Warum der EU-Kandidatenstatus für die Ukraine sicherheitspolitisch geboten und längst überfällig ist

Von Oleksandra Keudel (Kyiv School of Economics, Berlin), Nataliya Pryhornytska (Initiative für Wissensaustausch, Empowerment und Kultur, Berlin)

Zusammenfassung
Der EU-Kandidatenstatus für die Ukraine ist ein Zeichen des Agierens und nicht nur des Reagierens seitens der EU und sollte, im Zusammenhang mit weiteren Waffenlieferungen, ein echter Game-Changer werden.

Die Frage nach dem EU-Kandidatenstatus für die Ukraine war ein Lackmustest für die Europäische Union. Es ging dabei schließlich um ihre außenpolitische Klarheit, Glaubwürdigkeit als Werteunion und Geschlossenheit in Krisenzeiten. Mit der positiven Entscheidung hat die EU ihre Fähigkeit dazu bekräftigt.

Die EU ist ein Garant für Frieden, Freiheit und Demokratie in Europa. Daher musste sie vor allem an sich selbst beweisen, dass sie sich nicht von Gewaltdrohungen einschüchtern lässt. Der russische flächendeckende Angriffskrieg auf die Ukraine ist eine Fortsetzung der Strategie Putins, die regelbasierte europäische Ordnung zu zerstören. Es ist gleichzeitig eine Folge aus der Tatsache, dass die EU sich zu lange geweigert hat, eine selbstbewusste Außenpolitik zu führen, die den eigenen EU-Prinzipien und Werten – und nicht nur ihrer wirtschaftlichen Interessen – entspricht.

Die ukrainische Gesellschaft verteidigt ihre europäischen Werte seit Jahren, und die Ukraine ist das einzige Land in Europa, in dem Menschen für die EU bzw. ihre Werte gestorben sind. Die Integration der Ukraine in die europäische Familie wäre daher nur folgerichtig. Der Kandidatenstatus jetzt ist ein Zeichen des Agierens, und nicht nur des Reagierens seitens der EU und sollte, im Zusammenhang mit Waffenlieferungen, in diesem Krieg zu einem Game-Changer werden. Die Anerkennung der Ukraine als Teil der europäischen Gemeinschaft soll die Diskussion, ob die Ukraine überhaupt einer Unterstützung wert ist, beenden und schafft Raum um darüber nachzudenken, wie die Ukraine für einen militärischen Sieg unterstützt werden muss.

Auch die Glaubwürdigkeit der EU als Werteunion stand aufgrund der Entscheidung über den Kandidatenstatus auf dem Spiel. Denn die europäische Bestrebung der Ukraine ist tief im gesellschaftlichen Bewusstsein verwurzelt und hat eine lange politische Vorgeschichte. In zwei pro-europäischen Revolutionen hat die ukrainische Gesellschaft Reformen auf Grundlage der europäischen Ordnung eingefordert: Die Orange Revolution von 2004/05 hat die ukrainischen Bürger:innen gegen gefälschte Wahlen mobilisiert, während 2013/14 beim Euromaidan bzw. der Revolution der Würde Hunderttausende für ihre europäische Wahl, ihre Würde und ihre Freiheit von staatlicher Unterdrückung eintraten. Obwohl der europäische Weg ein schwieriges und langwieriges Unterfangen ist, ist die gesellschaftliche Unterstützung für die Europäische Union von 49 Prozent im Jahr 2013 auf aktuell eindrucksvolle 91 Prozent gestiegen.

Die Annäherung zwischen der EU und der Ukraine findet bereits seit langem statt: Seit 2009 ist die Ukraine Mitglied der Östlichen Partnerschaft, 2014 wurde das Assoziierungsabkommen unterzeichnet und seit 2016 besteht eine tiefgreifende und umfassende Freihandelszone. Von dieser Annäherung haben beide Seiten profitiert. In nur fünf Jahren nach der Etablierung der Freihandelszone hat sich der Gesamthandel zwischen der EU und der Ukraine fast verdoppelt und erreichte im vorigen Jahr 52 Milliarden Euro.

Die Ukraine hat sich wie kaum ein anderes Land für den Kandidatenstatus vorbereitet. Sie stellt sich selber einen eigenen hohen Anspruch an die Erfüllung der europäischen Standards, mit der expliziten Bitte an die EU, die Anforderungen stetig zu aktualisieren. Die Ukraine hat ihre technischen Standards in vielen komplexen Bereichen an die EU bereits angepasst, sich zum European Green Deal bekundet und wurde an das europäische Stromnetzwerk angeschlossen. Gesellschaftlicher Austausch wurde durch die Visaliberalisierung 2017 deutlich erleichtert und findet zum Beispiel im Rahmen des ERASMUS-Programms für Studiums- und Praktika-Mobilität statt. Die von der EU unterstützte Dezentralisierungsreform verbesserte, zusammen mit der Modernisierung und Digitalisierung, die staatliche Verwaltung und stärkte die Demokratisierung »von unten«. Dadurch profitieren lokale Gemeinden nicht nur politisch (durch mehr Unabhängigkeit) und finanziell (durch gestiegene Mittel), sondern können durch mehr Transparenz und neue Bürgerbeteiligungsformate die Vergabe öffentlicher Mittel effizienter steuern und dadurch weitere Investitionen anlocken. Dies ist ein klarer Beweis dafür, dass die europäischen Praktiken auch in der Ukraine erfolgreich funktionieren.

Dennoch ist allen klar, dass weitere Reformen in der Ukraine für die EU-Mitgliedschaft unabdingbar sind. Dafür bieten der EU-Kandidatenstatus und der Beitrittsprozess die besten Rahmenbedingungen. Denn der EU-Kandidatenstatus bedeutet keinen automatischen Beitritt der Ukraine in die EU, sondern ist an strikte Konditionen gebunden. Eine realistische Perspektive auf die volle EU-Mitgliedschaft stellt den größten Anreiz dar, die notwendigen Reformen durchzuführen. Denn das Tempo des Beitritts hängt von der Umsetzung der Anforderungen und somit von der Ukraine selbst ab. Mit der Umsetzung zahlreicher Reformen für die 2017 erfolgte Visaliberalisierung hat die Ukraine bewiesen, dass sie erfolgreiche Reformen durchführen kann.

Die Debatte zwischen den EU-Mitgliedern über den Kandidatenstatus der Ukraine drohte die EU zu spalten. Es gab ernsthafte Sorge, dass vor allem Deutschland, Frankreich, die Niederlande und Italien gegen den Kandidatenstatus der Ukraine stimmen würden. Damit hätten sie sich gegen die mittelosteuropäischen Mitgliedstaaten, die überwiegend den Kandidatenstatus befürworteten, positioniert. Dass der Kandidatenstatus schließlich erteilt wurde, zeigt, dass die EU-Mitglieder sich ihrer großen Verantwortung für die Zukunft der EU bewusst sind und in entscheidenden Situationen geschlossen agieren können.

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