Wilde Zeiten

Von Sarah Whitmore (Oxford Brookes University, Oxford)

Um die selbst für ukrainische Verhältnisse unerwartet kurze Amtszeit der Regierung Hontscharuk und die Erwartungen an die neue Regierung zu verstehen, ist aufgrund des stark von einzelnen Personen geprägten Charakters der postsowjetischen Politik ein Blick auf die Elitenetzwerke am ehesten geeignet, Einblicke sowohl in die jüngsten Entwicklungen als auch in das breitere politische System zu geben. Der Regierungswechsel wurde weithin als Sieg der ukrainischen Oligarchen und der meistgehassten Akteure des Janukowytsch-Regimes – Ihor Kolomojskyj, Rinat Achmetow, Wiktor Medwedtschuk und Andrij Portnow – interpretiert und als mögliche Abkehr vom Westen. Mit diesen Personen in Verbindung stehende Parlamentsabgeordnete unterstützten die Entlassung des hoch angesehenen Generalstaatsanwalts Ruslan Rjaboschapka, was bei einigen Beobachtern zu Spekulationen über eine neue informelle und unheilige (und potenziell antiukrainische) Koalition führte. Sollten sie Recht behalten, dann stellt die Absetzung der Regierung einen erfolgreichen Gegenschlag der Oligarchen dar, die die Auflagen des IWF (insbesondere in Bezug auf staatliche Unternehmen einschließlich der PrivatBank) und die ihre Interessen beeinträchtigenden Regierungsreformen satthaben.

Hontscharuks Regierung war seit 1991 theoretisch die Regierung mit den besten Voraussetzungen, ihr Programm umzusetzen, da sie von einem Präsidenten mit einem beispiellosen Wahlmandat und einer parlamentarischen Ein-Parteien-Mehrheit unterstützt wurde. Warum wurden also nur 23 Prozent der vom Ministerkabinett initiierten Gesetze verabschiedet und wurde die Regierung nach gerade einmal sechs Monaten wieder abgesetzt?

Es gibt institutionelle Faktoren wie die Tatsache, dass die viel gepriesene Ein-Parteien-Mehrheit keine solche war – die Partei des Präsidenten war eher ein eilig zusammengezimmertes politisches Projekt, das vom Leiter des Präsidentenbüros abhängig war und eine Reihe von Kolomojskyj nahestehenden Abgeordneten umfasste. Es gibt aber auch »nicht-oligarchische« Faktoren, vor allem das Interesse des Präsidenten an seiner persönlichen Popularität, die gegen Ende des vergangenen Jahres zu schwinden begann. Auch der Vertrauensverlust des Premierministers nach der (von Kolomojskyj initiierten?) durchgesickerten Tonbandaufzeichnung im Januar, in der Hontscharuk auf Selenskyjs Unwissenheit in Sachen Wirtschaft verwies, ist ein möglicher Grund.

Könnte das bedeuten, dass die Schlüsselfrage, die seit Beginn von Selenskyjs politischer Karriere, immer wieder gestellt wurde, nun endgültig geklärt ist: Inwieweit ist er von Ihor Kolomojskyj (und in jüngster Zeit auch von anderen oligarchischen Einflüssen) abhängig? Der neue Premierminister, Denys Schmyhal, wird zum Beispiel mit Achmetow in Verbindung gebracht und gilt als präferierter Kandidat Kolomojskyjs. Zivilgesellschaftliche Akteure sehen die neue Regierung als eine Koalition von Kolomojskyj, seinem Verbündeten Arsen Awakow und der ehemaligen Partei der Regionen von Janukowytsch. Lediglich der neue Außenminister, Dmytro Kuleba, gilt als Reformer.

Aber Politik ist ein komplexes, mehrstufiges Zusammenspiel zahlreicher Akteure, was es selbst unter stabilen politischen Bedingungen schwierig macht, genaue Vorhersagen zu treffen, sodass es noch verfrüht ist, die Lage in Kiew zu beurteilen. Schließlich war Andrij Bohdan, bis vor kurzem noch Leiter des Präsidialamtes, die umstrittenste Ernennung von Selenskyj. Er war Kolomojskyjs Anwalt, fiel unter das Lustrationsgesetz, war der Erfinder des parlamentarischen »Turbo-Regimes« (das Gesetze im Eiltempo ohne ordentliches Verfahren verabschiedete) und Medien gegenüber oft feindlich. Dennoch erwies er sich als unabhängiger als erwartet und war der Patron der Hontscharuk-Reformer, die unter anderem die PrivatBank fest im Griff hatten und das Investitionsklima in der Ukraine schrittweise verbesserten. Seine Amtszeit war also gemischt und nicht so wie vorhergesagt. Vielleicht lässt sich zumindest daraus ein wenig Hoffnung schöpfen?

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Kommentar

Wie sich das Reformfenster in der Ukraine langsam schließt

Von Eduard Klein
Mit dem Regierungswechsel scheint sich das Fenster der Möglichkeiten für den weiteren Reformprozess allmählich zu schließen. Angesichts des sinkenden gesellschaftlichen Rückhalts setzt Selenskyj vermehrt auf die Unterstützung der Oligarchen. Ob die WählerInnen, denen er vor einem Jahr ein Ende der Korruption und der Oligarchie versprochen hatte, sich darauf einlassen werden, bleibt zu bezweifeln. Insofern könnte der Regierungswechsel den Anfang vom Ende der Ära Selenskyj einläuten.
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Dokumentation

Das Ministerkabinett von Denys Schmyhal

Nach nur rund sechs Monaten im Amt reichte Ministerpräsident Olexij Hontscharuk am 4. März 2020 seinen Rücktritt ein, woraufhin die gesamte Regierung zurücktreten musste. Am selben Tag wurde Denys Schmyhal, den Präsident Selenskyj Anfang Februar zum Vizeministerpräsidenten ernannt hatte, zum neuen Ministerpräsidenten ernannt. Es konnten nicht sofort alle Ministerposten neubesetzt werden, so dass zunächst nur 15 Minister ernannt und einige vakante Posten kommissarisch besetzt wurden. Vier Minister blieben auf ihrem Posten, zwei weitere verblieben zwar, verantworten nun aber andere Ressorts. (…)
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