Wir brauchen dringend und schnell eine interdisziplinäre Ukrainistik an deutschsprachigen Universitäten

Von Alexander Wöll (Universität Potsdam)

Zusammenfassung
In Deutschland gibt es bis heute keine eigenständige Ukrainistik. Spätestens mit der radikalen Ausweitung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 wurde diese Lücke offenbar. Wir brauchen daher dringend und schnell eine dauerhafte Institutionalisierung und Verankerung der Ukrainistik.

In Deutschland gibt es bis heute keine eigenständige Ukrainistik. Spätestens mit der radikalen Ausweitung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 wurde diese Lücke offenbar. Wir brauchen daher dringend und schnell eine dauerhafte Institutionalisierung und Verankerung der Ukrainistik ‒ schließlich ist die Ukraine der größte rein europäische Flächenstaat und das zweitgrößte slawischsprachige Land mit einer Sprecherzahl von knapp 40 Millionen.

Die Einführung des Bologna-Systems hat leider dazu geführt, dass kleine Fächer in der Lehre teilweise fast verschwunden sind. Hintergrund ist, dass der Erwerb von Sprachen, die, wie das Ukrainische, nicht an deutschen Schulen unterrichtet werden, zusammen mit dem nötigen Fachwissen meist nicht mehr in den BA-Workload zu integrieren sind. Da durch eine generelle Öffnung von Fachwechselmöglichkeiten auch kein konsekutiver Aufbau in MA-Programmen mehr gewährleistet werden kann, erscheint ein Einbau von grundlegenden Sprachkursen (als Alternative zu den weiterführenden Angeboten) auch im MA nötig und sinnvoll.

Die Ukrainische Sprache lässt sich aktuell an zwölf deutschen Universitäten erlernen (Bamberg, Berliner HU, Bochum, Frankfurt/Oder, Gießen, Göttingen, Greifswald, Leipzig, Münchner LMU, Münster, Oldenburg und Würzburg in alphabetischer Reihenfolge) ‒ jedoch oft nicht über das Niveau A2 hinaus, was lediglich elementaren Grundkenntnissen entspricht. Nicht zuletzt deswegen kommen Sommerschulen (in Deutschland wie auch in der Ukraine) eine große Bedeutung zu. Dort lassen sich in kompakter Form Intensivsprachkurse belegen, um die nötigen Credit Points für Sprachzertifikate zu erreichen. Diese unzureichende Situation muss in dauerhafte und regelmäßige Lernstrukturen überführt werden.

Wir müssen dringend ein inzwischen veraltetes Konzept von Area Studies und Cultural Studies überwinden, das eine Untersuchung von Kulturräumen anstrebt, ohne dabei die sprachlichen und spezifisch kulturellen Grundlagen erlernt zu haben. In der Ukraine sind die Menschen in allen ihren Landesteilen multilingual in der Lage, neben Ukrainisch auch Russisch (und überwiegend oft auch Englisch) zu verstehen und zu sprechen. Dennoch reichen Russisch- oder gar nur Englischkenntnisse für Forschende absolut nicht aus. Ein wissenschaftlicher Zugang zu den kulturellen, politischen und sozialen Besonderheiten der Ukraine wird ohne ausreichende Sprach- und Kulturkenntnisse nur sehr rudimentär sein. In den Politik-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften muss es Dozierende geben, die nachweislich regelmäßig in der Ukraine mit dortigen Forschenden wissenschaftlich tätig sind und auch dauerhaft beschäftigt sind. Eine Integration der einzelnen Fächer sollte von einem zentralen Institut heraus erfolgen, das die Expertise zur Verfügung stellt und Curricula konzipiert. Als »Best Practice« kann der Aufbau der Ukrainistik an der Universität Cambridge in den letzten fünfzehn Jahren dienen.

Wir benötigen also eine exzellente Sprachausbildung mit guten Lehrwerken, die vor allem einen kontrastiven Erwerb mit anderen slawischen »Brücken-Sprachen« (z. B. Polnisch oder Russisch) ermöglichen, weil Ukrainisch oft die slawische Zweitsprache ist. Dabei sollte vermieden werden, dass – aufgrund einer nicht mehr möglichen Rekrutierung des eigenen Nachwuchses durch Promotionen und Habilitationen auf dem Gebiet der Ukrainistik – nur noch Dozierende aus der Ukraine mit ukrainischer Muttersprache eingestellt werden (wie beispielsweise an der Freien Ukrainischen Universität München der Fall), weil das die Gefahr einer zu starken Fokussierung auf herkunfts- und muttersprachliche Studierende birgt und die Akzeptanz des Faches an anderen Fakultäten und Universitäten mindert.

Zum schnellstmöglichen Aufbau von ukrainistischer Expertise sollten an Universitäten, die sich für einen Ukrainistik-Schwerpunkt entscheiden, Fellow-Programme von mindestens sechs Monaten für Doktoranden und Post-Docs eingerichtet werden. Neben der eigenen Forschung sollte dies ein unterrichtetes Seminar und einen öffentlichen Vortrag umfassen. Gerade diese Fellows können über die akademischen Strukturen hinaus in Gesellschaft und Politik wirken und benötigen angesichts des Krieges dringend unsere Unterstützung. Eine Integration in bestehende Graduiertenschulen scheint ebenfalls sinnvoll zu sein.

Das BMBF, die jeweiligen Landesministerien wie auch die diversen Stiftungen sollten ihre Mittel für die Ukraine stärker bündeln, anstatt eigene unkoordinierte Ausschreibungen vorzunehmen, zum Beispiel für die Gründung eines föderalen deutschlandweiten Ukraine-Zentrums. Dies wäre sinnvoll, um die zahlreichen Ausschreibungen, Fördermöglichkeiten, Fellowships und Programme transparent zu koordinieren. Die Deutsche Assoziation der Ukrainisten (DAU, eher spezialisiert auf Geistes- und Sozialwissenschaften) wie auch die Deutsch-Ukrainische Akademische Gesellschaft (eher spezialisiert auf Natur- und Ingenieurswissenschaften) könnten unter diesem Dach gebündelt werden. Die Alexander von Humboldt-Stiftung, die bislang nur etwa drei Dutzend Philipp Schwartz-Fellowships für alle akademisch Verfolgten weltweit anbietet, wäre gut beraten, von ihrem Exzellenzgedanken in Bezug auf die Ukraine nach spezifischen Kriterien abzuweichen und aus den extrem hoch dotierten Stipendien wesentlich mehr niedriger ausgestattete Hilfsprogramme aufzulegen. Auch der DAAD könnte zum langfristigeren Wiederaufbau der Ukraine neue spezielle Programme entwickeln, die individuell auf die ukrainische Situation zugeschnittene Maßnahmenkataloge umfassen sollten ‒ idealer Weise unter dem Dach eines Ukraine-Zentrums. Über Erasmus+ und DAAD-Ostpartnerschaftsprogramme sind verpflichtende Auslandssemester an ukrainischen Partneruniversitäten dringend erforderlich. Diese Programme sollten bereits jetzt für die Zeit nach dem Krieg ausgearbeitet und dann sofort umgesetzt werden.

Ein Ukraine-Zentrum wäre auch der ideale Ort, an den akademischen Hilfsmaßnahmen für in NGO’s tätige Aktivisten wie beispielsweise dem Verein Akno e.V. (hinter dem die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde DGO steht) eine größere Sichtbarkeit und Vernetzung zu geben. Ebenso wäre es sinnvoll, dass all die anderen Programme wie Allianz Ukrainischer Organisationen, Solidarity With Ukraine, Promote Ukraine, Deutsch-Ukrainische Gesellschaft für Wirtschaft und Wissenschaft e.V., Leuchtturm Ukraine, German Association of Art Historians on Ukraine Aid oder Save Ukrainian Cultural Heritage Online sowie weitere Vereine und Initiativen in einem solchen Zentrum regelmäßig untereinander kommunizieren. Im Bereich des Impacts in die Gesellschaft wäre beispielsweise das Ukrainian Institute London ein gutes Vorbild.

Im Idealfall sollte ein Ukraine-Institut Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft werden, wie z. B. das Simon Dubnow Institut in Leipzig, das als strukturelles Vorbild dienen könnte. Gerade so ist die Integration in ein weltweit agierendes Netzwerk an Spitzenforschung gewährleistet. Neben anderen Einrichtungen wie dem GWZO Leipzig, dem Herder-Institut in Marburg, dem IOS in Regensburg, dem ZOiS in Berlin und dem GOSE in München würde ein solches Zentrum der Ukrainistik eine klare eigene unabhängige Stimme in Deutschland verleihen.

Kurz gesagt: Der Krieg hat mehr als deutlich gemacht, wie sehr sowohl der deutschen Zivilgesellschaft als auch der Academia systematisches Wissen über die Ukraine fehlt. Das Zentrum soll mit einem Direktorium und Beirat sowie mit seinen Fellows, Nachwuchswissenschaftlern, Tagungen und Workshops alle diese zersplitterten Aktivitäten in Forschung, Lehre und Impact koordinieren, bündeln und besser sichtbar machen. So kann das Fach grundlegend im deutschen akademischen Betrieb an den einzelnen Standorten koordiniert aufgebaut und weiterentwickelt werden.

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