Unabhängig, aber sowjetisch?

Von Mykola Rjabtschuk (Ehrenpräsident des ukrainischen PEN-Clubs)

Der Austritt der Ukraine aus der UdSSR verlief extrem schnell, während der Austritt der UdSSR aus der Ukraine viel langsamer verlief.

Einleitung

Die Geschichte der unabhängigen Ukraine kann als großer Misserfolg bezeichnet werden – verglichen mit den viel erfolgreicheren baltischen und mittelosteuropäischen Ländern, aber auch als Erfolgsgeschichte – verglichen mit den meisten post-sowjetischen Republiken, die zunehmend in konsolidiertem Autoritarismus versinken.

Insgesamt schafften es die Ukrainer in den letzten dreißig Jahren, ihre Freiheit und Demokratie gegen zahlreiche autoritäre Zwänge und Versuchungen zu verteidigen und ihr Land zu einem der freiesten in Osteuropa zu machen, ganz zu schweigen vom hoffnungslosen post-sowjetischen Raum. Gleichzeitig haben sie aber keine effektiven neuen Institutionen geschaffen und Rechtsstaatlichkeit nicht gewährleistet, weshalb die Demokratie als solche »gezwungen« bleibt. Die Institutionen sind einerseits zu schwach, um ein autoritäres Regime aufzubauen, aber andererseits auch nicht in der Lage, eine stabile und nachhaltige Demokratie zu gewährleisten. Die Dominanz informeller Institutionen prägt die Entwicklung der Wirtschaft, das heißt ihre fehlende Entwicklung, das Ausmaß der Korruption und die allgemeine Anfälligkeit des gesamten Systems für interne und externe Schocks.

Historische Wurzeln

Die relativen Erfolge und eher offensichtlichen Misserfolge haben Gründe, die oft miteinander verbunden sind und zusammen die Entwicklung der Ukraine recht ambivalent beeinflussen. Als erster Grund kann die osteuropäische politische Kultur genannt werden, die in erster Linie vom adlig-republikanischen Königreich Polen-Litauen, aber teilweise auch von der konstitutionellen Habsburgermonarchie geerbt wurde – eine Kultur, in der die individuelle Freiheit viel wertvoller war als etwa im Moskauer Zarenreich und in der eine rein europäische Vorstellung von Vertragsbeziehungen zwischen Herrschern und Untertanen und damit der Beschränkung jeglicher absoluten Macht existierte. Andererseits war diese Kultur aber im polnisch-litauischen Königreich schwach institutionalisiert und machte so die Demokratie oft wehrlos gegenüber Anarchie oder führte umgekehrt zur Versuchung, mit »starker Hand« Ordnung zu schaffen.

Zweitens spielten gespaltene Identitäten eine bedeutende (und auch ambivalente) Rolle für die politische Entwicklung der Ukraine. Einerseits haben sie für einen gewissen ideologischen Pluralismus und politischen Wettbewerb gesorgt, der aufgrund des schwach entwickelten Parteiensystems ohne sie kaum möglich wäre. Andererseits haben sie die demokratische Konsolidierung in der Gesellschaft erheblich erschwert, da sie nicht nur demokratischen, pro-europäischen politischen Kräften, sondern auch autoritären, pro-russischen Kräften eine stabile, über ihre Identität konsolidierte Wählerschaft geboten haben.

Es ist klar, dass diese strukturellen, kulturellen und historischen Aspekte die Bedeutung konkreter Handlungen (oder der Untätigkeit) spezifischer politischer Akteure und der Gesellschaft insgesamt nicht verneinen und auch nicht in den Hintergrund drängen. In diesem Zusammenhang kommt es in der Ukraine häufig zu Diskussionen über die Frage, was passiert wäre, wenn der erste Präsident des Landes 1991 nicht der ehemalige Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, Leonid Krawtschuk, geworden wäre, sondern sein wichtigster Herausforderer – der Vertreter der demokratischen Opposition, ehemalige Menschenrechtsaktivist und politische Gefangene Wjatscheslaw Tschornowil.

Viele argumentieren, dass dies eine Katastrophe gewesen wäre, weil die zutiefst russifizierte und sowjetisierte Gesellschaft der Ukraine »ihren« Vaclav Havel oder Lech Wałęsa nicht akzeptiert hätte. Diese Aussage ist beachtenswert, aber auch rein spekulativ. Denn wenn Tschornowil die Wahlen tatsächlich gewonnen hätte, hätte dies ja gezeigt, dass die ukrainische Gesellschaft nicht mehr so sowjetisch gewesen wäre, dass sie ungefähr wie die tschechische oder polnische Bevölkerung oder zumindest insgesamt wie die westukrainische Bevölkerung gewesen wäre, die sowjetische Herrschaft nie wirklich angenommen hätte und ihre Werte und Diskurse nicht umfassend verinnerlicht hätte. Es ist unwahrscheinlich, dass ein ukrainischer Havel mit einer solchen Gesellschaft mehr Probleme gehabt hätte als mit einer tschechischen, polnischen oder litauischen Gesellschaft.

Die Lage 1991

Die ukrainische Gesellschaft war jedoch weitgehend unvorbereitet auf einen radikalen Wandel, einen entscheidenden Bruch mit dem sowjetischen Erbe und einen grundlegenden institutionellen Neustart des gesamten Systems. Deshalb stimmte am 1. Dezember 1991 nur ein Viertel der Wähler für Tschornowil und mehr als zwei Drittel für Krawtschuk. Am selben Tag stimmten mehr als 90 % der Ukrainer für die nationale Unabhängigkeit, stellten sich diese Unabhängigkeit jedoch sehr unterschiedlich vor. Für Tschornowils Anhänger waren ideologische Motive ausschlaggebend – insbesondere die »Rückkehr nach Europa«, von dem die Ukraine ihrer Meinung nach künstlich abgegrenzt worden war. Für die Anhänger Krawtschuks waren wirtschaftliche Motive ausschlaggebend – ein naiver Glaube an wirtschaftlichen Wohlstand, der ohne das »erpresserische« Moskau bald kommen würde; ausschlaggebend war für viele auch die alte sowjetische Tradition, nicht gegen den Strom zu schwimmen und den Status quo zu stärken.

So hatten im März 1991 im sowjetischen Referendum mehr als zwei Drittel für den Erhalt der »erneuerten Sowjetunion« gestimmt – genau so viele wie später für Krawtschuk. Ebenso stimmte im März 1991 ein Viertel der Ukrainer (hauptsächlich im Westen und in der Hauptstadt) gegen die »erneuerte Union« – was dem Stimmenanteil entspricht, den Tschornowil im Dezember erhielt.

Spaltung

Die folgende Geschichte der Ukraine ist eine Geschichte der Koexistenz zweier weitgehend unvereinbarer ideologischer, politischer, kultureller und geopolitischer Projekte. Dies sind natürlich reine Abstraktionen, Webers »Idealtypen«, die in der Praxis verschiedene, manchmal hybride Formen annehmen, die es in der Tat nicht erlauben, weder geographisch noch sprachlich oder ethnokulturell eine klare Grenze zwischen den »zwei Ukrainen« zu ziehen. Das Engagement für diese Projekte korreliert eindeutig mit Regionen, Sprache und ethnischer Zugehörigkeit, aber auch mit Alter, Bildung und subjektivem Wohlbefinden der Bürger. In allen Fällen handelt es sich nur um einen aufzeigbaren Zusammenhang, aber keineswegs um eine starre Kausalität, wie dies in wirklich gespaltenen Gesellschaften wie der bosnischen oder der mazedonischen der Fall ist.

Nicht nur die Art der Spaltung, sondern auch die Dynamik der Veränderung ist in solchen Situationen wichtig. In der Ukraine ist sie geprägt von der allmählichen Verbreitung pro-europäischer Werte und Orientierungen und der Stärkung pro-ukrainischer Präferenzen. Von den drei wichtigsten sprachlichen und ethnischen Gruppen in der Ukraine (ukrainisch-sprachige ethnische Ukrainer, russisch-sprachige ethnische Ukrainer und ethnische Russen) befürwortete 2001 nur eine mehrheitlich die nationale Unabhängigkeit, nämlich die ukrainisch-sprachige (mit 60 % zu 16 %), während die russisch-sprachigen Ukrainer (43 % zu 30 %) und die ethnischen Russen (25 % zu 45 %) sich eher ablehnend äußerten. 2019 hingegen erklärten alle drei Gruppen mehrheitlich (mit 89 %, 78 % bzw. 75 %) ihre Unterstützung für die nationale Unabhängigkeit. Die Bürger der Ukraine unterscheiden sich nach wie vor in ihren Präferenzen. Aber die Tendenz zur nationalen Konsolidierung ist in allen sprachlichen und ethnischen Gruppen offensichtlich.

Wichtig für die zukünftige Entwicklung sind auch die allmähliche Entwicklung von Sozialkapital in der Gesellschaft und das politische Engagement der Mittelschicht, die bei den ukrainischen Revolutionen 2004 und 2014 eine entscheidende Rolle spielte.

Epilog

Zugegebenermaßen ist das ukrainische »Glas« derzeit halb leer. Aber wir müssen wir uns daran erinnern, dass es vor 30 Jahren nur zu einem Viertel gefüllt war. Eine engagierte, leidenschaftliche Minderheit hat nach und nach das Land verändert und verändert es auch weiter – trotz der Trägheit der passiven Mehrheit. Die erreichten Veränderungen sind natürlich kein Grund zum Triumph, aber sie sind Grund genug für gemäßigten Optimismus und ein genaueres Studium der ukrainischen Erfahrungen und Perspektiven.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Lina Pleines

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