Verheerende Kriegsschäden
Heute erlebt die ukrainische Wirtschaft den größten Schock ihrer post-sowjetischen Geschichte. Die großflächige militärische Invasion durch die Russische Föderation hat bereits allen Teilen des ukrainischen Wirtschaftssystems einen schweren Schlag versetzt, und die Probleme nehmen mit jedem Kriegstag weiter zu.
Wegen des entschiedenen Widerstands der Ukraine konnte die russische Armee den eigentlichen Plan, Kyjiw in drei Tagen zu erobern und eine Marionettenregierung zu errichten, nicht umsetzen. Daher trat der Krieg in eine langwierige Phase ein, in der Russland versucht, der ukrainischen Bevölkerung, den Städten, der Infrastruktur und der Wirtschaft maximalen Schaden zuzufügen.
Die Infrastruktur wird gezielt unter Beschuss genommen. Bis zum 1. Juni wurden nach Angaben des Staatlichen Dienstes der Ukraine für Notsituationen (DSNS) 305 Brücken zerstört und fast 25.000 km Straßen beschädigt. Allein nach vorläufigen Schätzungen belaufen sich die gesamten Infrastrukturschäden auf mehr als 95 Milliarden Dollar. Nach Angaben des DSNS wurden bis 1. Juni infolge der russischen Aggression in der Ukraine 116.000 Wohngebäude, in denen etwa 3,5 Millionen Menschen lebten, zerstört oder beschädigt. Das entspricht ca. 14 Millionen Quadratmetern zerstörter Wohnfläche.
Eine solch großflächige Zerstörung wird nach dem Krieg enorme Ressourcen für den Wiederaufbau erfordern. Vertreter der Ukraine schätzen die Kosten für die Wiederbelebung der ukrainischen Wirtschaft und Infrastruktur bereits auf eine Billionen US-Dollar, was, um das Ausmaß der Herausforderung klarer zu verstehen, dem akkumulierten Wert des BIP der Ukraine in den letzten sechs Jahren entspricht. Die Wirtschaft ist um ein Drittel eingebrochen, dadurch fehlen wichtige Steuereinnahmen, und die Militärausgaben sind drastische angestiegen. Infolgedessen summierte sich das Defizit des Staatshaushalts in den ersten fünf Monaten des Jahres 2022 bereits auf 16,9 Milliarden Euro.
Ein »Marshall-Plan« für die Ukraine?
Die oben genannten Fakten weisen auf eine beispiellose Herausforderung für den Wiederaufbau der Ukraine hin, die bereits jetzt mit den Herausforderungen des Wiederaufbaus Europas nach dem Zweiten Weltkrieg verglichen wird. Der Marshallplan, der den europäischen Ländern beim Wiederaufbau nach dem zweiten Weltkrieg helfen sollte, war eine amerikanische Initiative. Das Programm hieß offiziell European Recovery Programm, ging aber unter dem Namen des US-Außenministers George Marshall, einem der Hauptinitiatoren des Plans, in die Geschichte ein. Im Zeitraum von 1948 bis Dezember 1951 erhielten 17 europäische Länder, darunter auch Westdeutschland, von den Vereinigten Staaten 13 Milliarden US-Dollar für den Wiederaufbau (was nach heutigem Kurs etwa 115 Milliarden Dollar entspricht).
Da der Marshall-Plan zum Synonym für ein groß angelegtes und erfolgreiches wirtschaftliches Wiederaufbauprogramm geworden war, begann in der Ukraine und auf internationaler Ebene eine Diskussion über die Entwicklung eines solchen Planes für die Ukraine. Der Plan für den Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg wurde erst drei Jahre nach Kriegsende entworfen und umgesetzt, erste Wiederaufbaupläne für die Ukraine werden hingegen bereits seit dem Beginn der russischen Invasion entworfen. Am 8. März, weniger als zwei Wochen nach Beginn der Invasion, erklärte der britische Premierminister Boris Johnson: »Egal was passiert, wenn eine freie, souveräne, unabhängige Ukraine verteidigt und wiederhergestellt ist, werden wir sie wieder aufbauen. Wir werden einen Marshallplan für den Wiederaufbau der Ukraine haben«. Anschließend bekundeten auch andere europäische Staats- und Regierungschefs ihre Unterstützung für einen solchen Plan für die Ukraine, darunter Polens Premier Mateusz Morawiecki und der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel.
Wenn über einen Marshallplan für die Ukraine gesprochen wird, sollte allerdings berücksichtigt werden, dass Westeuropa – selbst nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg – einige der am weitesten entwickelten Wirtschaften der Welt besaß. Dies kann leider nicht über die Ukraine behauptet werden – ganz zu schweigen vom Zustand ihrer Wirtschaft nach der russischen Invasion.
Nachhaltige Entwicklung und »European Green Deal«
Im September 2015 trat die Ukraine dem globalen UN-Prozess zur Gewährleistung einer nachhaltigen Entwicklung bei, der bis 2030 insgesamt 17 Ziele für die nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) umfasst. Der Präsident der Ukraine verabschiedete am 30. September 2019 einen Erlass »Über die Ziele der nachhaltigen Entwicklung der Ukraine für den Zeitraum bis 2030«, wie die 17 SDGs für die Ukraine unter Berücksichtigung ihrer speziellen Situation erreicht werden sollen. Im Bericht »Ziele der nachhaltigen Entwicklung: Ukraine« wird der Stand von 2017 festgehalten und die konkreten Ziele für die Ukraine festgelegt.
Die Ukraine steht dabei vor einer großen Herausforderung: Die meisten großen Industrieanlagen des Landes wurden noch in der Sowjetzeit gebaut, als Themen wie Energiesparen, Auswirkungen auf die Umwelt oder Produktionseffizienz zweitrangig waren. Lange Zeit subventionierte die Ukraine aufgrund der Lobby-Arbeit der Industrie den Energieverbrauch. Diese Subventionen schufen keinerlei Anreize für Unternehmen, in Energieeffizienz oder ökologische Modernisierung zu investieren, sondern ermöglichten vor allem einigen Oligarchen große Gewinne. Zwar endete bereits im April 2016 mit der Verabschiedung des Regierungserlasses zur Einführung des sogenannten einheitlichen Gaspreises die Ära der billigen Energieträger. Ein erheblicher Teil der Unternehmen reduzierte den Energieverbrauch trotzdem nicht.
Aufgrund dieser Situation übertraf die Energieintensität des BIP der Ukraine (vor dem Krieg) laut der jährlichen Analyse von Energodata den globalen Durchschnittswert um das Doppelte. Zum Beispiel ist die Energieintensität des BIP in der Ukraine 2,5-mal höher als in Polen und 3,3-mal höher als in Deutschland. Mit anderen Worten: Für die Produktion einer Wareneinheit in einem ukrainischen Unternehmen musste 2,5-mal mehr Energie aufgewendet werden, als z. B. in Polen.
Wie das ukrainische Wirtschaftsministerium feststellte, kostete der hohe Energieverbrauch aufgrund der geringen Energieeffizienz der Unternehmen das Land im Jahr 2018 etwa 1,5 Milliarden Dollar zusätzlich, was der jährlichen Kredit-Tranche des Internationalen Währungsfonds (IWF) entspricht, die die Ukraine vor dem Krieg erhielt zur Unterstützung der makroökonomischen Stabilisierung. Daher ist das Potenzial für Maßnahmen zur Förderung der Energieeffizienz in der Ukraine enorm.
Zudem besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Höhe des Energieverbrauchs und der Menge der Emissionen. Aus diesem Grund gehört die Schwerindustrie mit großen Hüttenwerken und Wärmekraftwerken zu den Spitzenreitern bei den CO2-Emissionen. Von Jahr zu Jahr wurde die Umwelt in der Ukraine durch die Iljitsch Eisen- und Stahlwerke Mariupol, ArcelorMittal Krywyj Rih, das Metallurgische Kombinat Asow-Stahl (das jetzt von den russischen Besatzern zerstört wurde) und zahlreiche Wärmekraftwerke von DTEK (Burschtyn, Kurachowe, Saporischschja, Ladyschyn) verschmutzt.
Es liegt auf der Hand, dass die Reduzierung des CO2-Ausstosses der Industrie und die Erhöhung der Energieeffizienz, die Teil der SDGs sind, zu deren Erfüllung sich die Ukraine verpflichtet hat, wichtige Schritte sind, um die Ukraine nicht nur wirtschaftlich effizienter, sondern auch umweltfreundlicher und nachhaltiger zu machen.
Als die Europäische Kommission am 11. Dezember 2019 das Kommuniqué »European Green Deal (EGD)« verabschiedete, ein Aktionsprogramm für den Übergang zu einem klimaneutralen Europa bis 2050, kündigte die Ukraine sofort ihre Absicht an, sich an diesem ehrgeizigen Plan zu beteiligen.
Die ukrainische Mitwirkung beim Green Deal wurde auf der sechsten Sitzung des Assoziationsrates im Januar 2020 und auf dem 26. Ukraine-EU-Gipfel im Oktober 2020 diskutiert. Die Ukraine richtete dafür eine inter-ministerielle Gruppe ein und legte der EU ein Positionspapier vor.
Der offizielle hochrangige EGD-Dialog zwischen der Ukraine und der EU begann 2021. Auf EU-Seite wird der Dialog von Katarina Mathernova, Leiterin der Unterstützungsgruppe für die Ukraine und stellvertretende Generaldirektorin für Europäische Nachbarschafts- und Erweiterungsverhandlungen (GD NEAR), und auf ukrainischer Seite von der stellvertretenden Ministerpräsidentin und Ministerin für europäische Integration, Olha Stefanischyna, geführt. Schlüsselthemen auf der Agenda sind die Klima-Governance-Architektur, Green Finance, das CO₂-Grenzausgleichssystem (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM), Wasserstoff und Industrieallianzen.
Der Krieg beeinträchtigt regenerative Energiegewinnung massiv
Im November 2021 bekräftigte die Ukraine auf dem 26. UN-Klimagipfels (COP26) in Glasgow ihre Absicht, bis 2060 ein CO2-neutrales Land zu werden. Nach Angaben der Regierung will die Ukraine bereits ab 2035 auf Kohle als Energieträger verzichten. Diese sollte durch Kernenergie und erneuerbare Energien ersetzt werden. Der Krieg macht diese Pläne jedoch zunichte.
Bereits im März dieses Jahres, zu Beginn der groß angelegten Invasion, gab der ukrainische Verband für erneuerbare Energien (UVAE) bekannt, dass die Hälfte der »grünen« Energieerzeugung der Ukraine (UVAE) von Zerstörung bedroht sei. Laut Verband befinden sich fast 90 Prozent der Windkraftanlagen, 37 Prozent der Boden-Solarkraftwerke, 35 Prozent der Dach-/Fassaden-Solaranlagen und fast die Hälfte (48 Prozent) der Biomasseanlagen in besetzten Gebieten oder solchen mit aktiven Kampfhandlungen. Mehr als 3.970 MW Produktionskapazität erneuerbarer Energien befindet sich in Gebieten, in denen die vollständige oder teilweise Zerstörung unmittelbar droht. Mehr als 2.400 MW befinden sich in Gebieten, die an aktive Kampfgebiete angrenzen, wo ebenfalls eine erhöhte Zerstörungsgefahr besteht bzw. einige Stationen bereits zerstört wurden.
Im Juni erklärte der UAVE, dass 40 Prozent aller »grünen« Produktionskapazitäten in Kampfgebieten oder in vorübergehend besetzten Gebieten liegen. Diese Zahl ist etwas niedriger als frühere Schätzungen, jedoch befinden sich weitere 34 Prozent der Produktionskapazitäten in Regionen, die an das Kampfgebiet angrenzen.
Die genaue Höhe der Verluste im Bereich der erneuerbaren Energien kann erst nach der Befreiung der Gebiete eingeschätzt werden. Die Kosten werden jedoch hoch sein, denn sie beinhalten nicht nur die direkten Verluste z. B. durch Zerstörung, sondern auch die entgangenen Gewinne.
Wie sich die Ziele der nachhaltigen Entwicklung in den Wiederaufbauplänen der Ukraine widerspiegeln
Die großangelegte russische Aggression kann als Wendepunkt für die nachhaltige Entwicklung der Ukraine angesehen werden. Einerseits haben sich die Prioritäten des Staatshaushalts grundlegend geändert, wie der Haushaltsentwurf für 2023 zeigt: Jetzt werden vorrangig Verteidigungsprogramme, Sozialprogramme, der Wiederaufbau von Wohnungen und städtischer Infrastruktur finanziert.
Andererseits eröffnet der Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg außergewöhnliche Möglichkeiten für eine radikale Modernisierung der Wirtschaft des Landes und zur Durchführung von Strukturreformen. Der Kurs des Strukturwandels und des wirtschaftlichen Wiederaufbaus sollte von der europäischen Perspektive der Ukraine bestimmt werden und das Land der EU-Vollmitgliedschaft und einer gestaltenden Rolle in der weltpolitischen Arena näherbringen. Nur so können die Ukraine und Osteuropa in Zukunft vor einer wiederholten militärischen Aggression aus Russland geschützt werden.
Einer der ersten und detailliertesten Wiederaufbaupläne ist »A Blueprint for the Reconstruction of Ukraine«, der bereits im April von einer Expertengruppe des British Centre for Economic Policy Research (CEPR) vorgelegt wurde. Nach Ansicht der Autor:innen des Projekts, die sich explizit auf den Marshall-Plan, aber auch die deutsche Wiedervereinigung als Vorbilder beziehen, sollte die internationale Hilfe für den Wiederaufbau der Ukraine auf sechs Prinzipien beruhen:
- Die Ukraine nimmt Kurs auf einen EU-Beitritt.
- Es wird eine separate Agentur unter der Schirmherrschaft der EU geschaffen, die über erhebliche Autonomie in Fragen der Koordinierung und Verwaltung von Hilfs- und Wiederaufbauprogrammen verfügen wird.
- Die Ukraine ist »Eigentümerin« des Wiederaufbauprogramms.
- Es wird das Prinzip der maximalen Unterstützung und Hilfe beim Zufluss von ausländischem Kapital und Technologien umgesetzt.
- Die Hilfe für die Ukraine sollte hauptsächlich in Form von Zuschüssen und nicht von Darlehen erfolgen.
- Die Erholung des Landes muss auf den Bedürfnissen der Zukunft basieren – mit minimaler Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und einem minimalen CO2-Fußabdruck.
Die Autor:innen dieses Plans berücksichtigen im letzten Punkt indirekt die globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung, indem sie die Reduzierung von Treibhausemissionen fordern.
Eine weitere Initiative war eine Online-Konferenz zum Thema nachhaltige Entwicklung, Herausforderungen und Wiederaufbau der Ukraine, der von 24 Organisationen und 90 Redner:innen unterstützt wurde – internationalen Meinungsführer:innen und Expert:innen für nachhaltige Entwicklung, aber auch Interessenvertreter:innen aus der Ukraine. Oleksandr Hryban, stellvertretender Wirtschaftsminister, erklärte, dass die ukrainische Regierung an Plänen zur Unterstützung von Wirtschaft und Gesellschaft während des Krieges sowie an einem Wiederaufbauplan arbeite. Er versicherte, dass der Wiederaufbauplan nach dem Krieg Reformen berücksichtigen werde, die in direktem Zusammenhang mit Verfahren im Bereich Umwelt, Soziales und Unternehmensführung stehen, und die ökologischen und sozialen Auswirkungen besondere Aufmerksamkeit erhielten.
Die EU beteiligt sich ebenfalls an der Debatte um den Wiederaufbau der Ukraine: Einen Monat bevor der Ukraine der Status eines EU-Beitrittskandidaten zuerkannt wurde, präsentierte die Europäische Kommission Mitte Mai 2022 den neuen Mechanismus »Rebuild Ukraine«, der das wichtigste Instrument für den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg sein soll. Die entsprechende Plattform wird gemeinsam von der Europäischen Kommission und der Regierung der Ukraine geleitet, die für die Genehmigung des Wiederaufbauplans verantwortlich sein wird. Ausgehend von diesem Plan werden die EU und andere Partner dann bevorzugte Bereiche auswählen und spezifische Projekte für den Wiederaufbau entwickeln. Die Plattform wird die Finanzierungsquellen und die Mittelvergabe koordinieren. Besonders betont werden in den Dokumenten der EU Reformen zur Rechtsstaatlichkeit und zur Korruptionsbekämpfung, und es wird erklärt, dass Investitionen und Wiederaufbau auf EU-Regeln basieren werden. Darüber hinaus zielt die Rebuild Ukraine Facility darauf ab, »eine nachhaltige und integrative wirtschaftliche Erholung zu unterstützen, (…) einen grünen und digitalen Wandel in der Ukraine zu fördern«.
Der Plan selbst wurde jedoch (Stand Juli 2022) nicht veröffentlicht, daher ist es derzeit nicht möglich eine Analyse zu erstellen, inwieweit er den globalen Zielen für nachhaltige Entwicklung entspricht und den Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft (Circular Economy Action Plan) erfüllt, welcher ein wichtiger Bestandteil der Agenda des europäischen Green Deal ist.
Auch die Ukraine selbst arbeitet an Plänen zum Wederaufbau. Am 21. April unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj einen Erlass über die »Bildung des Nationalrates zu Beseitigung der Kriegsfolgen in der Ukraine«. Dabei handelt es sich um ein beratendes Gremium, das mit der Aufgabe betraut wurde, einen nationalen Wiederaufbauplan zu entwickeln. Ein erster Entwurf des Plans wurde bereits knapp zwei Wochen später dem Ausschuss für wirtschaftliche Entwicklung der Werchowna Rada vorgelegt. Daraus hervor ging schließlich »Ukraine’s National Recovery Plan« für den Wiederaufbau der Ukraine.
Dieser wurde vorgestellt auf der hochrangigen »Ukraine Recovery Conference«, die am 4. und 5. Juli in Lugano (Schweiz) stattfand. Der zugeschaltete ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj betonte in seiner Videoansprache an die Teilnehmer, dass die Ukraine »insbesondere aus Sicht der Umwelt« sicherer werden müsse. Daher sei es notwendig ein klares Verständnis für die nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft nach dem Krieg zu entwickeln. Dabei gelte es zu überdenken, wie sich das Land in Zukunft entwickeln wird, welche Branchen nach dem Krieg zur Grundlage des Wachstums werden können, welche Entscheidungen und Ressourcen benötigt werden, um das Wertschöpfungsniveau in der Ukraine zu steigern, anstatt »wie früher mit Rohstoffen zu handeln«.
Das Dokument besteht aus 15 »Nationalen Programmen« und umfasst verschiedene Bereichen aus Wirtschaft und Gesellschaft: »Verteidigung und Sicherheit«, »Integration in die EU«, »Umwelt und nachhaltige Entwicklung«, »Energiesicherheit und Green Deal«, »Unternehmensumfeld«, »Zugang zu Finanzen«, »Makrofinanzielle Stabilität«, »Wertschöpfungssektoren«, »Logistik und Kommunikation«, »Modernisierung der Regionen und Wohnungsbau«, »Moderne soziale Infrastruktur«, »Bildung«, »Gesundheitswesen«, »Kultur und Sport«, »Soziale Unterstützung und Migrationspolitik«.
Jedes Programm enthält eine Reihe von Schlüsselprojekten, die in drei Phasen umgesetzt werden sollen. Der Gesamtbedarf der finanziellen Mittel für die Umsetzung der einzelnen Programme in den nächsten zehn Jahren wird auf etwa 750 Milliarden Dollar geschätzt, wobei in diesem Betrag Investitionen in die Verteidigung und Sicherheit des Staates nicht enthalten sind. Für die erste Phase der akuten Hilfe werden 60–65 Mrd. Euro veranschlagt, für die zweite Phase der »Erholung« von 2023–25 bis zu 300 Mrd. Euro und für die anschließende Modernisierung bis 2032 noch einmal 400 Mrd. Euro. Auf die Bereiche »Energiesicherheit und Green Deal« (ca. 130 Mrd. Euro) sowie »Modernisierung der Regionen und Wohnungsbau« (150–250 Mrd. Euro), die eng verknüpft sind mit einer »grünen« Entwicklung des Landes, entfallen besonders große Summen, so dass hier ein enormes Potenzial für eine nachhaltige Transformation des Landes besteht.
Auf diesen Bedarf wieder auch fast alle Redner:innen auf der Konferenz in Lugano hin und erwähnten in ihren Reden die Notwendigkeit eines »noch besseren Wiederaufbaus« und einer »grünen Erneuerung«. Allerdings gab es nur sehr wenige konkrete Aussagen zu diesen Themen. Und die dringende Notwendigkeit, die Umwelt, die durch den Krieg stark in Mitleidenschaft gezogen wird, wiederherzustellen und die ökologische Sicherheit der Menschen in der Ukraine zu gewährleisten, wurde überhaupt nicht erwähnt. Das wurde von Umweltorganisationen in der Ukraine kritisiert, die nach der Konferenz dazu aufriefen, die entscheidende Rolle der Umwelt und umweltfreundlicher Technologien für einen nachhaltigen Wiederaufbau nach dem Krieg anzuerkennen und Maßnahmen im Einklang mit dem Green Deal zu implementieren.
Fazit
Vor dem Zweiten Weltkrieg lagen die europäischen Staaten in Bezug auf schnelle und effiziente Fertigungstechnologien Jahrzehnte hinter den Vereinigten Staaten zurück und wurden durch die Zerstörungen des Krieges noch weiter zurückgeworfen. Der Marshallplan ermöglichte Europa den Wiederaufbau und einen gewaltigen Technologiesprung, was zur Grundlage der goldenen Zeiten des europäischen Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit wurde.
Nun braucht die Ukraine einen ähnlichen Wiederaufbauplan wie den Marshall-Plan. Allerdings muss dieser die Probleme und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts adressieren und sollte daher, unter Berücksichtigung der SDGs und angesichts der avisierten EU-Integration auch dem European Green Deal, ein »grüner« Wiederaufbauplan werden. Nur dann kann die Ukraine die globalen und ökologischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erfolgreich angehen. Die Ukraine hat nach Kriegsende eine einmalige Chance auf eine nachhaltige Transformation und sollte daher das Prinzip der Nachhaltigkeit noch stärker verankern, als es in den meisten kursierenden Entwürfen zum Wiederaufbau bisher der Fall ist.
Übersetzung aus dem Ukrainischen von Lina Pleines
Wir danken der Kellner & Stoll Stiftung, die das Erstellen des vorliegenden Beitrags ermöglicht hat.