Die politische Bildung in Deutschland hat zum Ziel, demokratische Prozesse zu fördern und Zivilgesellschaft zu unterstützen. Allerdings kann sie nicht mehr im nationalen Kontext verhandelt werden: Längst hat die Globalisierung auch diesen Bereich erfasst. Doch transnationale Perspektiven auf die politische Bildung stellten sich spätestens mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine als asymmetrisch heraus. Es ist klar geworden, dass die Länder Mittel- und Osteuropas sich zu lange im Schatten Russlands befanden. Abgesehen von den punktuellen Aufmerksamkeitsspannen, die meistens von Krisen, Kriegen und Kuriositäten genährt wurden (siehe dazu eine aufschlussreiche Studie der GIZ), gab es wenige Akteur*innen in Kultur und Bildung, die sich jahrelang und systematisch mit diesem Teil Europas befasst haben. Der Osteuropahistoriker Gerhard Simon stellte vor kurzem fest: „Nach 1991 hat es die Osteuropawissenschaft nicht einmal geschafft, die seit hundert Jahren bestehende Priorisierung Russlands zu überwinden und beispielsweise der Ukraine, aber auch anderen vernachlässigten Regionen Osteuropas den ihnen zustehenden Platz einzuräumen.“
Doch der Bildungs- und Kulturbereich, wie auch die Wissenschaften, sind keine autonom agierenden Felder, sie wurden auf staatlicher Ebene durch politische und mediale Diskurse dominiert. Und sie waren in Deutschland oftmals russozentrisch. Karl Schlögel merkte bereits 2015 in seinem Buch „Entscheidung in Kiew“ an: „Im medialen Dauergespräch ging es fast ausschließlich um Putins Russland […]. Man sprach selten mit den Ukrainern, sondern viel mehr über sie und ihr Land. […] Fast ohnmächtig stand man dieser Ignoranz und Anmaßung gegenüber, die sich auf ihre Fortschrittlichkeit auch noch etwas einbildete.“
Nach dem Fall der Mauer 1989 und der Wende 1990/91 waren in Deutschland gegenläufige Bewegungen zu beobachten. Einerseits wurden mehrere Institutionen, die die Sowjetunion und den sozialistischen Block fokussierten, mit dem Argument abgebaut bzw. verkleinert, der Kalte Krieg sei zu Ende, sie würden nicht mehr benötigt. Gleichzeitig eröffneten sich komplett neue Perspektiven und das Interesse in Deutschland stieg für einige Länder hinter dem gefallenen Eisernen Vorgang. Im kulturellen Bereich wurden Projekte und Austausch, auch durch neue EU-Programme, initiiert und gefördert. 1991 entstand beispielsweise das Deutsch-Polnische Jugendwerk, 2005/06 fand das medial umfassend begleitete Deutsch-Polnische Jahr statt, mit zahlreichen Debatten und Kulturveranstaltungen sowie rund 100 Projekten in den Bereichen Kultur und Wissenschaft. Ende der 1990er und in den frühen 2000er Jahren legten einige private Stiftungen Programme für den Austausch zwischen Deutschland und Mittel- und Osteuropa auf, wie z. B. das Kulturmanager-Programm der Robert Bosch Stiftung. Die Bundeszentrale für politische Bildung führte das Programm „Politische Bildung in Aktion“ zwischen 2009 und 2013 durch, das Hospitationen politischer Bildner*innen aus Mittel- und Osteuropa an Institutionen der politischen Bildung in Deutschland förderte. Doch diese Projekte und Programme waren nur zeitlich befristet. Belebt wurde der Austausch durch das Programm des Auswärtigen Amtes zur Förderung der Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Russland, das nach dem Maidan in der Ukraine 2014 ins Leben gerufen wurde und bis heute fortgeführt wird. Aber auch dieses Programm ist an den Haushalt des Bundes und an den Zyklus der Legislaturperioden gebunden.
So viel sie gebracht haben, liegen dennoch allen Projekten und Programmen einige Fehler zugrunde. Der erste Fehler im System betrifft die Kurzfristigkeit. Obwohl die Nachhaltigkeit ein Förderkriterium und ein explizit artikuliertes Ziel war, wurden die meisten Programme eingestellt. Die Projektlogik zwingt die zivilgesellschaftlichen Strukturen in enge „Ein-Jahres-Pläne“ – ein zweites Mal das gleiche Projekt einzureichen, obwohl es erfolgreich lief, war nicht möglich. Die Projektlogik verdrängte die systematische Inklusion von Wissen, Expertise und Erfahrung in bestehende Institutionen, die mit stabilen Ressourcen ausgestattet sind.
Der zweite Fehler betrifft die Konzentration auf Russland, insbesondere in Deutschland. In den Geschichtswissenschaften beschreibt der Begriff der „Entangled History“ transkulturelle Verflechtungen zwischen Weltregionen und Ereignissen. Daraus ließe sich ein neues produktives Konzept ableiten, eine „Entangled Education/Culture“: ein Konzept, das Gemeinsamkeiten und Interdependenzen in den Blick nimmt und keine Entfremdung fördert, sondern multiperspektivisch auf diverse nationale, regionale und transnationale Kontexte in Europa und darüber hinaus schaut. Die Ukraine sollte in diesem Konzept nicht als ein „zerrissenes Land“ oder ein Land „zwischen Ost und West“, „ukrainisch- und russischsprachig“ polarisiert werden, sondern als ein multiethnischer, -sprachlicher und -kultureller Staat aufgefasst werden, der sich historisch an den Kreuzungen vieler Imperien befand und in dem kulturelle, politische und soziale Verflechtungen die Nationenbildung beförderten.
Letztlich lassen sich Diskurse über Themen wie Solidarität, Freiheit, Armut, Macht, Gerechtigkeit, Migration, Klima oder Demokratiedefizite, die die politische Bildung gegenwärtig verhandelt, nicht in nationalen Grenzen aushandeln, sondern nur im europäischen bzw. transnationalen Kontext. Dabei sollte die Transformationsexpertise der Länder Mittel- und Osteuropas, die sowohl autoritäre als auch demokratische Erfahrungen verbinden, einen Beitrag zur Demokratieförderung in Deutschland und Europa leisten.