Es ist unglaublich zynisch und dennoch wahr: Im Laufe der großangelegten russischen Invasion hören Ukrainer immer wieder aus einigen Ländern des Westens, und insbesondere auch aus Deutschland, die Frage: »Warum ergebt ihre euch nicht?«. Andrij Melnyk, der ukrainische Botschafter in Deutschland, wurde in der Fernsehtalkshow Maybrit Illner sogar gefragt, wie viele zivile Opfer die Ukraine bereit sei »in Kauf zu nehmen« (als ob die Ukraine und nicht Russland für Tausende ziviler Opfer auf ukrainischem Boden verantwortlich sei). Andere Varianten des gleichen Narrativs lauten: »Die Ukraine will keinen Waffenstillstand/Kompromiss mit Russland«.
Das verdeutlicht lediglich die Tatsache, dass Menschen, die diese Ansicht teilen, Russland und dessen wahre Absichten nicht begreifen. Das ist umso ironischer, als dass das heutige Russland viele Ähnlichkeiten mit faschistischen Regimen wie dem Nazi-Regime seinerzeit in Deutschland aufweist – besonders Deutschland sollte das erkennen.
Man sollte gut auf die Wortwahl achten. Russland behauptet, es wolle die Ukraine »entnazifizieren«. Allerdings wird dieser Begriff pervertiert. Während Russland sein Kriegsziel, die Ukraine, als nazistisch bezeichnet, ist das Land selbst zum Inbegriff des Neofaschismus geworden – in seiner aktualisierten, russischen Form, mit vielen Parallelen zu Hitlers Drittem Reich: Wladimir Putin hat die endgültige »Lösung der ukrainischen Frage« angekündigt, ganz wie Hitler die Lösung der Judenfrage verkündet hatte. Das Volk der Ukrainer:innen wird in Russland als Untermenschen (»Kleinrussen«) betrachtet. Und was Russland mit der Ukraine vorhat, ist ein Vernichtungskrieg, mit Gefängnis und vermutlichen Todeslisten für jene, die abweichender Meinung sind. Der Krieg gegen die Ukraine hat auch seine eigenen Symbole hervorgebracht: Das »Z« wird zu einem neuen, hakenkreuzartigen Symbol in Russland.
Die Philosophie dieses Krieges ist von Wolodymyr Jermolenko treffend erfasst worden, der beobachtete, dass wenn man für Russland ein Nazi ist, dies einfach bedeutet, dass man eine eigenständige ukrainische Identität hat (in Bezug auf Sprache, Kultur usw.). Gleichzeitig ist Ivan Krastev der Ansicht, dass für Putin diejenigen Nazis sind, die sich dem »ewigen Russland« entgegenstellen. Also haben die Ukrainer:innen aus Sicht Putins keine Wahl: Sie sollen entweder wie Russen sein (und somit aufhören als eigene Nation zu existieren), oder sie sind Nazis und gehören vernichtet.
In Wirklichkeit ist es Russland, und nicht die Ukraine, das keinen Kompromiss sucht. Russland will die gesamte Ukraine kontrollieren (und wird womöglich nicht an der ukrainischen Grenze haltmachen). Russlands Ziel gegenüber der Ukraine besteht in einer »Entmilitarisierung« (also einem Ausschluss jeder Möglichkeit, sich selbst zu verteidigen), einer »Entnazifizierung« (also wie erwähnt einer Beraubung des Landes jeglicher Identität), einer »Neutralität« (also einer Einschränkung seiner Souveränität bei außenpolitischen Entscheidungen) und in einer Anerkennung der Annexion der Krim sowie der »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk in der Ostukraine (wodurch die Verletzung der territorialen Integrität des Landes zementiert würde). Russland wird also jeden halben Schritt lediglich als provisorisch betrachten, als eine Pause, die es dazu nutzen kann, sich neu aufzustellen, um dann erneut angreifen zu können.
Wir haben das bereits acht Jahre lang beobachten können. Seit der russischen Aggression 2014 hat Russland keine stabile Feuerpause eingerichtet, ganz zu schweigen von einer Entflechtung oder einer Entwaffnung der Truppen im Donbas, was eine der zentralen Bestimmungen der Minsker Abkommen darstellt. Also wird jede Art von Waffenstillstand, falls sich gleichzeitig noch russische Truppen auf ukrainischem Territorium befinden, von Russland dazu genutzt werden, seine Stellungen in den besetzten Gebieten zu festigen und sich auf die nächste, noch heftigere und brutalere Runde des Krieges vorzubereiten. Darüber hinaus könnte Russland versuchen, dem Westen einen solchen »Waffenstillstand« als einen Grund zu verkaufen, die Sanktionen zu lockern. Das ist etwas, was Russland verzweifelt benötigt, um seine siechende Wirtschaft aufrecht zu erhalten
Das ist auch der Grund, warum es keine Option sein kann, die euroatlantische Integration der Ukraine bei Verhandlungen zur Disposition zu stellen. Die Neutralität, die Russland von der Ukraine fordert, ist ein wichtiger Schritt, um die Hörigkeit der Ukraine sicherzustellen. Sobald die Ukraine ihr Streben nach euroatlantischer Integration auf Verlangen eines anderen Staates aufgibt, würde dies eine Beschränkung der eigenen Souveränität bedeuten. Es geht nicht um die Frage, ob die NATO bereit ist, die Ukraine aufzunehmen. Es geht um eine unabhängige Entscheidung über die Richtung einer Integration – um den freien Willen der Ukraine, ihre Außenpolitik selbst zu gestalten. Es sei daran erinnert, dass Russland die Ukraine 2014 angriff, als diese neutral war. Somit ist Russlands »Furcht«, dass die NATO auf ukrainisches Territorium vorrücken könnte, nichts weiter als ein Vorwand für den jetzigen Angriff, nicht aber dessen wahre Ursache.
Erwähnt werden sollte hier auch, dass es bei der russischen Aggression im Donbas keineswegs nur um die Gebiete Donezk und Luhansk gegangen ist. In Wirklichkeit wollte Putin die besetzten Gebiete als Hebel zur Kontrolle der gesamten Ukraine einsetzen. Das ist auch der Grund, warum in den Minsker Abkommen eine de facto-Föderalisierung und Änderungen an der ukrainischen Verfassung vorgesehen sind.
Wer der Ansicht ist, ein Waffenstillstand würde weitere Opfer verhindern, liegt falsch. Die Geschichte hält einige Analogien parat: Polen ergab sich 1939 Nazi-Deutschland, nach dem die Zahl der Opfer 100.000 erreicht hatte. Danach kamen weitere 5 Millionen Pol:innen ums Leben. Auch in Dänemark, Belgien und den Niederlanden gab es nach der Kapitulation einen exponentiellen Anstieg der Todeszahlen. Wenn sich die Ukraine jetzt ergibt, würde ihr ein ähnliches Schicksal drohen. Die besetzten Gebiete würden mit Terror überzogen werden. Wer daran zweifelt, sollte sich die Berichte aus den belagerten Städten ansehen: Dem Bürgermeister von Mariupol zufolge sind Tausende Bewohner:innen aus der belagerten Stadt zuerst in Lager verbracht und dann zwangsweise nach Russland deportiert worden. In den besetzten Städten Berdjansk, Nowa Kachowka, Skadowsk, Wolnowacha und Melitopol werden bereits Angehörige des öffentlichen Dienstes, Journalist:innen und Aktivist:innen vermisst (siehe auch Erklärung der Kyjiwer Gespräche in dieser Ausgabe, Anm. d. Red.). Menschen, die die russische Besatzung überlebt haben, berichten von Menschen- und Kriegsverbrechen durch russische Soldaten, etwa von Vergewaltigungen und wahllosen Tötungen von Zivilisten, auch von Kindern. Die jüngste Geschichte der besetzten Teile der Gebiete Donezk und Luhansk ist ebenfalls voll von solchen Beispielen, wobei das Geheimgefängnis »Isolazija« in der »Volksrepublik« Donezk zu einem Symbol für diese Gräueltaten wurde. In dem gerade auf Deutsch erschienenen Buch »Heller Weg. Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbas 2017–2019« ist mehr über diese Untaten zu lesen. Autor ist der preisgekrönte ukrainische Schriftsteller und ehemalige Insasse des Gefängnisses, Stanislaw Asejew.
Auch diejenigen, die Russlands militärische Macht fürchten und auf einen militärischen Sieg Russlands in diesem Krieg setzen, liegen falsch. Das Pentagon war bemerkenswert präzise bei der Vorhersage des Zeitpunktes der russischen Invasion, irrte sich jedoch hinsichtlich der Widerstandskraft der Ukraine. Die Hauptstadt Kyjiw hält immer noch stand und ist weit davon entfernt, eingeschlossen oder belagert zu sein, und Russland hat in 25 Tagen des Krieges nur eine Gebietshauptstadt einnehmen können. Dem Chef des Generalstabs der Ukrainischen Streitkräfte zufolge hat Russland in über drei Wochen mehr als 14.500 Militärangehörige verloren, was die russischen Verluste in den beiden Tschetschenienkriegen und die sowjetischen Verluste in dem zehnjährigen Krieg in Afghanistan (1979–1989) übersteigt. Das bedeutet zweierlei: Der Westen hat einerseits die russische Armee erheblich überschätzt und andererseits die ukrainischen Streitkräfte (und das, wozu sie mit westlichen Waffen in der Lage sind) unterschätzt. Auf eine Niederlage der Ukraine zu setzen, wäre also ein Fehler.
Ein anderer Fehler wäre es, wenn man glaubt, dass es allein »Putins Krieg« ist, wie Olaf Scholz kürzlich annahm. In Wirklichkeit unterstützt eine große Mehrheit in Russland vehement ihren Anführer beim Krieg gegen die Ukraine, von Universitätsrektoren bis zu olympischen Stars. Dem »Allrussischen Zentrum für die Erforschung der öffentlichen Meinung« (WZIOM) zufolge unterstützen 71 Prozent der Russ:innen den Krieg gegen die Ukraine, der als »Spezialoperation« bezeichnet wird (auch wenn, wie angenommen werden muss, einige Menschen in Russland Angst haben, sich gegen den Krieg auszusprechen, und deshalb lieber schweigen, was sie nichtsdestotrotz mitschuldig macht). Es ist eben nicht Putin, der im Moskauer Luschniki-Stadion russische Flaggen zur Feier des Jahrestages der Krim-Annexion schwenkt, sondern 200.000 Russ:innen. Es ist auch nicht Putin selbst, der die Bomben auf das Theater in Mariupol wirft, vor dem in großen Lettern »Kinder« geschrieben steht, sondern es sind russische Soldat:innen, die diesen Krieg möglich machen (Anm. der Red: Bei dem Angriff auf das Theater sollen mehr als 300 Menschen getötet worden sein).
Die Deutschen wissen sehr wohl, was kollektive Verantwortung bedeutet. Diese sollte allerdings klar von kollektiver Schuld unterschieden werden. Die Schuld wird individuell und vor Gericht festgestellt. Die kollektive Verantwortung für die russischen Verbrechen in der Ukraine jedoch muss vom ganzen Volk Russlands übernommen werden. Es wird Jahre brauchen, wie es in Deutschland Jahrzehnte brauchte (und es erfolgte zu großen Teilen durch eine erzwungene »Umerziehung« durch die Alliierten…). Allerdings ist es höchste Zeit, dass Deutschland aufhört, sich von seiner Schuld gegenüber Russland blenden zu lassen. Das heutige Russland könnte an Bösartigkeit womöglich weitergehen als Nazi-Deutschland, wenn man es ließe.
Schließlich ist es höchste Zeit, dass die NATO die russischen Drohungen gegenüber dem Bündnis selbst ernstnimmt. Putin hat gefordert, dass sich die NATO auf ihre Grenzen von 1997 zurückzieht. Einer Umfrage der Active Group zufolge würden 86,6 Prozent der Russ:innen eine bewaffnete Invasion in andere europäische Länder unterstützen, und 75,5 Prozent meinen, Polen sollte als nächstes dran sein.
Während sich der Krieg im restlichen Europa vor allem in steigenden Lebensmittel- und Heizungspreisen manifestiert, fühlt er sich in der Ukraine bereits wie ein Dritter Weltkrieg an, mit permanentem Beschuss ganzer Städte und Dörfer, Tausenden zivilen Opfern und mehr als zehn Millionen Flüchtlingen. Es gibt nur einen Weg zu verhindern, dass der Krieg in andere europäische Länder überschwappt, nämlich die Ukraine mit allen Mitteln zu unterstützen: Die Ukraine sollte mit modernen Systemen zur Luft- und Raketenabwehr ausgestattet werden, mit Drohnen, Kampfjets, Panzerabwehrraketen und Schiffsabwehrwaffen.
Der Ukraine sollte auch den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhalten, mit einem Eilverfahren für eine Mitgliedschaft. Das würde nicht nur das Signal aussenden, dass die Ukraine kein Teil der Russischen Welt sein wird, es wäre auch ein klares Signal an die ganze Welt, von wem die EU denkt, dass der Krieg gewonnen wird. Wieso sollte man schließlich einem Land einen Kandidatenstatus für die EU verleihen, das alsbald aufhören könnte zu existieren? Weitere Argumente für eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine sind in einer Serie von Infografiken des New Europe Centers aufgeführt.
Auf einen Kompromiss mit Putins faschistischem Russland zu setzen, wäre ähnlich, wie auf einen Kompromiss mit Nazi-Deutschland zu setzen. Der einzige Ausgang des Krieges, den der Westen anstreben sollte, ist eine Niederlage Russlands. Sollte hingegen die Ukraine im Gegenzug für einen zeitweiligen Waffenstillstand aufhören sich zu verteidigen, werden die Folgen nur noch schwerwiegender sein, sowohl für die Ukraine wie für den Rest der Welt.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder