Nach dem Amtsantritt Wolodymyr Selenskyjs Mitte 2019 beherrschte dessen Hauptprogrammpunkt – die Erreichung einer schnellen und friedlichen Lösung im Konflikt mit Russland und den separatistischen Kräften im Donbas – die politischen Debatten im patriotisch-progressiven Lager der Ukraine. Würde der neue, außenpolitisch unerfahrene Präsident die territoriale Integrität des Landes leichtfertig opfern, eine Zukunft in euroatlantischen Institutionen praktisch unmöglich machen und damit auch die seit der »Revolution der Würde« erreichten Fortschritte im Inneren gefährden?
Zwei Jahre später haben sich diese Befürchtungen im Grunde zerschlagen. Nach einer versuchten Annäherung, die im Pariser Normandie-Gipfel vom Dezember 2019 und nur einigen wenigen praktischen Fortschritten mündeten, haben sich die Beziehungen zwischen Kyjiw und Moskau wieder abgekühlt. Zu offensichtlich hatte Russland versucht, dem neuen ukrainischen Machthaber eine Anerkennung der selbsternannten Separatistenführer der besetzten Gebiete abzuringen, ohne dabei selbst zentrale ukrainische Forderungen wie nach der Kontrolle über die eigentliche ukrainisch-russische Grenze zu erfüllen. Im Gegenteil: Moskau schritt auch nach 2019 ununterbrochen fort mit der Ausgabe russischer Pässe in den besetzten Gebieten, mit deren Integration in die russische Wirtschaft und der gesellschaftlich-kommunikativen Abkopplung von Kyjiw.
Selenskyjs außenpolitischem Team, in dem vor allem der Leiter des Präsidentenbüros Andrij Jermak für den Donbas zuständig ist, blieb hier keine Wahl. Die Schließung der drei pro-russischen Fernsehkanäle des Oligarchen Wiktor Medwedtschuk und schließlich das Vorgehen des ukrainischen Sicherheitsrates gegen selbigen wurden auch in Moskau als klares Signal verstanden. Selenskyj, der sich offiziell weiter friedliebend und offen für Verhandlungen gibt, hat den naiven Ansatz der ersten Monate seiner Amtszeit abgelegt. Einer Unterminierung der ukrainischen Souveränität durch eine nachgiebige Haltung Kyjiws im Donbas und Stillschweigen gegenüber russischer Einflussnahme in der ukrainischen Politik wurde ein sichtbarer Riegel vorgeschoben.
Ist damit ein neues Kapitel im Donbas-Konflikt aufgeschlagen? Der neuerliche, russische Truppenaufmarsch an den Grenzen zur Ukraine hatte zunächst eine Konfrontation bisher ungekannten Ausmaßes vermuten lassen. Er ist letztlich aber nur ein Hinweis darauf, dass sich der 2014 in Gang gesetzte Plan Russlands, die besetzten Territorien als Faustpfand gegen eine nach Westen strebende Ukraine zu benutzen, wohl nicht realisieren lässt. Das, sowie das Ausschalten Medwedtschuks bedeuten allerdings nicht, dass es dem hybriden russischen Krieg gegen die Ukraine an alternativen Instrumenten mangelt. Zu wenig wird auch in der EU und ihren Mitgliedstaaten auf sich erhärtende Trends an der nördlichen und südlichen Flanke Kyjiws geachtet. In Belarus stehen Lukaschenkos Niederschlagung der Protestbewegung und die weitere sicherheitspolitische Integration des Landes in den russischen Orbit in unmittelbarer Verbindung. Im Asowschen und Schwarzen Meer treibt Moskau eine schleichende Annexion voran. Beide Vorgänge drohen für die Ukraine in einem Zangengriff-Szenario zu münden, das Kyjiw sicherheits- wie handelspolitisch die sprichwörtliche Luft zum Atmen nehmen kann.
Für den ukrainischen Präsidenten und seine zuletzt bewiesene außenpolitische Lernfähigkeit bedeutet die Ausdehnung des anhaltenden Konfliktes mit dem großen Nachbarn in weitere, multiple Arenen eine enorme Herausforderung. Sie wird sich, anders als im Donbas, nicht durch bloße Standfestigkeit in Verhandlungen und eine bessere Sicherung der Gebiete unter eigener Kontrolle bearbeiten lassen. Die Ukraine braucht eine regionale Sicherheitsstrategie, die ihre politische Handlungsfreiheit und ökonomische Konnektivität bewahrt und die Bedrohung durch feindlich gesinnte Regime unter Kontrolle halten kann. Diese muss dringend auch Ansätze und Partner jenseits von EU und NATO einschließen, die der Ukraine aus bekannten Gründen (noch) keine zuverlässigen Garantien geben können. Der schnelle Ausbau der eigenen militärischen Fähigkeiten und eine noch dynamischere Entwicklung der staatlichen Kernkapazitäten der Ukraine sind ohne jede Alternative.