Man hört immer wieder, dass die Ukraine ein »sehr korruptes« Land ist. Obwohl dieses Problem tatsächlich besteht, hat sich die Situation seit 2014 verbessert. Auf dem Weg zum EU-Beitritt hat die Ukraine eine gute Chance, um Korruption deutlich zu reduzieren. Das stellt eine Priorität dar sowohl für die Zivilgesellschaft als auch für die breite Öffentlichkeit.
Westliche Beobachter betonen oftmals die Korruptionsthematik in der Ukraine. Donald Trump Jr. bezeichnete die Ukraine einst als »eines der korruptesten Länder der Erde«. Manchmal setzten ukrainische Antikorruptions-NGOs und Verteter:innen internationaler Organisationen die innere Bedrohung der Korruption gleich mit der äußeren Bedrohung durch Russland. Wie aber Roman Waschuk (ehem. Kanadischer Botschafter in der Ukraine, Anm. d. Red) in einem vielbeachteten Kommentar schrieb, wenn es die Ukraine nicht mehr gibt, spielt auch das Ausmaß der Korruption keine Rolle mehr. Sicherlich, wenn die Korruption in der Ukraine geringer wäre, wären wir vielleicht besser vorbereitet gewesen auf den Krieg und die Verluste wären geringer. Jedoch sollten die existenziellen Bedrohungen zuerst angegangen werden, und die existenzielle Bedrohung für die Ukraine ist Russland (das übrigens selbst eine große Quelle der Korruption darstellt, sowohl in der Ukraine als auch in vielen anderen Staaten).
Die Verbündeten der Ukraine denken bereits über den Wiederaufbau der Ukraine nach (wir insistieren jedoch, dass die notwendige Bedingung für den Wiederaufbau die Bereitstellung einer ausreichenden Zahl von Waffen ist, damit die Ukraine die Sicherheit auf ihrem Territorium sicherstellen kann). Während des Wiederaufbaus wird die effiziente Verwendung von Hilfsgeldern von zentraler Bedeutung sein für die Vertrauenswürdigkeit des Programms, sowohl in den Augen der Ukrainer:innen, als auch der internationalen Steuerzahler:innen. Daher haben die internationalen Partner der Ukraine das Recht danach zu fragen, ob es dieses Mal anders wird und ob die Institutionen der Ukraine ebenfalls neu aufgebaut werden, zusammen mit der physischen Infrastruktur des Landes.
Werfen wir einen Blick auf die Fakten und versuchen diese Fragen zu beantworten.
Erstens, dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency Internation zufolge ist die Ukraine das korrupteste Land in Europa (abgesehen von Russland). Dabei sind jedoch zwei Faktoren zu berücksichtigen: Erstens misst dieser Index die Wahrnehmung, und diese kann zum Beispiel beeinflusst werden durch die intensive Diskussion über Korruptionsfälle in den Medien. Der Wert in dem Index hat sich in den letzten Jahren verbessert, von 25 im Jahr 2013 auf 32 im vergangenen Jahr (ein höherer Wert bedeutet weniger Korruption). Studien in der Bevölkerung zeigen ebenfalls eine Verbesserung der Lage: Zwischen 2013 und 2018 fiel der Anteil derjenigen Befragten, die angaben, im letzten Jahr eine Bestechung geleistet zu haben, von 27 Prozent auf 22 Prozent (2021 fiel der Wert weiter zurück auf 19 Prozent). Der Anteil derjenigen, die das Zahlen von Bestechungen unter bestimmten Umständen rechtfertigen, sank von 37 Prozent auf 13 Prozent. Interessanterweise stieg gleichzeitig der Anteil der Menschen, die denken, dass die Korruption gestiegen sei, von 49 Prozent auf 61 Prozent, vermutlich aufgrund der größeren medialen Berichterstattung über Korruption. Diese positive Entwicklung in Bezug auf Korruption ist ermutigend.
Zweitens hat die Ukraine spürbare Fortschritte im Bereich der Antikorruptionsreformen gemacht. VoxUkraine analysiert den Reformprozess seit Frühjahr 2015. Seither haben wir fast 1.300 Gesetze bewertet, die die »Spielregeln« verändert haben. Darunter waren 127 Rechtsakte, die die Korruption adressieren.
Knapp die Hälfte dieser Rechtsakte haben die Regeln in mehr als einem Bereich geändert und Governance-Prozesse verbessert, die das Potenzial für Korruption mindern. Das waren Gesetze über die Veröffentlichung von Daten, die Einführung eines elektronischen Beschaffungswesens (durch die »Prozorro«-Software konnten in fünf Jahren etwa 7 Mrd. US-Dollar an öffentlichen Geldern eingespart werden), die Beschaffung von medizinischen Produkten zuerst über internationale Organisationen und später einer eigens dafür geschaffenen Agentur. Einige Gesetze zur Justizreform erhielten 2016 eine positive Bewertung. Auf der anderen Seite gab es auch einige Änderungen, die das Problem mit der Korruption verschlimmert haben. Dazu zählt die Einführung von elektronischen Vermögenserklärungen für NGOs sowie zwei Entscheidungen des Verfassungsgerichts, welches 1) das Gesetz über die Strafbarkeit für illegale Bereicherung sowie 2) die elektronischen Vermögenserklärungen gekippt hat. Die Zivilgesellschaft konnte erreichen, diese potenziellen Einschränkungen wieder rückgängig zu machen, was ihre zunehmende Stärke beweist.
Auch wenn es einige Probleme gibt, wurde eine umfassende Antikorruptionsinfrastruktur in der Ukraine aufgebaut (Nationales Antikorruptionsbüro, Oberstes Antikorruptionsgericht, Agentur zur Korruptionsprävention, Agentur für Vermögensrückgewinnung und -verwaltung, Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft), die das Land bereits verändert hat. So hat das Nationale Antikorruptionsbüro zwischen 2019–2021 insgesamt 381 Anklagen wegen Korruption auf hoher Ebene erhoben, und 57 Personen wurden vom Obersten Antikorruptionsgericht wegen Korruption verurteilt. So etwas wäre vor 2014 nicht möglich gewesen. Das findet große Zustimmung in der ukrainischen Bevölkerung. Bevor Russland im Februar die Ukraine angriff, setzte die Zivilgesellschaft die Regierung stark unter Druck, damit diese einen neuen Antikorruptionsstaatsanwalt ernennt. Jetzt sind zivilgesellschaftliche Gruppen auf den Krieg fokussiert, aber nachdem die Ukraine diesen gewinnt (vor allem wenn es eine Roadmap für den EU-Beitritt hat), werden die internen Herausforderungen wieder oberste Priorität auf ihrer Agenda haben. Wir sind überzeugt, dass viele Menschen in der Ukraine verstehen, dass die Ukraine nicht (noch einmal) eine historische Chance verpassen kann. Genauso denken wir, dass der EU-Beitrittsprozess ein starker Anreiz sein wird, die Reformen voranzutreiben.
Drittens: Obwohl Russland selbst laut Transparency International korrupter ist als die Ukraine, verbreitet es aktiv das Narrativ über die »schrecklich korrupte Ukraine« und vergleicht diese oft mit afrikanischen Staaten. Mindestens seit 2017 verbreitet Russland Fake-News über die Ukraine als angeblich korruptestes Land der Welt (genau dieses Fake verbreitete Donald Trump Jr.).
Die Ziele solcher Fakes sind offensichtlich. Sie dämpfen die Unterstützung für die Ukraine in der Welt, vor allem in den Industriestaaten. Auch verbreiten sie das Narrativ von der Ukraine als »failed state«, sowohl in der Ukraine als auch anderswo. Kein Wunder, dass russische Besatzungstruppen überrascht waren über die guten Lebensbedingungen, als sie Städte in der Nähe von Kyjiw einnahmen. Solche Fakes dienen auch der Rechtfertigung von Russlands aggressivem Krieg. Wie Koen Slootmaeckers von der University of London in dem Beitrag »How much of a problem is corruption in Ukraine?« anmerkt, vergleicht Russland die Ukraine mit afrikanischen Staaten um das Narrativ zu verbreiten, dass, wenn westliche Staaten Korruption missbrauchen, um afrikanische Staaten weiterhin zu unterwerfen, Russland ebenfalls das Recht hat, die Ukraine zu unterwerfen. Im Grunde entstammt dies dem »failed state«-Narrativ, der die Ukraine als von außen gesteuerten Staat darstellt (in den letzten Jahren wurden wahlweise die USA, die EU, der IWF oder Soros als »externe Regierung« der Ukraine bezeichnet). Ironischerweise lassen die hohen Verluste der russischen Armee in der Ukraine darauf schließen, dass die Korruption im russischen Staat allgegenwärtig ist und, wenn, dann Russland sich letztlich als »failed state« erweisen könnte.
Zusammengefasst hat die Ukraine noch Hausaufgaben für die Korruptionsbekämpfung zu erledigen. Aber es gibt positive Zeichen. Die Antikorruptionsinfrastruktur in der Ukraine wurde graduell verbessert. Die Gesellschaft fordert das Vorgehen gegen die Korruption ein. Der EU-Kandidatenstatus bietet einen starken Anreiz zur Bekämpfung partikularer Interessengruppen. Das gibt uns Zuversicht, dass die Ukraine Korruption als endemisches Problem überwinden wird.
Aus dem Englischen von Dr. Eduard Klein
Der Beitrag erschien auf Englisch am 21. Juni 2022 auf VoxUkraine, https://voxukraine.org/en/corruption-in-ukraine-how-important-is-the-problem/. Wir danken den Autor:innen für die Erlaubnis zum Nachdruck der deutschen Übersetzung.