehreren Monaten laufen Verhandlungen zwischen der Ukraine, Russland und der EU-Kommission. Trotz der Vermittlungsbemühungen der westlichen Diplomaten sind die Gespräche bisher kaum vorangekommen, da die Ziele, Sichtweisen und Erwartungen beider Länder zu unterschiedlich sind.
Der vorliegende Beitrag stellt kurz die wesentlichen Streitigkeitspunkte vor und erläutert die Ausgangspositionen beider Länder in den Verhandlungen. Danach analysiert der Beitrag den Verlauf der bisherigen Gespräche, deren Ziele und Ergebnisse und diskutiert abschließend mögliche Szenarien für die Zukunft der ukrainisch-russischen Gasbeziehungen.
Die bilateralen Gasbeziehungen nach 2009
Laut dem Gaslieferungsvertrag, der im Januar 2009 von der damaligen ukrainischen Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin für einen Zeitraum von zehn Jahren abgeschlossen wurde, verpflichtete sich der staatliche ukrainische Energiekonzern Naftohas dazu, jährlich 52 Milliarden Kubikmeter Gas vom staatlichen russischen Gazprom-Konzern abzunehmen. Davon waren 41,6 Milliarden Kubikmeter Gas mit einer »Take-or-Pay«-Klausel abgesichert. Diese Abnahmemenge musste Naftohas in jedem Fall bezahlen – unabhängig davon, ob das Unternehmen tatsächlich so viel Gas abnahm, oder nicht. Gazprom erhielt zudem das Recht, im Falle einer Reduktion der Abnahme russischen Gases, hohe Geldstrafen von Naftohas zu verlangen. Für die Gaslieferungen wurde ein Preis vereinbart, der auf 450 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter basierte; allerdings gab es darauf einen Rabatt von 20 Prozent.
Gazprom hat sich wiederum im bilateralen Transitvertrag verpflichtet, jährlich mindestens 110 Milliarden Kubikmeter Gas durch die Ukraine nach Europa zu pumpen. Im Falle der Nichteinhaltung der Vertragsbedingungen hat sich jede Seite dazu bereit erklärt, der anderen Seite den nachgewiesenen Schaden zu begleichen.
Ab 2011 begann die Ukraine aus verschiedenen Gründen, ihren Gasbedarf und damit die Gasimporte aus Russland kontinuierlich zu reduzieren. Infolgedessen sank die Abnahme von russischem Gas, von 40 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2011 auf 28 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2013. Russland reagierte darauf mit der Verschärfung der Vertragsbedingungen, allerdings ohne großen Erfolg.
Die Energiebeziehungen verschlechterten sich weiterhin im Zuge der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im Jahr 2014 und dem militärischen Konflikt im Donbas. Gazprom schaffte damals die gewährten Preisrabatte auf Gaslieferungen ab und erhöhte die Gaspreise signifikant. Die ukrainische Regierung reagierte darauf unter anderem mit der Einstellung der Gaslieferungen in die betroffenen Regionen und mit der weiteren Senkung der russischen Gasimporte, wodurch sich 2014 die Gasimporte auf 14,5 Milliarden Kubikmeter Gas verringerten. Im November 2015 stellte Naftohas den direkten Kauf von russischem Gas dann wie erwähnt komplett ein. Stattdessen setzte das Unternehmen in den letzten Jahren auf den »Reverse Flow« und bezog russisches Gas, das eigentlich für den europäischen Markt vorgesehen war, überwiegend aus der Slowakei – ohne direkt bei Gazprom einzukaufen.
Mit der Inbetriebnahme der von Russland über die Ostsee direkt nach Deutschland verlaufenden Nord Stream-Pipeline begann Gazprom 2011, seine Gaslieferungen nach Europa durch die Ukraine schrittweise zu reduzieren. Das rief auf der ukrainischen Seite große Proteste hervor und verletzte die Vertragsvereinbarungen über den Gastransit.
Als Ergebnis warfen sich beide Seiten gegenseitig Vertragsbruch vor und zogen vor das Schiedsgericht in Stockholm. 2017 beliefen sich die Forderungen von Gazprom gegen Naftohas im Stockholmer Schiedsverfahren auf 37 Milliarden US-Dollar und die Forderungen von Naftohas gegen Gazprom auf 27 Milliarden US-Dollar.
Im Dezember 2017 verkündete das Stockholmer Schiedsgericht seine erste Entscheidung, und zwar bezüglich der russischen Gaslieferungen an die Ukraine. Es ordnete Naftohas an, rund zwei Milliarden US-Dollar an Gazprom zu zahlen und den Gaskauf aus Russland wieder aufzunehmen. Außerdem wurde angeordnet, den obligatorischen »Take-or-Pay«-Gasumfang von 41,6 Milliarden Kubikmeter auf vier Milliarden Kubikmeter pro Jahr zu reduzieren. Darüber hinaus wurden die finanziellen Schadenersatz-Forderungen von Gazprom von 37 Milliarden US-Dollar auf 2 Milliarden US-Dollar reduziert. Zudem ordnete das Schiedsgericht Gazprom an, die Lieferpreisformel zu überarbeiten und den Gaspreis für seine Lieferungen in die Ukraine an die europäischen Marktpreise anzupassen.
Im Februar 2018 folge die zweite Entscheidung des Stockholmer Schiedsgerichtes, diesmal bezüglich des Transits russischen Gases nach Europa über ukrainisches Territorium. Das Gericht verpflichtete Gazprom zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 4,6 Milliarden US-Dollar (d. h., netto 2,6 Milliarden US-Dollar), die das russische Unternehmen wegen nicht erfüllter Gastransitlieferungen an Naftohas zahlen müsse.
In Reaktion darauf reichte Gazprom im Sommer 2019 eine Gegenklage beim Stockholmer Schiedsgericht ein. Die Entscheidung des Gerichts steht kurz bevor und soll noch im November erfolgen. Außerdem teilten Vertreter des russischen Gasmonopolisten mit, dass sie dazu bereit wären, die auslaufenden Verträge mit Naftohas aufzukündigen und sie nicht zu verlängern, falls die Interessen Russlands nicht berücksichtigt würden.
Der stellvertretende Leiter von Naftohas teilte wiederum Anfang November mit, dass sein Unternehmen auf die Klage von Gazprom mit einer Gegenklage in Höhe von 12 Milliarden US-Dollar reagiert hat und wies darauf hin, dass dieser Betrag eine Entschädigung für die mögliche Beendigung des russischen Gastransits sei. Welche Konsequenzen diese jüngste Entwicklung für den weiteren Verlauf der bilateralen Verhandlungen über den neuen Transitvertrag haben wird, lässt sich zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht genau sagen.
Die Streitpunkte der aktuellen Transitverhandlungen
Derzeit werden verschiedene Optionen für den Gastransit ab 2020 diskutiert. Alle russischen Vorschläge konzentrieren sich dabei auf drei Voraussetzungen:
Russland wäre bereit für einen neuen Vertrag, wenn Naftohas alle Klagen, einschließlich der Forderung nach Schadensersatzzahlung in Höhe von 4,6 Milliarden US-Dollar, vollständig einstellt.Die Ukraine soll das Gas wieder direkt bei Gazprom einkaufen (statt wie aktuell per »Reverse-Flow« zu beziehen) und dafür ein Abkommen mit Gazprom unterzeichnen. Dafür wäre die russische Seite bereit, die vereinbarte Gasmenge zu einem Preis zu liefern, der 20 Prozent unter dem Preis liegt, den die Ukraine aktuell für ihre Gasimporte per »Reverse Flow« an die Slowakei etc. zahlt.Die Ukraine soll das Dritte Energiepaket der EU zur Liberalisierung der Gasmärkte bis Ende 2019 komplett umsetzen.
Die letzte Voraussetzung ist auch im Sinne der Ukraine selbst, da Kiew in Energiefragen eine intensive Zusammenarbeit mit der EU anstrebt. Als Mitglied der Energy Community, die die EU mit einigen osteuropäischen Staaten für die Etablierung eines einheitlichen Energiemarkts gegründet hat, verpflichtete sich die Ukraine unter anderem dazu, Naftohas gemäß EU-Recht in drei unabhängige Unternehmen aufzuteilen, die für Produktion, Transport und Vertrieb zuständig sind. Der entsprechende Gesetzentwurf wurde im September 2019 in erster Lesung vom Parlament genehmigt. Laut Entwurf soll ein neuer Leitungsbetreiber, »Mahistralnyje Hasoprowody Ukraini« (MGU) etabliert und der Aufsicht des Finanzministeriums unterstellt werden. Dem neuen Unternehmen soll das nationale Gastransportsystem, einschließlich der Untergrundspeicher, übertragen werden.
Der neue Leitungsbetreiber muss den europäischen Regeln zufolge seine Kapazitäten nach dem Auktionsprinzip anbieten. Gazprom erwägt aktuell, die benötigten Kapazitäten für die Gasdurchleitung auf der Auktionsplattform zu reservieren, ohne einen neuen langfristigen Transitvertrag zu unterzeichnen. Allerdings ist die auktionsbasierte Option für die ukrainische Regierung nicht sehr attraktiv, weil sie mit weniger Planungssicherheit für die Gaslieferungen verbunden ist.
Damit der Leitungsbetreiber MGU seine Aufgaben erfüllen kann, muss er zunächst einen europäischen Zertifizierungsprozess durchlaufen. Dieser Zertifizierungsprozess wird nach Expertenschätzungen vermutlich mindestens sechs Monate dauern. Die Europäische Kommission hat sich dazu bereit geklärt, die Ukraine dabei zu unterstützen. Gleichzeitig besteht Moskau auf ein eigenes Gutachten und darauf, dass es eine eigene juristische Expertise in Bezug auf die mit dem Zertifizierungsprozess zusammenhängende europäische Gesetzgebung durchführt. Falls es dazu käme, würde das ebenfalls viel Zeit in Anspruch nehmen. In diesem Zusammenhang gibt es Bedenken, dass der ukrainische Pipelinebetreiber nicht dazu in der Lage wäre, seine Arbeit wie geplant am 1. Januar 2020 aufzunehmen. Moskau hat bereits angekündigt, dass Russland in diesem Fall bereit wäre, das auslaufende Transitabkommen für einen kurzen Zeitraum zu verlängern.
Die EU-Kommission und die Ukraine lehnen diese Option jedoch ab. Sie argumentieren, dass eine Verlängerung rechtlich nicht möglich wäre, weil nicht mehr Naftohas, sondern der neue Pipelinebetreiber MGU für den Transit zuständig sei. Stattdessen schlagen sie Russland einen Transitvertrag über zehn Jahre oder länger vor mit einem Volumen von 40 bis 60 Milliarden Kubikmetern Gas jährlich und einer »Ship-or-Pay«-Klausel. Diese Klausel sieht vor, dass Gazprom sich verpflichtet, den vereinbarten Gasumfang durch das ukrainische Pipelinesystem zu pumpen und die entsprechenden Transitgebühren zu zahlen – auch im Falle einer Verringerung der Liefermenge. Außerdem soll Russland die Lieferung von zusätzlich flexiblen Gasmengen jährlich garantieren. Und die Transittarife sollen nicht mehr bilateral, sondern nach europäischen Regeln bestimmt werden. Darüber hinaus räumt die EU-Kommission ein, dass Gazprom zunächst die Kapazität des ukrainischen Systems für die ersten sechs Monate 2020 reservieren könnte, aber danach ein längerfristiger Transitvertrag abgeschlossen werden sollte. Die Anforderung von Moskau, die Schuldenzahlungen zu annullieren, lehnen sowohl die Ukraine als auch die EU-Kommission kategorisch ab. Ein langfristiger Transitvertrag, der auf europäischen Regeln basiert, ist von großer Bedeutung für Kiew, da er zum einen als wichtige Absicherung für die Einnahmen von Transitgebühren für den Staatshaushalt gesehen wird. Zum anderen erhofft sich Kiew dadurch zusätzlichen Schutz für die nationale Sicherheit – und Druckmechanismen gegen die aggressive Politik Moskaus gegenüber der Ukraine.
Dies entspricht aber nicht den russischen Interessen. Gazprom rechnet damit, dass seine zwei neuen Pipelines – die parallel zu Nord Stream 1 (NS1) verlaufende Nord Stream 2 (NS 2) Pipeline mit einer Kapazität von 55 Milliarden Kubikmetern Gas pro Jahr sowie die durch das Schwarze Meer verlaufende TurkStream-Pipeline mit einer Kapazität von 31,5 Milliarden Kubikmetern Gas – das ukrainische Transitnetz schon Anfang nächsten Jahres ersetzen werden. Allerdings gehen aktuelle Expertenprognosen davon aus, dass NS2 zumindest 2020 nur zur Hälfte ausgelastet sein wird.
Darüber hinaus hat Gazprom schon 2016 damit begonnen, die Gastransportinfrastruktur, die Gas an die ukrainische Grenze liefert, schrittweise stillzulegen. Bis 2030 sollen Pipelines mit einer Gesamtlänge von mehr als 10.000 Kilometern aus dem Betrieb genommen werden, sodass praktisch keine Gastransporte aus Russland in die Ukraine mehr möglich wären.
Weitere mögliche Entwicklungen
Die nächste Verhandlungsrunde zwischen der EU-Kommission, der Ukraine und Russland soll Ende November stattfinden. Allerdings geht Gazprom geschwächt in diese Runde, trotz der jüngst erteilten Genehmigung aus Kopenhagen, die NS2-Pipeline vor der dänischen Insel Bornholm verlegen zu dürfen. Nach einem Urteil des Gerichts der Europäischen Union (EuG) im September verlor das Unternehmen die Möglichkeit, einen Teil der Kapazitäten der OPAL-Gaspipeline zu nutzen. Diese Pipeline ist die Verlängerung der NS1-Pipeline und transportiert russisches Gas vom Anlandepunkt in Lubmin über Brandenburg und Sachsen nach Tschechien. Die EuG-Entscheidung zwang Gazprom dazu, seine Gaslieferungen über die OPAL-Pipeline nach Mitteleuropa zu halbieren. Der Verlust wird aktuell durch den Transit über ukrainische Pipelines kompensiert. Auch die Tatsache, dass bis Ende des Jahres, wenn der Transitvertrag mit der Ukraine ausläuft, weder Nord Stream 2 noch TurkStream fertiggestellt sein werden, schwächt die russische Verhandlungsposition. Ohne diese beiden Leitungen und unter Berücksichtigung der EuG-Entscheidung über OPAL wird Gazprom im kommenden Jahr bis zu 80 Milliarden Kubikmeter Gas durch die Ukraine pumpen müssen. Erst nach Inbetriebnahme der zwei neuen Pipelines wird das Volumen auf 20–30 Milliarden Kubikmeter sinken können.
Darüber hinaus stellen das sogenannte »Dritte Energiepaket« der EU und insbesondere die im April 2019 geänderte Gasrichtlinie Gazprom vor die Notwendigkeit, das Agieren auf dem europäischen Gasmarkt grundlegend zu ändern. Das betrifft vor allem NS2. Denn zu den wichtigsten EU-Vorgaben zählen die eigentumsrechtliche Entflechtung und der Zugang für Dritte zu der Pipeline. Gegenwärtig erfüllt die NS2-Pipeline diese zwei Anforderungen nicht. Um sie zu erfüllen, müsste Gazprom zunächst einen unabhängigen Betreiber schaffen. Die deutsche Regulierungsbehörde (Bundesnetzagentur) müsste dann entscheiden, ob dieser Betreiber tatsächlich unabhängig von Gazprom arbeitet. Im nächsten Schritt muss diese Entscheidung von der EU-Kommission genehmigt werden. Gazprom, hundertprozentiger Eigentümer von NS2, wehrt sich dagegen, weil diese Entflechtung die Rentabilität des Milliardenprojekts erheblich belasten würde. Medienberichten zufolge hat Gazprom in die Trickkiste gegriffen und eine Gesellschaft gegründet, in die ein Teilstück der Pipeline, das die letzten zwölf Seemeilen umfasst, ausgelagert werden kann. Dies geschieht mit der Unterstützung der deutschen Regierung, die aktuell versucht, die Übertragung von EU-Vorschriften in nationales Recht bezüglich NS2 aufzuweichen. [Am 13.11.2019 beschloss der Bundestag die Umsetzung der EU-Gasrichtlinie in nationales Recht, schuf jedoch zugleich eine Möglichkeit für Ausnahmeregelungen, die im Einzelfall geprüft werden müssen und Unternehmen von bestimmten Vorschriften der Richtlinie befreien könnten, Anm. d. Red.] Experten schließen einen Rechtsstreit mit der EU-Kommission diesbezüglich nicht aus.
In diesem Rahmen könnten auch die Gegner der Pipeline, einschließlich der baltischen Staaten und Polen, zu Wort kommen, was das Verfahren kompliziert und schwer vorhersehbar machen könnte. Auch die USA beteiligen sich aktiv an der Debatte und versuchen durch die Androhung von Sanktionen, die Fertigstellung von NS2 zu verhindern.
Wie die jüngste Entscheidung des EuG bezüglich des Gastransports durch die OPAL-Pipeline zeigt, können die NS2-Gegner Gazproms Strategie zunichtemachen. Ein ähnlicher Rechtsstreit droht auch der sich aktuell im Bau befindenden EUGAL-Pipeline, die weitgehend parallel zu OPAL verläuft und für den Transit von NS2-Gas nach Tschechien vorgesehen ist.
Falls die Verhandlungen sich noch über den Jahreswechsel hinziehen, könnte es im Extremfall zu Lieferunterbrechungen kommen. Die Ukraine bereitet sich für dieses Worst-Case-Szenario vor. Naftohas hat seine Gasspeicherbestände auf 21,6 Milliarden Kubikmeter erhöht und geht davon aus, dass die Ukraine den kommenden Winter auch ohne russisches Gas überstehen würde. Hier ist wichtig anzumerken, dass es Kiew in den letzten Jahren bereits gelungen ist, durch seine Diversifizierungstrategie das russische Gasmonopol auf dem ukrainischen Markt zu brechen. 2017 importierte die Ukraine 8,6 Milliarden Kubikmeter Gas aus der Slowakei. Die Exportkapazität von Gas aus Polen in die Ukraine soll in den kommenden Jahren von aktuell etwa zwei Milliarden Kubikmetern auf mehr als sechs Milliarden Kubikmeter ausgebaut werden. Die Umsetzung von EU-Projekten zum Ausbau der notwendigen Gaspipeline-Verbindungen und von LNG-Importterminals soll die Diversifizierung weiter vorantreiben und die Ukraine stärker ins europäische Gasnetz integrieren. Demnächst wird die Ukraine auch Flüssiggas-Lieferungen aus den USA erhalten, die konkurrenzfähige Preise und mehr Flexibilität durch kurzfristige Spotmarktpreise bieten werden. Diese Entwicklungen werden die Energiesicherheit des Landes verbessern und Kiews Position in den Verhandlungen gegenüber Russland wesentlich stärken.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Ukraine für Gazprom weiterhin von Bedeutung bleiben wird. Das ukrainische Transitsystem bietet Flexibilität und Zuverlässigkeit bei akuten Nachfragesteigerungen oder -senkungen in europäischen Ländern. Denn wegen der Schließung von Gasfeldern in den Niederlanden, der angestrebten Dekarbonisierung und dem Ausbau erneuerbarer Energien wird die europäische Nachfrage mittelfristig schwerer vorauszusehen sein, was einer flexibleren Strategie bedarf. Dies können die neuen Pipelines NS2 und TurkStream nicht garantieren.
Außerdem verfügt die Ukraine über enorme Speicherkapazitäten, die für Gazprom wichtig sind, da das Unternehmen das volle Potenzial der neuen Pipelines wegen der aktuellen Nutzungseinschränkungen nicht ausschöpfen kann. Die europäischen Rahmenbedingungen verlangen eine radikale Umstrukturierung, zu der Gazprom derzeit nicht bereit scheint: Eine eigentumsrechtliche Entflechtung und der Zugang Dritter zu den Pipelines werden mittel- bis langfristig nicht zustande kommen. Daher sind neue Rechtsstreitigkeiten mit der EU und weitere Einschränkungen für Gazproms Gasexporte nach Europa nicht auszuschließen. Falls es bis Ende des Jahres keinen neuen Transitvertrag mit der Ukraine geben sollte, muss Gazprom sich außerdem auf massive Klagen europäischer Verbraucher einstellen, was zu erheblichen finanziellen Belastungen führen könnte. Daher würden mögliche Unterbrechungen der Gaslieferungen nicht nur für die Ukraine große Verluste an Transitgebühren bedeuten, sondern auch für Gazprom.
Gleichzeitig baut die Ukraine mithilfe einer Diversifizierungsstrategie ihre Abhängigkeit von Gazprom weiterhin massiv ab. Dies bedeutet für Gazprom nicht nur einen Marktverlust, sondern auch den Verlust wichtiger Einnahmen. Darüber hinaus wird es Gazprom schwer haben, mit steigenden LNG-Lieferungen auf dem europäischen Markt zu konkurrieren. Gazprom braucht die Ukraine daher, um den Marktanteil auf dem europäischen Markt stabil zu halten.
Daher ist davon auszugehen, dass ein neuer Transitvertrag in absehbarer Zeit unterzeichnet wird. Die Vertragsdauer und die genauen Bedingungen werden stark davon abhängen, ob die Ukraine es schafft, die EU-Regeln rechtzeitig umzusetzen, ob sich die Vertragspartner bezüglich direkter Gaslieferungen einigen und ob in der Frage der Strafzahlungen eine für beide Seiten akzeptable Lösung gefunden wird. Nicht zuletzt werden dabei auch die politischen Entwicklungen in beiden Ländern und die Kompromissbereitschaft ihrer politischen Eliten eine große Rolle spielen.