Selenskyjs »integrativer Populismus«

Von Oleksii Viedrov (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)

Zusammenfassung
Der Wahlsieg von Wolodymyr Selenskyj 2019 lässt sich nicht nur damit erklären, dass die Mehrheit der Bevölkerung für einen radikalen personellen Neuanfang der ukrainischen Politik stimmte. Selenskyj verstand es auch durch eine inklusive Rhetorik, in der er trotz aller Unterschiede stets die Gemeinsamkeiten betont, gesellschaftlich ausgegrenzte Gruppen anzusprechen und die kriegsmüde Bevölkerung davon zu überzeugen, dass er ein Ende des Konflikts im Donbas zu für die Ukraine akzeptablen Konditionen anstrebt.

Trotz der Meinungsumfragen, die bereits im Januar 2019 Selenskyjs Wahlsieg prognostizierten, kam die Wahl eines Komikers und politischen Außenseiters für viele politische Beobachter unerwartet und es wurde nach Erklärungen für das historische Ergebnis von Selenskyj gesucht. Diese Tatsache wirft einen Blick auf eine tiefe gesellschaftliche Kluft in der Ukraine: Auf der einen Seite die breite Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung, auf der anderen die elitären universitären, medialen und politischen Milieus, die Selenskyj mit Skepsis beäugten. Nicht nur aus Umfragen, sondern auch aus vielen Gesprächen wurde schnell klar, wie groß in der breiten Gesellschaft die Ablehnung der politischen Eliten und des herrschenden Diskurses war, für die allen voran Präsident Poroschenko stand. Selenskyjs Wahl lässt sich daher sicherlich durch den Wunsch erklären, die »alten Eliten« von der politischen Szene wegzufegen. Doch es gab auch weitere Gründe für seine Wahl, die durchaus nachvollziehbar sind, aber bisher wenig thematisiert wurden.

Eine wichtige Rolle spielten Identitätsfragen. Seit 2014 und vor allem nach 2016 entstanden immer neue, scharfe Konfliktlinien in der ukrainischen Gesellschaft, da sich immer größere gesellschaftliche Gruppen ausgegrenzt fühlten: Zunächst prorussische Bürger, Maidan-Gegner sowie Kommunisten, später ein wesentlicher Teil der russischsprachigen Bevölkerung, der die aktuelle Sprachpolitik ablehnte, und Mitglieder der Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats. Jüngst kamen einige ethnische Minderheiten hinzu, wie z. B. Ungarn oder Rumänen, die sich aufgrund der Bildungs- und Sprachpolitik diskriminiert fühlen. In den Augen dieser Gruppen ist der Staat in ihre Lebenswelt eingedrungen und hat ihre Mitbestimmungsrechte ausgehöhlt. Dieses Gefühl wurde verstärkt und zugespitzt durch die nationalkonservative Wahlkampagne Poroschenkos, der auf »Armee, Glaube, Sprache« setzte. Man kann Menschen, die sich nicht als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt fühlen, durchaus verstehen, wenn sie an der Wahlurne gegen die politischen Kräfte stimmen, die in ihren Augen für diese Ausgrenzung verantwortlich sind.

Selenskyj punktete in diesen Gruppen durch seine inklusive Rhetorik. Seine Message bestand darin, dass die Ukraine eine multikulturelle Gesellschaft sei, in der Menschen ungeachtet ihrer kulturellen, politischen oder sonstigen Weltanschauung oder Verortung als gleich- und vollwertige Bürger anerkannt werden können und müssen. Dabei sei aber die Unabhängigkeit des Landes und das souveräne Recht auf einen selbstbestimmten innen- und außenpolitischen Kurs nicht in Zweifel zu ziehen – was unter aktuellen Umständen eine pro-europäische Orientierung bedeutet. Das mag einfach und trivial klingen, aber die etablierten politischen Kräfte kamen nicht auf die Idee, dass dieses Konzept von den Wählerinnen und Wählern honoriert würde. Die emotionale Neujahrsrede von Selenskyj, in der er trotz aller Probleme die Einheit des Landes in seiner Diversität beschwor und alle einbezog, kam in der breiten Bevölkerung gut an und bestätigte seinen integrativen Ansatz.

Zweitens ist die Sehnsucht nach Frieden in der Bevölkerung sehr groß. Die Mehrheit der Ukrainer ist bereit, Kompromisse im Donbas zu akzeptieren, wenn auch nicht um jeden Preis. Viele sind der täglichen Kampfhandlungen und immer neuen Opfer in diesem Stellungskrieg überdrüssig und wünschen sich auch von der ukrainischen Seite mehr Initiative bei den Friedensverhandlungen. Diesen Wunsch haben die etablierten Eliten wiederum verkannt – und entweder auf eine kompromisslose »Bekämpfung der russischen Aggression« gesetzt oder aber, wie die pro-russische »Oppositionsplattform«, die bedingungslose Umsetzung des Minsker Abkommens nach Moskaus Spielregeln gefordert. Hier war ein immenses elektorales Feld zugänglich, was Selenskyj auszunutzen wusste.

Für das Wahlergebnis war dieser Kurs, den man vielleicht als »integrativen Populismus« bezeichnen könnte, von entscheidender Bedeutung. Selenskyj hat es einerseits verstanden, sein enormes symbolisches Kapital in politisches Kapital umzumünzen (der relativ populäre Kiewer Bürgermeister und ehemalige Boxer Witalij Klitschko ist ein weiteres Beispiel dafür). Und gleichzeitig thematisierte Selenskyjs Kampagne vor allem solche Probleme, die für viele Wähler außerordentlich wichtig waren, und zwar in einer Art und Weise, die den Erwartungen ebendieser Wähler entsprach, die aber von den etablierten politischen Kräften nicht aufgegriffen wurden.

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