Wiederaufbau und Neubau. Perspektiven für die Ukraine im und nach dem Krieg

Von Heiko Pleines (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)

Einleitung

Die ukrainische Armee kämpft tapfer und effektiv gegen die russische Übermacht. Die Ukraine kämpft ums Überleben. Die Ukraine ist dabei vielmehr als nur eine Armee. Sie ist eine Gesellschaft, von der ein Drittel auf der Flucht ist (das UN-Flüchtlingskommissariat geht von knapp 7 Mio. Binnenflüchtlingen und weiteren gut 7 Mio. Flüchtlingen im Ausland aus); eine Wirtschaft, deren Leistung dieses Jahr um mehr als ein Drittel einbrechen wird (nachdem vor Kriegsausbruch noch mit solidem Wachstum von 4 Prozent gerechnet worden war).

Auch die ukrainische Gesellschaft ist im Krieg tapfer, engagiert und überraschend effektiv. In großen Teilen des Landes geht das Leben weiter, Flüchtlinge werden betreut, Zerstörungen nach russischen Angriffen repariert, die ukrainischen Exporte nach Deutschland sind im ersten Halbjahr fast stabil geblieben, was mit der Struktur der Exporte nach Deutschland zu tun hat und nicht für alle Exporte gilt.

Der russische Angriffskrieg versucht die ukrainische Gesellschaft und ihre Existenzgrundlage zu vernichten. Bis Ende Juli gab es 17.300 Angriffe auf zivile Ziele (50x mehr als auf militärische Ziele). Zig-Tausende Wohngebäude wurden zerstört. Über 3 Millionen Menschen wurden obdachlos. Die UN-Menschenrechtsmission und Menschenrechtsorganisationen dokumentieren systematische russische Kriegsverbrechen von sadistischer Grausamkeit, auch gegen die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten.

Die zivile Infrastruktur – von medizinischen Einrichtungen über die Energieversorgung bis zu Schulen und Universitäten – wird von russischen Raketen gezielt zerstört. Allein die Schäden an ukrainischen Straßen summierten sich bereits nach den ersten fünf Wochen des russischen Angriffskrieges auf über 25 Mrd. Euro. Die ukrainische Stahlindustrie, weltweit bei Exporten vorher unter der Top-10, ist durch den Krieg bereits zu 40 Prozent zerstört. Wie eine Unternehmensbefragung des Kyjiwer Institute for Economic Research and Policy Consulting zeigt, gehört die Metallindustrie neben der Produktion von Baumaterialien zu den am stärksten betroffenen Industriebranchen.

Die ukrainischen Häfen – wichtig nicht nur für die Wirtschaft des Landes, sondern auch für die weltweite Nahrungsversorgung – wurden teilweise besetzt und werden ansonsten von der russischen Flotte blockiert. Die einzige Ausnahme bietet das unter UN-Vermittlungen zustande gekommene Abkommen zum Getreideexport. In den ersten sechs Wochen des Abkommens (bis zum 4.9.), haben 86 Schiffe ukrainische Häfen verlassen. Das macht zwei Schiffe pro Tag. Der Export soll bis Ende Oktober auf insgesamt 9 Mio. Tonnen steigen, aber allein im Hafen von Odessa waren zu Beginn des Abkommens 20 Mio. Tonnen Getreide gelagert und mittlerweile kommt die diesjährige Ernte hinzu. Das Abkommen gilt aber derzeit nur bis November und könnte danach automatisch verlängert werden. Allerdings drängt Russland auf Änderungen.

Russland hat diesem Abkommen nur zugestimmt, weil es gleichzeitig die Garantie erhielt, dass eigene Exporte von Lebensmitteln und Dünger nicht mit Sanktionen belegt oder behindert werden. De facto wird auch der Diebstahl von ukrainischem Getreide, das von Russland exportiert wird, toleriert. Wie Satellitenaufnahmen von Getreideexporten über die Krim und Berichte der ukrainischen Botschaft aus dem Libanon nahelegen, geht es dabei um regelmäßige Lieferungen erheblicher Mengen. Hinzu kommt, dass Russland durch das Abkommen versucht, die westlichen Sanktionen und nicht den eigenen Angriffskrieg für die globale Lebensmittelknappheit verantwortlich zu machen.

Überleben als funktionsfähige Gesellschaft

Damit die Ukraine überleben kann, braucht sie Unterstützung, vor allem humanitäre Hilfe und Geld für den Wiederaufbau wichtiger Infrastruktur: Krankenhäuser, Häfen, Straßen, Strom- und Wasserversorgung – das wird sofort gebraucht, nicht erst wenn der Krieg vorbei ist. Das Räumen von Minen ist ebenso eine dringende Aufgabe, und alleine hierfür veranschlagt eine Studie der Weltbank Kosten von 73 Mrd. US-Dollar. Im Krieg in der Ostukraine wurden allein von 2014 bis 2018 fast 2.000 Menschen durch Landminen und Blindgänger verletzt oder getötet. Damals war die Fronlinie 500 km lang. Die aktuelle Frontlinie ist fünfmal so lang. Durch die regelmäßigen Verschiebungen der Frontlinie sind derzeit noch einmal mehr Gebiete betroffen.

Die Ukraine muss als Gesellschaft mit funktionierender Wirtschaft und erforderlichen staatlichen und privaten Dienstleistungen von medizinischer Versorgung, über Post bis Schulbildung weiter bestehen. Nicht nur wegen der Kriegsschäden, auch finanziell ist die Ukraine damit überfordert. Der Krieg führt zu einem Einbruch der Steuereinnahmen und einer Explosion der Staatsausgaben, vor allem durch massiv gestiegene Verteidigungsausgaben, die im Haushaltsentwurf 2023 mehr als die Hälfte ausmachen. Das resultierende Defizit beträgt etwa 5 Mrd. Euro pro Monat. Die Folgen sind eine hohe Inflation (aktuell 22 Prozent ggü. dem Vorjahr), eine massive Abwertung der Währung und ein Verlust an Kreditwürdigkeit, was die Neuaufnahme von Krediten stark einschränkt. Die größte staatliche Energiefirma, Naftohas, stellte im Juli ihren Schuldendienst teilweise ein. Die Ukraine bemüht sich seit August verstärkt um einen erneuten Kredit des Internationalen Währungsfonds.

Für die Ukraine wird der kommende Winter eine viel größere Herausforderung als für die Mitgliedsländer der EU. Die Energieversorgung ist in weiten Teilen der Ostukraine zusammengebrochen. Wasser kann in den Leitungen einfrieren, so dass nicht einmal der Zugang zu Trinkwasser garantiert werden kann. In der Ostukraine liegt die Durchschnittstemperatur von Dezember bis Februar unter dem Gefrierpunkt. Die Weltbank schätzt in ihrer oben erwähnten Studie, dass die Ukraine etwa 100 Mrd. Euro benötigt, um durch den Winter zu kommen.

Gleichzeitig geht die Weltbank davon aus, dass der Anteil der ukrainischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze dieses Jahr von 2 Prozent auf mindestens 21 Prozent ansteigen wird. Sie warnt, dass der Anstieg ohne internationale Finanzhilfen noch viel dramatischer sein wird.

Längerfristig muss der Wiederaufbau der Ukraine Chancen nutzen, z. B. eine Energiewende ermöglichen, auf Zukunftstechnologien setzen (grüner Wasserstoff ist hier eine für die Ukraine viel diskutierte Option), eine nachhaltige Landwirtschaft wieder in den Weltmarkt integrieren. In Reaktion auf den russischen Angriff ist in der Ukraine ein Reformschub möglich. Für die Korruptionsprävention- und bekämpfung gibt es funktionierende Institutionen, die jetzt von kompetenten Personen geleitet werden. Ein Beispiel im Kleinen für Probleme und Hoffnung beschreibt Jaroslawa Tymoschtschuk mit der Kleinstadt Trostjanez in der Region Sumy, die nach dem Abzug der russischen Truppen einen Neuanfang versucht.

Der ukrainische Ministerpräsident, Denys Schmyhal, erklärte: »Wir wollen nicht einfach Straßen, Brücken und Wasserleitungen wiederherstellen. Wir planen den Aufbau einer völlig neuen Wirtschaft. Das bedeutet zuallererst die Umgestaltung der alten staatlichen Institutionen.« Er weist auch darauf hin, dass die Ukraine in Zukunft im Interesse ihrer nationalen Sicherheit deutlich über 4 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in Armee und Verteidigung wird investieren müssen.

Internationale Unterstützung

Wichtig für einen erfolgreichen Wiederaufbau sind auch internationale Unterstützung und private Investoren. Die finanzielle Dimension ist überschaubar. Die gesamte Wirtschaftsleistung der Ukraine im Jahr vor dem Krieg entsprach in Euro umgerechnet etwa der von Rheinland-Pfalz. Ein großer Teil der finanziellen Unterstützung für die Ukraine erfolgt nicht als Hilfszahlung, sondern in Form von Krediten, die zwar günstige Bedingungen haben, aber zurückgezahlt werden müssen.

Für die Kosten des Wiederaufbaus gibt es sehr unterschiedliche Schätzungen. Neben der Tatsache, dass konkrete Preise für Materialien und Dienstleistungen nicht genau vorherzusagen sind, gibt es zwei weitere Gründe. Die Unterscheidung der Weltbankstudie zwischen Zerstörung, resultierendem Schaden (etwa auch durch Produktionsausfälle) und Bedarf (also den Kosten eines Wiederaufbaus) zeigt, dass es verschiedene Perspektiven für die Berechnung gibt. Gleichzeitig ist der Krieg noch nicht vorbei und es entstehen täglich neue Schäden und Kosten. Die meisten Studien beschränken sich auf bereits entstandene Schäden, die Weltbank etwa auf solche bis zum Stichtag 1. Juni. Die tatsächlichen Kosten werden dann aufgrund der später entstandenen Schäden höher liegen.

In einer moralischen Betrachtung erscheint es naheliegend, dass Russland als Aggressor über Reparationen den materiellen Schaden bezahlen soll. Da eine Zustimmung Russlands nicht absehbar ist, wäre die einzige Möglichkeit von Sanktionen betroffenes Vermögen zu beschlagnahmen. Die Höhe dieses Vermögens betrug schon Anfang Juni etwa 400 Mrd. Euro. Zu diesem Zeitpunkt sprach der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj von einem Gesamtbedarf von 600 Mrd. Euro für den Wiederaufbau. Rechtlich betrachtet sind sanktionierte Vermögen aber eingefroren, d. h. der Zugriff wird verweigert, aber die Eigentumsrechte bleiben erhalten. Eine Verwendung für Reparationen käme einer Enteignung gleich und ist rechtlich schwierig. Es gibt Präzedenzfälle, wie die Enteignung des Vermögens der afghanischen Zentralbank durch die USA nach dem Sieg der Taliban im Sommer 2021. In Deutschland z. B. könnte eine solche Enteignung aber verfassungswidrig sein, da das Grundgesetz einen besonderen Schutz von Eigentum vorsieht und eine direkte Schuld der von Sanktionen betroffenen Personen und Unternehmen wohl in der Regel nicht belegt werden kann.

Wenn es um westliche Finanzhilfen geht, ist die Rede von einem »neuen Marshallplan« natürlich keine Gebrauchsanweisung, sondern eher eine Metapher, die in zweierlei Hinsicht relevant ist. Der Marshallplan, dessen Hilfe insgesamt nach heutigen Preisen nur einen Wert von ca. 130 Milliarden hatte, konnte nur einen begrenzten Beitrag zur Finanzierung des tatsächlichen Wiederaufbaus leisten. Aber damals wie jetzt geht es um ein Zeichen der Solidarität. Außerdem geht es um ein Signal an private Investoren, dass die internationale Gemeinschaft sich bemühen wird, stabile Rahmenbedingen zu schaffen. Erleichterungen beim Außenhandel, Angleichung an internationales Recht und Unterstützung für Rechtsstaat und Korruptionsbekämpfung sind wahrscheinlich für ein ukrainisches »Wirtschaftswunder« wichtiger als das konkrete Finanzvolumen eines Marshallplans für die Ukraine.

Für Reformen der wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen werden die Beitrittsverhandlungen mit der EU von großer Bedeutung sein. Diese werden auf jeden Fall sehr langwierig. Den Geschwindigkeitsrekord hält bisher Finnland mit drei Jahren. Es ist wohl jedem klar, dass es bei der Ukraine deutlich länger dauern wird. Wichtig ist, dass zeigen die Verhandlungen mit den EU-Beitrittskandidaten auf dem Balkan, dass die Richtung stimmt, d. h. dass genug Fortschritte erkennbar sind, um die Dynamik der Reformen und die Zustimmung in Politik und Gesellschaft zu sichern. Ansonsten drohen – wie im Fall der Türkei – Rückschritte und Resignation.

Ausblick

Frieden für die Ukraine ist nicht einfach ein »Waffenstillstand« wie er seit 2015 im Donbas existierte, sondern die Möglichkeit für Gesellschaft, Wirtschaft und Staat sich friedlich zu entwickeln und vor zukünftigen Angriffen geschützt zu sein. Russland hat seit 2014 jedes Mal gelogen, wenn es um den Einsatz der eigenen Armee in der Ukraine ging und zeigt jetzt in seinen Stellungnahmen und Handlungen vollständige Verachtung für die Regeln internationalen Rechts.

Es muss verhindert werden, dass das Verschieben von Staatsgrenzen durch einen Angriffskrieg und die absichtliche, systematische Zerstörung ziviler Ziele wieder dauerhaft Teil von Außenpolitik werden. Für die Welt geht es um Mindeststandards für ein friedliches Miteinander, für die Ukraine ums Überleben. Dazu braucht es nicht nur eine militärische Niederlage Russlands, sondern auch eine wirtschaftlich und gesellschaftlich stabile, demokratische Ukraine. Dies ist das beste Signal für eine friedliche Zukunft Europas.

Lesetipps / Bibliographie

Zum Weiterlesen

Analyse

Ein »grüner« Marshall-Plan für die Ukraine?

Von Alla Dubrovyk-Rohova
Das zentrale Ergebnis des Marshallplans war die Anpassung der Volkswirtschaften des Nachkriegseuropas an die Weltmärkte. Das Ziel des Nachkriegsplans für die Ukraine sollte der Wiederaufbau des Landes sein sowie die Integration der ukrainischen Wirtschaft in den europäischen Markt, als erforderliche Voraussetzung für die angestrebte EU-Mitgliedschaft. Dabei sollte das Thema »Nachhaltigkeit« besonders berücksichtigt werden, ebenso wie der »European Green Deal«, der vorsieht, den europäischen Kontinent bis 2050 klimaneutral zu machen. Welchen Stellenwert hatte die nachhaltige Entwicklung in der Ukraine vor der Zäsur des russischen Angriffskrieges, und inwieweit berücksichtigen die verschiedenen Wiederaufbaupläne das Thema Nachhaltigkeit?
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Dokumentation

German Marshall Fund: Designing Ukraine’s Recovery in the Spirit of the Marshall Plan: Principles, Architecture, Financing, Accountability: Recommendations for Donor Countries

Executive Summary The Marshall Plan is a source of inspiration and a fountain of hope for Ukraine’s recovery; evoking it is a marker of ambition. Yet, it cannot be a template for the international aspiration to help rebuild the country. A plan for Ukraine needs to take a 21st century shape. In the late 1940s, there was one hegemon and a set of newly built institutions to aid more than a dozen ailing current and future allies. Today, many countries are needed to help one. (…)
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