Einleitung
Ausgangspunkt für die Erstellung der Szenarien sind einige Annahmen darüber, wie der Kreml seine militärpolitischen Chancen und Risiken einschätzt, die sich aus der aktuellen Situation im Donbas und dem Verhandlungsprozess mit dem Team des Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, ergeben.
Es wird davon ausgegangen, dass Kiew nur im Falle einer Blockade der gefährlichsten Aktionen Russlands und der Verhinderung offensichtlich fehlerhafter Initiativen der ukrainischen Führung die Gelegenheit erhält, seine Kontrolle über die Entwicklung des Konflikts zu stärken und einer Lösung näher zu kommen, die seinen Interessen entspricht.
Die folgenden fünf Szenarien reichen von den beiden unter den gegenwärtigen Bedingungen wahrscheinlichsten Varianten, nämlich einer 1) schnellen Beilegung des Konflikts nach russischen Bedingungen und 2) Aufzwingen eines »eingefrorenen« Konflikts im Donbas, über 3) den Abbruch des Friedensprozesses bis hin zu den zwei weniger wahrscheinlichen – 4) den Krieg bis zur Zermürbung und 5) einer allmählichen Konfliktbeilegung auf Grundlage der vollständigen territorialen Integrität der Ukraine.
Die jüngsten Ereignisse zeigen, dass zwischen beiden Ländern ein neuer Dialog über Wege aus dem Konflikt begonnen hat. Andrij Jermak wurde zum Leiter des Präsidentenbüros ernannt, also de facto zum zweitwichtigsten Beamten des Landes. Bereits im September 2019 verkündete er, dass Präsident Selenskyj als der Mann in die Geschichte eingehen werde, der den Krieg beendete. Mit dem Namen Jermak sind in der Ukraine auch zwei erfolgreiche Runden des Austauschs von in Russland inhaftierten ukrainischen Bürgern und Kriegsgefangenen verbunden, insbesondere die Freilassung des bekannten Regisseurs Oleh Senzow. Der stellvertretende russische Ministerpräsident, Dmitrij Kosak, bezeichnete Jermak als wesentlichen Motor des neuen Vertrags über den Transit von russischem Gas durch die Ukraine nach Europa.
Im Januar zeugte ein Umbau innerhalb der höchsten Ebene der russischen Führung von der wachsenden Rolle von Jermaks russischem Amtskollegen – Dmitrij Kosak, dem neuen stellvertretenden Leiter der russischen Präsidialverwaltung. Kosak ist dafür bekannt, dass er seit 2014 den »Wiederaufbau der Krim« und seit 2015 die »humanitäre Unterstützung« der »vorübergehend besetzten und nicht von der Ukraine kontrollierten Gebiete« (ukrainische Abkürzung ORDLO, »separate Bezirke der Donezker und Luhansker Regionen«) innerhalb der russischen Regierung beaufsichtigt hat. Jetzt ist er offiziell für den »Kurs Richtung Ukraine« zuständig. Sein ukrainischer Gegenpart Jermak nennt Kosak einen »konstruktiveren« Verhandlungspartner als dessen Vorgänger Wladislaw Surkow, den berühmten Kurator des »Neurussland«-Projekts.
Die Kommentare von Präsident Selenskyj während und nach der 56. Münchner Sicherheitskonferenz zeigen, dass die ukrainische Seite entschlossen ist, die von Russland geforderten Kompromisse einzugehen. Insbesondere schloss Selenskyj nicht aus, dass die Patrouille der ORDLO-Gebiete gemeinsam durch Separatisten und ukrainische Sicherheitskräfte erfolgen könnte. Dies ist eine Form der Anerkennung der Separatisten, die der Kreml gerne erreichen möchte.
Andererseits hat Jermak bereits im Dezember 2019 angedroht, im Falle übermäßigen Drucks und eines Diktats Russlands die ORDLO-Gebiete einfach vollständig von der Ukraine abzutrennen und den westlichen Kurs der Ukraine fortzusetzen. Gleichzeitig erklärte Wladimir Putin bei seinem ersten Treffen mit Selenskyj im Rahmen des »Normandie-Formats« (Ukraine, Russland, Deutschland, Frankreich) im Dezember 2019 in Paris, es sei notwendig, »den Prozess des Waffenstillstands mit den in den Minsker Abkommen festgelegten politischen Reformen in der Ukraine zu synchronisieren«.
Das heißt, trotz der Anzeichen eines konstruktiven Dialogs sehen beide Parteien das Endergebnis der Verhandlungen unterschiedlich. Dies, sowie die Fortsetzung der Kämpfe im Donbas könne zu einem unüberwindlichen Hindernis für den »schnellen Frieden« und des »Einfrierens« des Konflikts werden.
Die Verschärfung an der Front im Februar 2020 zeigt, dass Putin den militärischen Druck nicht aufgeben und die Ukraine weiter provozieren wird, obwohl er gleichzeitig von Selenskyj verlangt, das Minsker Abkommen widerspruchslos umzusetzen.
Der Weg zu zwei weniger wahrscheinlichen Szenarien führt daher über das Zwischenszenario »Abbruch des Friedensprozesses«. Die Möglichkeit einer neuen Aggression Russlands ist nicht ausgeschlossen. Im Erfolgsfall wird dies zum Frieden nach russischen Bedingungen führen. Ein Scheitern würde für Russland eine noch stärkere Selbstisolation und Konfrontation mit dem Westen bedeuten oder zu drastischen inneren Veränderungen führen.
Szenario 1: Schnelle friedliche Beilegung des Konflikts zu den Bedingungen Russlands
Eine Vorstellung von den Phasen dieses Szenarios kann das vom ukrainischen Politiker Wiktor Medwedtschuk erstellte und am 18. Juli 2019 in St. Petersburg vom russischen Präsidenten Wladimir Putin öffentlich angenommene »Konzept zur Beilegung der Krise im Südosten der Ukraine durch schrittweise Schaffung der Bedingungen für die Umsetzung des Minsker Abkommens vom 12. Februar 2015« geben.
Schlüsselelemente dieses Szenarios sind:
- Die Anerkennung der Führung der »Donezker und Luhansker Volksrepubliken (DNR/LNR)« als legitime Vertreter der Bevölkerung der ORDLO durch die Ukraine.
- Verzicht auf Vermittlung durch Deutschland, Frankreich und die Vereinten Nationen bei der Ausarbeitung von Einzelheiten (Fahrplan) für die Rückkehr der ORDLO in die Ukraine.
- Im Austausch gegen Vorzugsbedingungen bei der Versorgung mit Energieträgern (Erdgas, Öl und Ölprodukte, Kohle) unterstützt die Ukraine russische Bemühungen zur Aufhebung internationaler, vor allem europäischer Sanktionen gegen Russland.
- Legalisierung der Besatzungstruppen im ORDLO-Gebiet in der Form von »Friedenstruppen« und/oder »gemeinsamen Patrouillen« mit der ORDLO-»Volkspolizei«.
Voraussichtliche Folgen für die Ukraine:
- Verlust der internationalen Unterstützung für die Ukraine und Aufhebung der gegen Russland wegen der bewaffneten Aggressionen der Jahre 2014 bis 2019 verhängten Sanktionen.
- Nachlassen der landesweiten Unterstützung und Legitimität der Maßnahmen der ukrainischen Streitkräfte zur Eindämmung der russischen Truppen im Donbas.
- Wiederaufnahme und Verschärfung des bewaffneten Konfliktes innerhalb der Ukraine.
Angesichts der schwerwiegenden Folgen eines solchen Szenarios für die Sicherung des ukrainischen Staates und der Demokratie sollte die Führung der Ukraine auf das Szenario der »schnellen Umsetzung des Friedens« verzichten.
Anderenfalls wird dies kurzfristig zur externen Kontrolle des Landes durch Russland führen, und mittelfristig besteht die reale Gefahr des Zusammenbruchs des Staates.
Die ukrainische Führung verfügt über eine Reihe von Möglichkeiten, um diese Entwicklung zu verhindern:
- Um die internationale Unterstützung und die freundschaftliche Vermittlung durch Deutschland und Frankreich aufrechtzuerhalten, kann die Ukraine die Schaffung einer Expertengruppe innerhalb des »Normandie-Formats« vorschlagen. Diese könnte einen Plan für den Abzug der Einheiten der russischen Streitkräfte und russischer privater Militärunternehmen aus dem ORDLO-Gebiet entwickeln sowie Bedingungen für eine internationale Mission zur Überwachung des Prozesses eines solchen Rückzugs und der Abrüstung illegaler militärischer Formationen der ORDLO ausarbeiten. Dies sollte eine unabdingbare Voraussetzung für die Umsetzung der »Steinmeier-Formel« in der ukrainischen Gesetzgebung sein und eine Garantie dafür, dass der »Sonderstatus« der ORDLO nicht zur weiteren Destabilisierung der Ukraine genutzt wird.
- Die Ukraine kann für den UN-Sicherheitsrat einen Resolutionsentwurf zur Genehmigung des Plans zur Entmilitarisierung der ORDLO vorschlagen. Die Zukunft der EU-Sanktionen gegen Russland, ihre Rücknahme oder Verschärfung, wird von der Bereitschaft Russlands abhängen, diesen Plan umzusetzen und die Abrüstung der »DNR/LNR«-Truppen nicht zu behindern. Konkret sollte die offizielle Erklärung der Ukraine über die Wiederherstellung der vollständigen Kontrolle über die Staatsgrenze im ORDLO-Gebiet die Voraussetzung für die vollständige Aufhebung der Sanktion werden.
- Gleichzeitig wird die Ukraine wahrscheinlich gegen das Mitwirken derjenigen Länder an der internationalen Friedensmission im Donbas sein, die im Rahmen der UN-Generalversammlung gegen Resolutionen gestimmt haben, in denen die Annexion der Krim, Menschenrechtsverletzungen auf der besetzten Krim sowie russische Aggressionen im Schwarzen und im Asowschen Meer verurteilt wurden.
- In der ukrainischen Gesetzgebung kann ein Verbot der Wahlbeteiligung von Bürgern aufgenommen werden, die Pässe des ausländischen Aggressor-Staates erhalten haben.
- Im Gesetz »Über die Besonderheiten der staatlichen Politik zur Gewährleistung der Souveränität in den vorübergehend besetzten Gebieten der Regionen Donezk und Luhansk« kann festgeschrieben werden, dass Wahlen und Referenden im ORDLO-Gebiet erst nach dem Abzug aller ausländischen Truppen, der Wiederherstellung der Kontrolle über die Staatsgrenze, der Wiederaufnahme der Arbeit der ukrainischen Behörden und der Einhaltung ukrainischer Gesetze abgehalten werden dürfen.
- Kiew wird alle Versuche der russischen Seite ablehnen, Fortschritte bei den Verhandlungen über eine friedliche Lösung im Donbas mit den Verhandlungen über direkte Lieferungen von russischem Erdgas an die Ukraine zu verknüpfen.
- Ein ständiger und anhaltender Dialog mit den Vertretern Frankreichs und Deutschlands sowie den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten darüber, warum direkte Verhandlungen zwischen der Ukraine und der »DNR/LNR« nicht den Interessen der Ukraine entsprechen und nicht als Schritt in Richtung Frieden angesehen werden können:
- Die sogenannten »Führer der DNR/LNR« haben keine Kontrolle über die militärischen Einheiten auf ihrem Gebiet und haben keine wirklichen Befugnisse, um einen vollständigen Waffenstillstand, den Abzug von Truppen und Waffen sowie eine ungehinderte und sichere Überwachung der OSZE-Mission zur Umsetzung selbst der Minsker Abkommen zu gewährleisten.
- Die »DNR/LNR«-Führung ist nicht legitim gewählt und vertritt nicht die Interessen der Bewohner der besetzten Gebiete.
- Die »DNR/LNR«-Führung erkennt die Verfassung und die Gesetze der Ukraine nicht an, nach denen die Rechte der Bürger geschützt und freie und faire Wahlen gewährleistet sind.
- Die »DNR/LNR«-Führung besteht aus Bürgern der Russischen Föderation und Personen, die infolge des Wechsels in den Dienst russischer Streitkräfte oder Geheimdienste automatisch die ukrainische Staatsbürgerschaft verloren haben und daher an keinen Wahlen in der Ukraine teilnehmen dürfen.
- Die »DNR/LNR«-Führung hat im Zeitraum 2014–2019 systematisch die Arbeit der ukrainischen und internationalen humanitären Missionen im ORDLO-Gebiet bedroht und behindert.
- Die »DNR/LNR«-Führung ist an Kriegsverbrechen beteiligt: am Abschluss von Flug MH-17, an Geiselnahmen, Folter und der Hinrichtung von Kriegsgefangenen und Zivilisten.
Szenario 2: Der Ukraine wird ein »eingefrorener« Konflikt im Donbas aufgezwungen
Zentrales Merkmal dieses Szenarios ist die Bereitschaft Russlands, die bewaffnete Aggression gegen die Ukraine zu beenden, wenn die Ukraine sich einverstanden erklärt, den Verlust der Krim und der ORDLO-Gebiete anzuerkennen und die vollständige Aufhebung der internationalen Sanktionen zu unterstützen. Somit bleiben der Status und die Zukunft des ORDLO ungeklärt, die Integration der Ukraine in die EU und die NATO wird blockiert und die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen werden zu Vorkriegsbedingungen wiederhergestellt.
Schlüsselelemente dieses Szenarios:
- Im Normandie-Format wird eine Einigung über einen Waffenstillstand erzielt, während die Integration des ORDLO-Gebiets in die Ukraine aufgrund von Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Umsetzung der Minsker Abkommen 2014–2015 als unmöglich anerkannt wird.
- Russland und die Ukraine einigen sich auf eine UN-Friedensmission an der Demarkationslinie im Donbas.
- Im ORDLO-Gebiet wird die politische und administrative Integration mit der Russischen Föderation vorangetrieben.
Das besetzte ORDLO-Gebiet und die Krim werden für Putin zur Belohnung für die Beendigung des Krieges. Die Ukraine bleibt in der sogenannten »grauen Sicherheitszone« zwischen der NATO und der Russischen Föderation, ohne dass in Zukunft Unabhängigkeit und Integrität garantiert werden.Daher wird der Kreml unmittelbar nach Kriegsende nichtmilitärische Eingriffe in die inneren Angelegenheiten der Ukraine nutzen, um das Land weiter zu destabilisieren und zu spalten, mit dem Ziel, die Annäherung an EU und NATO dauerhaft zu blockieren.
Gleichzeitig werden die besetzten ORDLO-Gebiete von Russland genutzt, um groß angelegte soziale Experimente zur Bildung der »Neurussland-Identität« durchzuführen – mit möglicher Anwendung in Nachbarländern, die einst Teil des russischen Imperiums waren. Außerdem wird die ORDLO als »Trainingslager« für die Schaffung bewaffneter Formationen genutzt, die in der Lage sind, weltweit für die Interessen Russlands zu kämpfen und interne Konflikte zu unterdrücken.
Mögliche Maßnahmen der Ukraine zur Vermeidung eines solchen Szenarios:
- Die Versuche Russlands oder westlicher Vermittler, verschiedene Versionen der »Neutralität« (nach finnischem oder österreichischem Vorbild) durchzusetzen, die keinen wirksamen und verbindlichen Mechanismus zur Unterstützung der Ukraine bei neuen externen Bedrohungen ihrer Unabhängigkeit vorsehen, werden abgelehnt.
- Den USA und der EU wird vorgeschlagen, einen ständigen Konsultationsmechanismus für die Harmonisierung und Überwachung der Russland-Sanktionen zu schaffen und Sanktionen einzuführen, deren Schaden für die Russische Föderation nicht geringer ist als der Schaden für die Ukraine durch die Besetzung der Krim und des Donbas.
- Beginn von Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten über die Anerkennung der Ukraine als einen der wichtigsten Verbündeten außerhalb der NATO (Major Non-NATO Ally) und die Stärkung der Beziehungen durch Ausarbeitung eines Vertrags über Verteidigungszusammenarbeit in Anlehnung an die entsprechenden Verträge der USA mit Japan und Südkorea.
- Zusammenarbeit mit der EU und einzelnen europäischen Staaten bei Projekten, die darauf abzielen, Import und Verbrauch russischer Energieträger (bis zu einer vollständigen Einstellung) zu verringern und durch eigene Förderung und erneuerbare Energiequellen zu ersetzen.
- Durchführung interner Reformen zur Erhaltung und Verbesserung des Humankapitals des Landes, Schaffung neuer Industrien und neuer Dienstleistungen auf der Grundlage der Erfolge der »vierten Welle der industriellen Revolution«.
Szenario 3: Abbruch des Friedensprozesses
Wenn die Ukraine bei der Vorbereitung des für April angedachten Berliner Treffens im »Normandie-Format« oder während der Verhandlungen im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe in Minsk die Bedingungen der Russischen Föderation nicht akzeptiert, kann Moskau gewaltsame Maßnahmen ergreifen, die von einer neuen Runde des Informationskrieges begleitet werden, um die Ukraine an der Eskalation des Konflikts zu beschuldigen.
Schlüsselelemente des Szenarios:
- Schaffung eines Vorwandes für die Verschärfung des militärischen Konflikts im Donbas unter Einbeziehung regulärer Einheiten der russischen Streitkräfte, einschließlich Spezialeinheiten.
- Provokation von Unruhen und Gewalt unter Beteiligung von Vertretern radikaler nationalistischer Gruppen, Organisationen der Veteranen der Militärkampagnen 2014–2019, insbesondere in Kiew und in Regionen mit kompakten Siedlungsgebieten ethnischer Minderheiten: Odessa, Charkiw, Transkarpatien.
- Provokation einer internen politischen Krise in der Ukraine, um den Präsidenten und die Regierung zu diskreditieren.
Auswirkungen für die Ukraine:
Rückblickend auf die Aktionen Russlands in der Ukraine kann mit hoher Wahrscheinlichkeit argumentiert werden, dass der Kreml versuchen wird, Aktionen zu synchronisieren, um den Friedensprozess zu stören und eine politische Krise auszulösen. Wenn solche Aktionen erfolgreich sind, wird die Ukraine die externe Unterstützung im Friedensprozess verlieren, und Russland wird einen Grund haben, seine militärische Präsenz im Donbas zu rechtfertigen und mit einer neuen Invasion zu drohen, um »seine Bürger und die russischsprachige Bevölkerung zu schützen«. Der zunehmende militärische Druck kann wie im August 2014 und Februar 2015 dazu führen, dass die Ukraine neue, noch problematischere Zugeständnisse macht und/oder neue Gebiete verliert.
Mögliche Maßnahmen der Ukraine, um ein solches Szenario zu verhindern:
Zusätzlich zu den oben aufgeführten Schritten als Reaktion auf das Szenario des »schnellen Friedens« wird die Widerstandsfähigkeit der Ukraine von folgenden Maßnahmen abhängen:
- Gewährleistung der Sicherheit und der zivilen Ordnung durch gezielte Bemühungen und abgestimmte Zusammenarbeit von Spezialeinheiten des Sicherheitsdienstes, des Innenministeriums und der Streitkräfte unter einheitlichem Kommando. Übertragung der zentralen Entscheidungsbefugnis zur Abwehr der russischen Aggression und zur Verhinderung interner Krisen an den Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat als Verfassungsorgan.
- Eingrenzung radikaler politischer Kräfte und der Veteranengemeinschaft durch einen intensiven politischen Dialog sowie deren Beteiligung an der Entwicklung einer friedlichen Konfliktregelung; Lösung der Probleme der Veteranen.
- Einrichtung eines ständigen Kommunikations- und Konsultationskanals mit der Führung der wichtigsten EU-Länder, der neuen Führung der Europäischen Kommission und der Fraktionen des Europäischen Parlaments sowie der Führung der befreundeten G20-Länder bei der Vorbereitung der Verhandlungen mit Russland; proaktive Arbeit mit westlichen Medien zur Erklärung der Position der Ukraine und zur Information über die Situation im Land und an der Kontaktlinie.
Szenario 4: Fortsetzung des Konflikts um die Zermürbung und Isolation der Ukraine zu erreichen
Sollte es der Ukraine nicht gelingen, ihre Bedingungen durch Verhandlungen und militärischen Druck durchzusetzen, wird Russland den Konflikt mit der Ukraine in Form eines ständiges Wettrüstens, militärischer Provokationen und wirtschaftlicher Blockaden gestalten. Dies wird jedoch nur ein Element eines umfassenderen Kurses der russischen Führung hin zu einer langfristigen Konfrontation mit dem Westen sein. Ziel dieses Szenarios ist es, den Westen dazu zu bringen, die Ukraine als »russischen Interessenbereich« anzuerkennen, um die Gefahr eines umfassenden Konflikts mit Russland zu verringern.
Schlüsselelemente des Szenarios:
- Fortsetzung der Feindseligkeiten im Donbas und Aufbau von Kapazitäten für die Offensive und Eroberung neuer Gebiete.
- Die Nachbarstaaten der Ukraine (Belarus, Republik Moldau, Ungarn) werden zu Konfrontationen und feindlichen Aktionen gegenüber Kiew gedrängt.
- Verstärkte militärische Präsenz in den Gewässern des Asowschen und Schwarzen Meeres mit dem Ziel einer teilweisen oder vollständigen Blockade der ukrainischen Häfen.
- Einstellung der Energieversorgung der Ukraine, einschließlich des Transits von Erdgas.
- Aktive Unterstützung pro-russischer Parteien und Bewegungen, um eine neue Spaltung der Gesellschaft und eine weitere zivile Konfrontation zu provozieren.
Folgen für die Ukraine:
Der langandauerende bewaffnete Konflikt und der wirtschaftliche Druck der Russischen Föderation sind ernsthafte Bedrohungen für die innere Entwicklung der Ukraine und die Wahrung der Demokratie. Die Verschlechterung der Lebensbedingungen im Vergleich zu den europäischen Nachbarländern wird die demografische Krise und die Abwanderung der arbeitsfähigen Bevölkerung verstärken. Im politischen Leben werden die Rolle und der Einfluss von Eliten, die vom Krieg profitieren, zunehmen. Infolgedessen könnten Bedingungen für die Bildung eines autoritären Regimes und den anschließenden Bruch mit dem Westen entstehen. Letztendlich wird ein militarisiertes Polizeiregime das Land dazu bringen, sich mit Russland zu vereinen.
Maßnahmen der Ukraine zur Vermeidung eines solchen Szenarios:
In einem langwierigen Konflikt kann die Ukraine nur bestehen, wenn sie den Westen vom Wert ihres Kampfes und ihrer Unabhängigkeit für die regionale und weltweite Sicherheit überzeugt. Zu diesem Zweck sollte die Führung des Landes Anstrengungen in folgenden Bereichen unternehmen:
- Durchführung interner Reformen.
- Stärkung der Beziehungen zu Führungskräften und Establishments der westlichen Länder, deren Weltanschauung unabhängig von der Parteizugehörigkeit unter dem Einfluss neuer Technologien und wissenschaftlicher Errungenschaften entsteht, wobei die Bedeutung globaler Probleme und die Ablehnung von Gewalt und Krieg als Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Probleme verstanden werden.
- Unterstützung der Bemühungen der ukrainischen Zivilgesellschaft und der ukrainischen Diaspora zur Schaffung und Stärkung horizontaler Beziehungen zu westlichen Gesellschaften sowie zur Umsetzung gemeinsamer grenzüberschreitender Projekte in den Bereichen Bildung, Wissenschaft und Medien.
Eine Politik, die auf den Beitritt der Ukraine zum Schengener Abkommen abzielt, wäre ein wichtiger Schritt, um die Ukraine als offenen und zuverlässigen EU-Partner zu etablieren. Die Offenheit der Ukraine und ihre Fähigkeit, die Integrität der von ihr kontrollierten Grenzen und der inneren Sicherheit zu gewährleisten, werden ihren Wert als potenzielles Mitglied der europäischen Staatengemeinschaft beweisen. Umgekehrt bedeutet eine vollständige Abhängigkeit der Ukraine von Russland nur einen starken Anstieg der gesamten Bandbreite der Bedrohungen für die kollektive Sicherheit und Stabilität der EU.
Szenario 5: Allmähliche Beilegung des Konflikts auf Grundlage der vollständigen territorialen Integrität der Ukraine
Ein solches Szenario hängt von einem vollständigen Machtwechsel in Russland und der Rückkehr des Landes zum Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats ab. Die jüngste Verfassungsinitiative von Wladimir Putin und umstrittene Gerichtsverfahren in Russland zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit eines solchen Szenarios auch nach 2024 extrem gering bleibt.
Trotzdem muss die Ukraine bereits jetzt Maßnahmen ergreifen, die allen am Frieden interessierten Parteien zeigen, dass das Land bereit ist, alle Streitigkeiten mit Russland schrittweise beizulegen, wenn Russland wiederum bereit ist, das Recht der Ukraine auf eine sichere und unabhängige Entwicklung anzuerkennen.
Die mögliche Verhandlungsposition der Ukraine zu Beginn eines solchen Szenarios:
Vollständiger Abzug der russischen Streitkräfte aus dem Donbas und Zustimmung Russlands, ein Verfahren zur Entschädigung für Verluste zu beginnen, die dem ukrainischen Staat und den Bürgern infolge des Krieges und der Besatzung entstanden sind.
Die ukrainischen Vorbereitungen für ein solches Szenario werden die Verantwortung des Landes für seine Sicherheit und seine Berechenbarkeit im Falle radikaler Veränderungen in Russland demonstrieren.
Maßnahmen der Ukraine zur Umsetzung eines solchen Szenarios:
- Demonstration der Unmöglichkeit einer friedlichen Lösung für den Donbas, solange Russland nicht bereit ist, die Besatzung zuzugeben und zu beenden, seine Truppen abzuziehen und Verhandlungen mit der Ukraine über Entschädigung für Verluste und über den künftigen Status der Krim aufzunehmen.
- Politische Konsultationen mit den Eliten führender westlicher Länder, um die Ukraine bei ihren Absichten und Plänen zur de-Okkupation des Donbas zu unterstützen.
- Verabschiedung eines Gesetzespakets, das Befugnisse und Verfahren für Behörden im Falle des Beginns der de-Okkupation der ORDLO-Gebiete regelt – auch in Zusammenarbeit mit Russland.
- Regelung der Gewährleistung der Rechte und Freiheiten der in den besetzten Gebieten lebenden Bürger und der Bedingungen für eine Amnestie der Bürger, die im Konflikt auf der Seite Russlands gekämpft haben. Entscheidung über die strafrechtliche Verfolgung von Handlungen in der seit 2014 umkämpften Konfliktzone auf Grundlage der Anerkennung der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs durch die Ukraine und Russland.
- Eine genaue Einschätzung der durch den Krieg entstandenen Schäden und der für den Wiederaufbau des ORDLO-Gebietes erforderlichen Ressourcen und Festlegung der Bedingungen für internationale Hilfe für die Nachkriegsentwicklungspolitik des Donbas.
Resümee
Der vollständige Neustart der ukrainischen Politik nach dem Sieg von Wolodymyr Selenskyj und die zunehmende öffentliche Ablehnung seines Vorgängers Petro Poroschenko wurde von der russischen Führung als Chance gesehen, den nach der Revolution der Würde 2014 verlorenen Einfluss auf die Ukraine zurückzugewinnen.
Die Option eines »schnellen Friedens« wird dem ukrainischen Staatschef als einzige Möglichkeit präsentiert, Macht und Popularität in seinem Land aufrechtzuerhalten, das vom Krieg moralisch ermüdet ist und unerfüllte soziale und wirtschaftliche Ziele hat.
Die ukrainische Gesellschaft, einschließlich der Mehrheit der Selenskyj-Wähler, sieht Russland jedoch als existenzielle Bedrohung für eine unabhängige und demokratische Ukraine an. Daher kann der ukrainische Präsident solche Bedingungen nicht akzeptieren, welche die Souveränität des Landes einschränken oder Russland von der Verantwortung für den Ausbruch des Krieges und den verursachten Schaden befreien würden. Selenskyj würde dem Verlust des ORDLO-Gebiets und dem »Einfrieren« des Konflikts eher zustimmen als der Integration von durch den russischen Generalstab und den russischen Geheimdienst kontrollierten Gebieten in die Ukraine.
Andererseits kann der Kreml das Ziel einer Kontrolle über die Ukraine nicht aufgeben. Um die Entschlossenheit Kiews bei den Verhandlungen zu schwächen, wird Russland die Militäroperationen im Donbas und die Desinformationskampagne im Land fortsetzen. Das Ergebnis einer solchen Konfrontation hängt nicht nur von der Stärke der russischen Bemühungen ab, sondern auch von der Fähigkeit der ukrainischen Führung, interne Reformen durchzuführen und die Unterstützung der Europäischen Union zu sichern.
Übersetzung aus dem Russischen: Lina Pleines