Russland will die Ukraine kontrollieren – und wird langfristig das Gegenteil erreichen

Von Eduard Klein (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)

Zusammenfassung
Russlands Invasion hat zu einem eklatanten Bruch geführt, allerdings anders, als von Putin und seinen Beratern erwartet worden war: Anstatt eines schnellen Zusammenbruchs des ukrainischen Staates (den es laut Putin gar nicht gibt) ist die ukrainische Gesellschaft – im gesamten Land, unabhängig davon ob West oder Ost – enger zusammengerückt. Wenn Putin mit seinem militärischen Einmarsch etwas zerstört hat, dann nicht den ukrainischen Staat, sondern das Band zwischen der Ukraine und Russland.

Der russische Präsident Wladimir Putin will die Ukraine mit militärischer Gewalt in die russische Einflusssphäre zurückholen – erreichen wird er damit das genaue Gegenteil. Seit Putin den Befehl für eine »militärische Sonderoperation« gegeben hat, um einen angeblichen »Genozid« im Donbas zu verhindern und dafür die Ukraine entmilitarisieren und »entnazifizieren« will, ist den Menschen in der Ukraine bewusst: Putin will nicht nur den Donbas unter seine Kontrolle bringen, sondern das gesamte Land. Und zwar nicht friedlich mithilfe von »soft power« oder Argumenten wie der wirtschaftlichen Attraktivität Russlands, sondern mit dem einzigen (und aus seiner Sicht bewährten) Mittel, das ihm zur Verfügung steht: militärischer Gewalt.

Der Krieg hat bereits verheerende Ausmaße angenommen. Ukrainischen Angaben zufolge wurden in den ersten zwölf Tagen Dutzende Krankenhäuser zerstört, mehr als 200 Schulen und 1.500 Wohngebäude; Hunderte Zivilisten kamen dabei ums Leben. Mehr als zwei Millionen Menschen sind bereits geflohen, und in den kommenden Wochen und Monaten werden weitere Millionen hinzukommen. Bombardierte Städte, wie die ehemals blühende Studentenmetropole Charkiw im Osten oder Tschernihiw im Norden, wecken dunkle Erinnerungen an Grosny 1999 oder Aleppo 2016, als diese Städte vom russischen Militär praktisch dem Erdboden gleich gemacht wurden.

Russlands völkerrechtswidrige Kriegsführung mit bewussten Angriffen auf die zivile Infrastruktur hat nicht nur zum Ziel, die ukrainische Staatlichkeit zu zerstören, sondern auch, die Menschen in der Ukraine zu brechen und zu demütigen – als Rache für die Abkehr von Russland 2013/2014. Damals protestierten Millionen Ukrainer:innen für einen westlichen Kurs und gegen eine engere Anbindung an Russland. In Folge dieser »Revolution der Würde« brach die Ukraine endgültig aus der russischen Einflusszone aus, die der Kreml im »nahen Ausland« für sich proklamiert. Der informelle politische und wirtschaftliche Einfluss auf Kyjiw, den Moskau auch nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 weiterhin besaß, war dem Kreml 2014 endgültig entglitten. Der aktuelle Einmarsch hat somit mehr mit dieser Entwicklung zu tun als mit einem vermeintlich bevorstehenden NATO-Beitritt der Ukraine, der 2008 vom Bündnis klar abgelehnt wurde und seither nicht weiter vorangekommen ist.

Russlands Invasion hat zu einem eklatanten Bruch geführt, allerdings anders, als von Putin und seinen Beratern erwartet worden war: Anstatt eines schnellen Zusammenbruchs des ukrainischen Staates (den es laut Putin gar nicht gibt) ist die ukrainische Gesellschaft – im gesamten Land, unabhängig davon ob West oder Ost – enger zusammengerückt, wie Umfragen belegen (siehe Umfragen in dieser Ausgabe). Der Rückhalt für den früheren Schauspieler Wolodymyr Selenskyj, der, so will es die Ironie der Geschichte, im Präsidentenamt wohl tatsächlich die Rolle seines Lebens gefunden hat, ist über alle Regionen des Landes hinweg äußerst hoch (im Westen, wo Selenskyj anfangs den geringsten Rückhalt besaß, mit 85 Prozent sogar besonders hoch). Das gilt auch für die Moral und den Kampfgeist der ukrainischen Armee sowie für den generell starken Zusammenhalt in der Bevölkerung. Es spielt keine Rolle, welche Sprache man spricht, in welcher Region man lebt oder ob man politisch links oder rechts steht. Nach dem Blitzangriff ist die Ukraine nicht zusammengebrochen, sondern vereinter denn je. Das gibt den Menschen selbst unter den bedrückenden Umständen Kraft und Hoffnung. Glaubten im Januar 2022 noch 56 Prozent, dass die Ukraine eine russische Invasion abwehren könnte, waren es Anfang März, nach der ersten Woche des Krieges, 88 Prozent, die von einem Sieg der Ukraine ausgingen.

Wenn Putin mit seinem militärischen Einmarsch etwas zerstört hat (abgesehen von der russischen Wirtschaft und der Zukunft des eigenen Landes), dann nicht den ukrainischen Staat, sondern das Band zwischen der Ukraine und Russland. Machten viele Ukrainer:innen in den letzten Jahren hauptsächlich die russische Führung für den Konflikt zwischen beiden Staaten verantwortlich (vor einem Jahr war die ukrainische Bevölkerung gegenüber der russischen Bevölkerung mehrheitlich freundlich gestimmt), ändert sich das mit zunehmender Dauer und Intensität des Krieges. Zwar schreibt die Mehrheit der Ukrainer:innen (55 Prozent) der russischen Regierung die alleinige Verantwortung für den Krieg zu, allerdings meinen auch fast 40 Prozent, dass die russische Bevölkerung eine Mitschuld trage. Sie sind bestürzt, dass ihre russischen Verwandten und Bekannten eher der staatlichen russischen Propaganda von einer »sauberen Militäroperation« glauben als den betroffenen Ukrainer:innen, die den Krieg am eigenen Leib erfahren und von den Zerstörungen berichten. Das wird auch nach Kriegsende negative Konsequenzen für das Verhältnis zwischen der ukrainischen und russischen Gesellschaft haben.

Doch nicht nur auf dieser persönlichen Ebene entfernen sich beide Staaten durch den Krieg voneinander, sondern auch auf der (geo-)politischen: Während Russland sich durch seinen Angriffskrieg politisch und wirtschaftlich selbst isoliert hat und die innenpolitischen Repressionen gegen die eigene Bevölkerung noch verschärft, schreitet die Westintegration der Ukraine weiter voran. Am 28. Februar 2022 beantragte Selenskyj offiziell den EU-Beitritt und forderte ein beschleunigtes Aufnahmeverfahren. Zwar wird das Land in nächster Zeit vermutlich weder der EU noch der NATO beitreten, doch in der Bevölkerung werden diese Ziele, die früher durchaus umstritten waren, inzwischen mit großer Mehrheit befürwortet. Sprachen sich im Januar 2022 noch 65 Prozent für einen EU-Beitritt aus, waren es im März bereits 86 Prozent – so viele wie noch nie. Das gilt auch für die Befürwortung eines NATO-Beitritts, für den der Zuspruch im selben Zeitraum von 60 auf 76 Prozent stieg.

Die globale Solidarität und die Unterstützung der Ukraine sind bemerkenswert (siehe Dokumentation) und es bleibt zu hoffen, dass diese auch anhalten, wenn der Krieg in einigen Wochen zwar nicht aus der Ukraine verschwunden sein sollte, aber aus den internationalen Schlagzeilen. Es ist absolut unklar, wie der Krieg in den nächsten Wochen weitergehen und in welcher Form der ukrainische Staat weiterexistieren wird. Es zeichnet sich jedoch bereits ab, dass Putins Krieg den Nationsbildungsprozess der Ukraine stärker beschleunigt und konsolidiert hat, als die 30 Jahre der Unabhängigkeit zuvor.

Die Menschen in Europa akzeptieren allmählich, dass die Ukraine ein Teil von Europa ist. Der Wiederaufbau der Nachkriegsukraine wird ein langwieriger und kostspieliger Prozess und damit eine große Herausforderung für Europa. Hierbei sollte vor allem Deutschland einen wichtigen Beitrag leisten, da wir eine historische Verantwortung gegenüber der Ukraine haben, wie ich in meinem letzten Kommentar beschrieben habe (Ukraine-Analysen 262). Vor allem aber hat Deutschland nach 1945 gezeigt, dass ein zerstörtes Land wiederaufgebaut und ein geteiltes Land wiedervereinigt werden kann – und dass eine Aussöhnung zwischen verfeindeten Völkern gelingen kann.

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Von der Redaktion

Spendenaufruf

Um unsere ukrainischen Kolleg:innen zu unterstützen, hat die Forschungsstelle Osteuropa Bremen kurzfristig ein Sonderstipendienprogramm ins Leben gerufen. Es soll geflüchteten Wissenschaftler:innen aus der Ukraine, aber auch bedrohten Kolleg:innen aus Russland und Belarus die Möglichkeit bieten, ihre Arbeit in Bremen fortzusetzen. Zur Finanzierung dieser Stipendien haben wir eine Spendenkampagne gestartet.
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