Türkei-Ukraine Beziehungen: Was steckt dahinter?

Von Daria Isachenko (Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin)

Zusammenfassung
Die ukrainische Führung setzt große Hoffnung in die Türkei und sieht Ankara als einen strategischen Partner. Die Türkei soll Kyjiw dabei helfen, die ukrainische territoriale Integrität wiederherzustellen und gleichzeitig der NATO beizutreten. Der Handlungsspielraum Ankaras für konkrete Schritte, die über die solidarische Rhetorik hinausgehen, ist allerdings begrenzt. Das Hauptinteresse der Türkei bei der Zusammenarbeit mit Kyjiw liegt vielmehr darin, die Lücken in seiner Verteidigungsindustrie mit der ukrainischen Unterstützung zu füllen.

Einleitung

Im September 2020 hat die Ukraine in ihrer neuen Nationalen Sicherheitsstrategie neben Aserbaidschan, Georgien, Litauen und Polen auch die Türkei als einen strategischen Partner Kyjiws ausgezeichnet. In der letzten Zeit nähern sich die Türkei und die Ukraine in der Tat überraschend rasch an. Im Februar 2020 hat die Türkei den ukrainischen Streitkräften 36 Millionen US-Dollar Militärhilfen zugesagt. Im Oktober 2020 haben Ankara und Kyjiw ein Abkommen zur militärischen Zusammenarbeit unterzeichnet. Im April 2021 fand bereits das dritte Treffen zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdoğan seit dem Herbst letzten Jahres statt. Die gemeinsame Erklärung nach dem Treffen umfasste zwanzig Punkte. Im bilateralen Bereich wird eine Vertiefung im Handel und in Rüstungs- und Verteidigungsindustrien angestrebt. Die Ukraine setzt aber vor allem auf die Unterstützung der Türkei, um die ukrainische territoriale Integrität wieder etablieren zu können. Außerdem rechnet die Ukraine mit dem Engagement der Türkei bei den Bemühungen Kyjiws um eine NATO-Mitgliedschaft.

Die jüngste türkisch-ukrainische Annäherung findet vor dem Hintergrund einer zunehmend aktiven Rolle Ankaras im post-sowjetischen Raum statt. Im Herbst 2020 stellte sich die Türkei offensiv auf die Seite Aserbaidschans bei der militärischen Eskalation im Konflikt um Bergkarabach im Südkaukasus. Auch von einer Rückkehr der Türkei nach Zentralasien ist bereits die Rede. Für Ankara ist die Aussicht auf die Schaffung des Nachitschewan-Korridors, der die Türkei durch die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan in Armenien mit Aserbaidschan verbinden soll, einer der Erfolge des Krieges zwischen Armenien und Aserbaidschan, da er dem Land einen Zugang zur Kaspischen Region und zu Zentralasien ermöglicht. Der Aktivismus Ankaras im post-sowjetischen Raum wird als Anzeichen der erneuten geopolitischen Rivalität mit Moskau gesehen. Die Beziehungen der Türkei zur Ukraine stechen in dieser Hinsicht besonders hervor, da das Schwarze Meer als ein Gebiet angesehen wird, in dem die Türkei ihre NATO-Position unter Beweis stellen kann, da sie in anderen Regionen wie im Nahen Osten und im östlichen Mittelmeerraum wie nie zuvor in die Kritik geraten ist. Doch ist die Türkei in der Lage den Erwartungen Kyjiws und ihrer NATO-Partner im Kampf gegen Russland nachzukommen?

Bilaterale Schwerpunkte: Drohnen, Handel und die Krim

Kyjiw ist kein neuer Partner Ankaras. Schon 2011 etablierte die Türkei mit der Ukraine einen High-Level-strategischen Rat (HLSR). Solche Räte hat die Türkei seit 2006 eingeführt, um mit ausgewählten Ländern die Zusammenarbeit institutionell zu vertiefen. Daneben haben die Türkei und die Ukraine kürzlich noch ein zusätzliches »Quadriga Format« eingeführt, im Rahmen dessen sich die Vertreter der ukrainischen und türkischen Ministerien für Auswärtiges und Verteidigung treffen, um sicherheitspolitische Fragen der Schwarzmeerregion zu besprechen. Im bilateralen Bereich haben sich in der letzten Zeit drei Kernpunkte der türkisich-ukrainischen Zusammenarbeit herauskristallisiert.

Erstens bildet die Sphäre des militärisch-industriellen Komplexes einen vielversprechenden Bereich für die Kooperation zwischen der Türkei und der Ukraine, da sie einen hohen Grad an Konvergenz aufweist. Die Türkei und die Ukraine haben u. a. ein gemeinsames Interesse an unbemannten Luftfahrzeugen, Triebwerken für gepanzerte Fahrzeuge, Turbinen, Flugzeugtriebwerken, Raketen und Schiffsbau. Medienberichten zufolge plant die Türkei für ihren Kampfhubschrauber Atak 2 ein in der Ukraine produziertes Triebwerk zu nutzen. Für die ukrainische Marine ist die Produktion der türkischen Korvetten (Ada-Klasse) vorgesehen. Die Ukraine hat bereits sechs Drohnen vom Typ Bayraktar TB2 und drei Bodenkontrollstationssysteme von der Türkei gekauft. Des Weiteren ist die Ukraine an Kauf bzw. Ko-Produktion von insgesamt 48 unbemannten Luftfahrzeugen interessiert. Gewünscht ist auch die Gründung gemeinsamer Unternehmen für die Produktion. Im Gespräch ist derzeit der Verkauf von rund 50 Prozent der Anteile vom führenden Motorenhersteller für Raketen, Flugzeuge und Hubscharuber, Motor Sitsch, an ein türkisches Unternehmen mit staatlicher Beteiligung. Im Januar 2021 hat die Ukraine den Verkauf von Motor Sitsch an das chinesische Luftfahrtunternehmen Skyrizon wegen Sanktionen seitens der USA abgebrochen. Die türkische Seite ist optimistisch, dass die von den USA gegen die Türkei verhängten Sanktionen keine Auswirkung auf die Zusammenarbeit mit der Ukraine im Rüstungs- und Verteidigungssektor haben werden.

Zweitens streben die Ukraine und die Türkei an, ein bilaterales Freihandelsabkommen abzuschließen. Im Vergleich zu den Fortschritten im Bereich des militärisch-industriellen Komplexes ist hier der Weg etwas holprig. Das Handelsvolumen von 2019 betrug 4,8 Milliarden US-Dollar, davon 2,09 Milliarden US-Dollar Exporte aus der Türkei und 2,72 Milliarden US-Dollar Importe aus der Ukraine. Mit dem Freihandelsabkommen soll sich das Handelsvolumen zwischen Kyjiw und Ankara auf 10 Milliarden US-Dollar verdoppeln. Das Abkommen sollte bereits im Februar 2020 unterschrieben werden, allerdings bestehen immer noch Uneinigkeiten. Diese umfassen unter anderem Quoten für Agrarprodukte sowie das Zertifizierungsverfahren in der Türkei. Auch das Investitionsklima in der Ukraine ist für türkische Unternehmen noch nicht attraktiv genug.

Drittens gibt es mit den Krimtataren wegen ihrer kulturellen und historischen Verwandtschaft mit den Turkvölkern ein besonderes Band in den ukrainisch-türkischen Beziehungen. Bereits nach dem Zerfall der Sowjetunion war die Türkei aktiv dabei, die Krimtataren in der Ukraine zu unterstützen. Die Türkische Agentur für Zusammenarbeit und Entwicklung (TIKA) hat für die Krimtataren, die Anfang der 1990er Jahre wieder in die Ukraine zurückkehrten, Wohn- und Kulturprojekte finanziert. Auch die Vereinbarung, die beim letzten Treffen zwischen Erdoğan und Selenskyj im April 2021 getroffen wurde, sieht türkische Hilfe für den Bau von 500 Häusern in den ukrainischen Städten Kyjiw, Mykolajiw und Cherson vor für Krimtataren, die 2014 die Halbinsel verlassen mussten. In der Türkei selbst wird die Diaspora der Krimtataren auf drei bis fünf Millionen Menschen geschätzt. Auch hat die Krim einen sehr bedeutsamen symbolischen Wert für die Türkei: Die Halbinsel war der erste territoriale Verlust für das Osmanische Reich im Jahr 1783.

Regionale Zusammenhänge: Lehren aus 2014 und dem Konflikt um Bergkarabach

Seitens der Ukraine gibt es zwei besonders große Hoffnungen für die strategische Partnerschaft mit der Türkei. Erstens wünscht sich Kyjiw, dass Ankara sich stärker bei der »Krim-Plattform« engagiert, die Kyjiw im August 2021 zu etablieren plant. Mit dieser Plattform bezweckt die Ukraine, internationale Aufmerksamkeit auf die Krim-Frage zu lenken, bzw. die Besetzung der Krim von Russland langfristig zu beenden. Dies soll unter anderem durch die Erarbeitung einer Nicht-Anerkennungs-Strategie für die Krim und durch die wirksame Umsetzung der Sanktionen gegenüber Russland erreicht werden. Zweitens setzt Kyjiw große Hoffnung auf Ankara auch bei der ukrainischen Bestrebung, einen Membership Action Plan (MAP) von der NATO zu bekommen, der die Ukraine zum formellen Antragsteller für eine NATO-Mitgliedschaft machen würde. Auch die Interoperabilität der ukrainischen Streitkräfte mit den NATO-Mitgliedern soll die Zusammenarbeit mit der Türkei fördern.

Die Türkei unterstützt zwar die Errichtung der Krim-Plattform sowie Kyjiws Wunsch nach einer NATO-Mitgliedschaft, der Handlungsspielraum Ankaras für Schritte, die über die solidarische Rhetorik hinausgehen, bleibt allerdings stark eingeschränkt. Die Grenzen der türkischen Politik, insbesondere hinsichtlich der Krim-Frage, wurden bereits 2014 deutlich.

Das »Referendum über den Status der Krim« am 16. März 2014 hat die Türkei zwar als rechtswidrig verurteilt. Für die Unterstützung der territorialen Integrität hat Ankara auch eigene Gründe. Referenden, die auf dem Selbstbestimmungsprinzip beruhen, sind für die Türkei problematisch, da Ankara die Auswirkungen auf seine eigene territoriale Integrität befürchtet. So hat die Türkei zwar der Resolution 68/262 der UN-Generalversammlung zur Ungültigkeit des Krim-Referendums im März 2014 zusammen mit 100 Ländern zugestimmt. Im Gegensatz zu westlichen Staaten hat sich die Türkei jedoch nicht an die Sanktionen gegenüber Russland angeschlossen. Bereits damals waren die Beziehungen zu Moskau der Hauptgrund für die Zurückhaltung Ankaras.

Vor allem im wirtschaftlichen Bereich ist die Türkei auf die Zusammenarbeit mit Russland angewiesen. Die Energieabhängigkeit von Moskau hat Ankara in den letzten Jahren mit Hilfe von Gaslieferungen von Aserbaidschan und Flüssiggas (LNG) reduziert. Es bleiben dennoch wichtige Faktoren im Türkei-Russland Verhältnis, die für Ankara von entscheidender Bedeutung sind. Russland leistet einen wesentlichen Beitrag für die türkische Wirtschaft, vor allem durch Tourismus und Handel. Im Jahr 2019 erreichte die Zahl der russischen Touristen in der Türkei mit sieben Millionen einen neuen Rekord, was einem Anteil von 16 Prozent aller Touristen in der Türkei entspricht. Zum Vergleich: Die Zahl der ukrainischen Touristen betrug rund 1,6 Millionen. Nicht unwichtig ist auch die Tätigkeit türkischer Baufirmen in Russland. Seit deren Eintritt in Russland Ende der 1980-er Jahre wurde das Gesamtvolumen der Bauprojekte türkischer Unternehmen in Russland im Jahr 2018 auf 71,8 Milliarden US-Dollar geschätzt. Russland ist damit der führende Auslandsmarkt für türkische Bauunternehmen. Der Gesamtwert der türkischen Bauprojekte in der Ukraine liegt bei vergleichsweise niedrigen 6,28 Milliarden US-Dollar.

Es waren nicht zuletzt die Auswirkungen auf die türkische Wirtschaft, die Ankara nach der Kampfjet-Krise im November 2015 wegen Syrien dazu bewegt haben, mit Moskau im Juni 2016 eine Versöhnung zu suchen. Seit der Bewältigung der Kampfjet-Krise haben Ankara und Moskau ihre Beziehungen erheblich erweitert. Der syrische Konflikt ist inzwischen der »Kleber« geworden, der Ankara und Moskau zusammenhält. Moskau und Ankara sind in Syrien aufeinander angewiesen, wenn es um ihre existenziellen Interessen geht: Regimesicherheit für Russland und kurdische Autonomiebestrebungen für die Türkei. Zudem kooperieren Russland und die Türkei im Bereich Atomenergie. Nicht zuletzt hofft Moskau auch bei den türkischen Weltraumambitionen behilflich zu sein.

Im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine eine Seite wählen zu müssen fällt der Türkei daher sehr schwer. Laut einer vom türkischen Forschungsunternehmen Metropoll im April 2021 durchgeführten Meinungsumfrage wünschen sich 69,1 Prozent der Befragten, dass die Türkei in diesem Konflikt eine neutrale Haltung einnehmen soll, während 9,1 Prozent die russische und 3,8 Prozent die ukrainische Seite unterstützen. Auch der türkische Präsident Erdoğan hat sich nach dem Treffen am 10. April 2021 mit seinem ukrainischen Amtskollegen Selenskyj bemüht, zwischen Russland und der Ukraine zu manövrieren. So betonte Erdogan Ankaras Unterstützung für die Ukraine bei der Krim-Plattform sowie für die Aussicht auf eine NATO-Mitgliedschaft für Kyjiw. Zugleich sendete Erdoğan eine Botschaft auch an den russischen Präsidenten Wladimir Putin, indem er sich für die Minsker Vereinbarungen als Grundlage für die Lösung im Donbas-Konflikt aussprach.

Im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan war die Strategie Ankaras darauf gerichtet, durch eine Veränderung des Status quo sich eine politische Rolle am Verhandlungstisch zu schaffen. Im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine wäre die Veränderung des Status quo nicht im Interesse der Türkei. Auch der Einsatz von Drohnen wäre hier nicht der entscheidende Faktor. Für Russland steht, anders als im Südkaukasus, im Donbas-Konflikt viel mehr auf dem Spiel. Ankaras Vorgehensweise im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan wurde in Moskau mit Zurückhaltung verfolgt und hat auch Gewinne für Russland – durch die Etablierung der Friedenstruppen in Bergkarabach – gebracht. Was die Ukraine anbelangt, warnte der russische Außenminister Sergei Lawrow die Türkei davor, den »militaristischen Stimmungen [der Ukraine] Vorschub zu leisten«.

Außenpolitische Prioritäten der Türkei

Das Hauptmerkmal der türkischen Außenpolitik besteht im ständigen Balancieren zwischen dem Westen und Russland. Dies funktioniert aber nur dann für die Türkei, wenn Ankara nicht gezwungen ist, zwischen zwei Stühlen einen wählen zu müssen. Vor dem Hintergrund der problematischen Beziehungen zwischen der Türkei und ihren NATO-Partnern im Nahen Osten und im östlichen Mittelmeerraum gilt gerade das Schwarze Meer als ein möglicher Ort, wo die Türkei ihre Position in der NATO stärken könnte.

Die Türkei war in der Vergangenheit in der Tat ein aktiver Mitgestalter in dieser Region. In der Zeit nach dem Kalten Krieg hat Ankara mehrere regionale Projekte in die Wege geleitet. 1992 wurde die Schwarzmeer-Wirtschaftskooperation gegründet. 2001 wurde die »Black Sea Naval Cooperation Task Group« (BLACKSEAFOR) für die Rettungsmaßnahmen und humanitäre Operationen von der Türkei initiiert. 2004 rief die Türkei des Weiteren die Marineoperation »Black Sea Harmony« ins Leben, die zur Sicherheit in der Region gegenüber Terrorismus und asymmetrischen Bedrohungen beitragen sollte. Bei allen diesen Maßnahmen war auch die Zusammenarbeit mit Russland nicht unwichtig.

Die türkische Führung wird ihre rhetorische Unterstützung der ukrainischen territorialen Integrität fortsetzen, während Ankara gleichzeitig darauf abzielt, die Lücken in seiner Verteidigungsindustrie mit ukrainischer Unterstützung zu füllen. Eine militärische Eskalation im Schwarzen Meer hingegen dürfte den Balanceakt der Türkei unmöglich machen.

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