Auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft: Alte und neue ukrainische Wege zur europäischen Integration

Von Andreas Umland (Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien/Nationale Universität Kyjiwer-Mohyla-Akademie)

Zusammenfassung
Der EU-Beitrittsprozess ist ein wichtiger Schritt für die Ukraine und wird die Reformen im Land unterstützen.

Mit der Verleihung des Kandidatenstatus durch den Europäischen Rat übersprangen die Ukraine und Moldau am 23. Juni 2022 eine Vorstufe im Erweiterungsprozedere der EU. Sie hatten bis dahin noch keine ausdrückliche Mitgliedschaftsperspektive erhalten; diese wurde den beiden Ländern sowie Georgien am selben Tag vom höchsten Entscheidungsorgan der EU zugesprochen. Anders als Georgien, Kosovo sowie Bosnien und Herzegowina sind die Ukraine sowie Moldau seither nicht nur potenzielle, sondern bereits vollwertige Bewerberländer der EU. Die beiden Länder gelangten damit im Beitrittsprozess der Union direkt auf eine Stufe mit Albanien, Nordmazedonien, Montenegro, Serbien und der Türkei.

Noch einige Wochen vor dieser Entscheidung schien ein solcher Erfolg Kyjiws und Chişinăus angesichts gemischter Signale aus verschiedenen europäischen Hauptstädten unwahrscheinlich. Eine entscheidende Rolle für den schließlichen Konsens der 27 Mitgliedsländer spielte offenbar der gemeinsame Besuch des französischen und rumänischen Präsidenten, italienischen Premierministers und deutschen Bundeskanzlers in Kyjiw kurz zuvor sowie deren dortige demonstrative Unterstützung für die EU-Bewerbung der Ukraine. Die kollektive proukrainische Stellungnahme von Olaf Scholz, Mario Draghi, Klaus Johannis und Emmanuel Macron in Kyjiw sandte ein wichtiges Signal an die anderen EU-Regierungen. Wahrscheinlich verhinderte sie ein mögliches Veto etlicher zweifelnder Mitgliedsstaaten der Union, d. h. eine Beschränkung der Ratsentscheidung auf eine lediglich potenzielle Kandidatur für die Ukraine und Moldau, so wie dies für Georgien beschlossen wurde.

Damit ist für Kyjiw und Chişinău nun der Weg zum EU-Beitritt vorgezeichnet. Die künftige Hauptaufgabe unterscheidet sich freilich in ihrer Substanz nur wenig von derjenigen der letzten sechs Jahre: Die Implementierung der 2014 unterzeichneten und 2016 in Kraft getretenen Assoziierungsabkommen der Ukraine, Moldaus sowie auch Georgiens mit der EU. Diese Verträge sind ihrem Inhalt nach bereits Fahrpläne zur Integration und nicht nur Assoziation der Staaten mit der Union. Insofern hat die, im Vergleich zu den anderen beiden Mitgliedern des Assoziierungstrios, niedrigere formale Stufe Georgiens als lediglich potenzieller Kandidat seit dem 23. Juni nur geringe praktische Auswirkungen. Für alle drei Staaten bleibt unterschiedslos die Implementierung ihrer Assoziierungsabkommen der Königsweg in die EU.

Doch gibt es weitere Instrumente, die Kyjiw zur Stärkung der eigenen und gesamteuropäischen Resilienz nutzen kann. Dabei fällt der Ukraine als großer und im Kontext ihrer erfolgreichen Verteidigung gegen Russland vielbeachteter Staat eine neue Rolle im westlichen Mächtekonzert zu. Mit diesem Potenzial sollte die Ukraine versuchen, neue Wege bei ihrer eigenen Annäherung an die EU und zur Unterstützung der europäischen Staatengemeinschaft zu gehen. Kyjiw kann dabei Moldau sowie Georgien, wie schon bezüglich der Erlangung der EU-Mitgliedschaftsperspektive, quasi mitnehmen.

Erstens bietet sich für die drei Länder ein Einschluss in zumindest Teile des von der EU ursprünglich für die Balkanstaaten geschaffenen Institutionennetzwerks zur Vorbereitung auf den Unionsbeitritt an. Dies betrifft folgende im Westbalkan bereits seit vielen Jahren aktive Strukturen: Regionaler Kooperationsrat (RCC), Zentraleuropäisches Freihandelsabkommen (CEFTA), Regionale Antikorruptionsinitiative (RAI), Südosteuropäisches Gesundheitsnetzwerk (SEEHN), Südöstliche Arbeitsgruppe für regionale und ländliche Entwicklung (SWGRD), Zentrum für öffentliche Arbeitsvermittlung für südosteuropäische Länder (CPESSEC), Regionales Zentrum für Jugendkooperation (RYCO), Südosteuropäisches Strafverfolgungszentrum (SELEC), Zentrum für Sicherheitskooperation (RACVIAC), Bildungsreforminitiative für SOE (ERISEE), Regionale Schule für öffentliche Verwaltung (RESPA), Regionales Katastrophenschutzvorbereitungszentrum (DPPI), Südosteuropäisches Zentrum für unternehmerisches Lernen (SEECEL), Exzellenzzentrum für Finanzen (CEF) und Regionales Umweltzentrum (REC).

Zweitens sollte die Ukraine, wie zuvor schon Georgien, sein bislang kompliziertes Niederlassungs- und Arbeitsrecht für Immigranten aus den EU- und bestimmten anderen Staaten (USA, Kanada, Großbritannien, Norwegen, Schweiz, Australien usw.) liberalisieren. Das Ansiedlungsrecht für alle EU-Bürger ist ohnehin in der angestrebten Unionsmitgliedschaft inbegriffen. Ähnlich ihrer zunächst einseitigen Liberalisierung der Einreisebestimmungen für EU-Bürger 2005, könnte die Ukraine wiederum einseitig und vor dem EU-Beitritt seine Niederlassungsregeln für Ausländer aus befreundeten Ländern vereinfachen. Denkbar wäre eine automatische mehrjährige Aufenthalts-, Studien-, Gewerbe- und Erwerbserlaubnis bei Registrierung einer Meldeadresse in der Ukraine. Dies kann bereits im jetzigen Kriegszustand der Ukraine für einzelne ausländische Militär- und Entwicklungshelfer von Bedeutung sein. Nach Erreichung eines Waffenstillstandes würde dies die Tätigkeit westlicher Organisationen und Investoren in der Ukraine erleichtern.

Drittens bietet sich mit Erlangung des Kandidatenstatus eine Kombination der in dieser Beitrittsstufe vorgesehenen EU-Hilfen mit anderen bereits existierenden sowie künftigen westlichen Integrations-, Investitions- und Wiederaufbauprogrammen an. So sollten sich die Ukraine, Moldau und Georgien um einen Einschluss in die Dreimeeresinitiative der östlichen EU-Mitgliedsländer bemühen. Der Ukraine könnte hierbei zupasskommen, dass der für sie vorgesehene »Marshallplan« zum Wiederaufbau des Landes erhebliche Transfers aus verschiedenen westlichen Ländern und Organisationen nach Kyjiw vorsieht.

Diese Mittel könnten nicht nur dafür eingesetzt werden, allgemeine Reformen und Anpassungen im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses des Landes zu unterstützen. Sie könnten ebenfalls laufende oder neue transnationale Infrastruktur- und Energieprojekte der Dreimeeresinitiative in Osteuropa und im Schwarzmeerraum geographisch und technisch ausweiten. Auch könnte ein Teil der offenbar großen künftigen westlichen Finanzhilfe zur Bildung einer politischen Risikoversicherung für ausländische Privatinvestoren in der Ukraine verwendet werden, unter Umständen unter Beteiligung der Multilateralen Investitions-Garantie-Agentur (MIGA) der Weltbankgruppe.

Viertens kann die Ukraine ihre in den vergangenen Monaten hörbarer gewordene Stimme in der Welt dazu nutzen, um den gesamteuropäischen Koordinations- und Entscheidungsprozess prowestlicher Länder im eigenen Interesse mitzuentwickeln. In dieser Richtung gab es in den letzten Monaten eine Reihe neuer Vorschläge westeuropäischer Politiker und Experten. Diese Ideen zur Ausweitung des derzeitigen Institutionengefüges zielen darauf ab, ältere transeuropäische Organisationen, wie den Europarat und die OSZE, zu ergänzen und eine politische Integration Europas über die Grenzen der EU hinaus zu erreichen. Derartige Vorschläge haben besondere Bedeutung für Kyjiw. Sie diskutieren neue Strukturen, welche für die Ukraine Gremien bieten können, die Verfolgung ihrer Sicherheits- und anderen Interessen noch vor einem EU- und/oder NATO-Beitritt mit wichtigen westlichen Partnerstaaten zu verzahnen.

Der ehemalige italienische Premierminister Enrico Letta machte am 25. April 2022 einen ersten Aufschlag mit einem Entwurf für eine Europäischen Konföderation (ECF) der 36, d. h. der EU-, Westbalkan- & Assoziierungstrio-Staaten. Es folgte der französische Präsident Emmanuel Macron mit einem Plan für eine Europäische Politische Gemeinschaft (EPC) der Unionsstaaten mit etlichen Nicht-EU-Ländern am 9. Mai 2022. Eine gute Woche später stellte der Präsident des Europäischen Rates Charles Michel seine Idee für eine Europäische Geopolitische Gemeinschaft (EGC) von »Reykjavik bis Baku oder Jerewan, von Oslo bis Ankara« vor.

Den womöglich praktikabelsten Vorschlag machten im Juni 2022 die Politikwissenschaftler Ulrich Schneckener und Sebastian Schäffer in einem Papier des Wiener Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa. Darin empfahlen sie die Schaffung eines Vergrößerten Europäischen Rates bzw. Greater European Council (GEC). In diesem multilateralen Gremium könnte der Europäische Rat mit seinen 27 Mitgliedern sowie die sechs Westbalkanstaaten und das Assoziierungstrio, aber womöglich auch die Türkei, Norwegen, Großbritannien, Island und/oder die Schweiz vertreten sein. Es könnte vor oder nach den Sitzungen des Europäischen Rates tagen und den Ratspräsidenten sowie einen rotierenden Vertreter der Nicht-EU-Staaten als Vorsitzende haben.

Die Ukraine wäre das Land, welches am meisten von solch einer Struktur profitieren würde. Ob nun ECF, EPC, EGC oder GEC – ein Einschluss Kyjiws in eine neue gesamteuropäische Institution würde die derzeitige geopolitische Grauzone, in welcher sich das Land bis zum Beitritt in die EU oder/und NATO befinden wird, weniger grau machen. Ähnliches gilt für die Geopolitik der Republik Moldau und Georgiens sowie teils auch für die Westbalkanstaaten. Gleichzeitig findet derzeit die Stimme der Ukraine und insbesondere ihres Präsidenten Wolodymyr Selenskyj weit über die Grenzen Europas Gehör. Kyjiw sollte dieses Potenzial nutzen, die Schaffung einer neuen gesamteuropäischen Struktur im Interesse des eigenen Landes und gesamten Westens zu fördern.

Lesetipps / Bibliographie

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